Liminski: Herr Stiegler, der Ruf innerhalb der Partei nach einem Kurswechsel wird lauter. Wie kann Müntefering, wie wird die Parteispitze dem begegnen?
Stiegler: Wir werden ja heute eine Reihe von Sitzungen haben, Parteivorstand und Parteirat, und da wird das wichtigste sein, die Ausgangslage überhaupt noch einmal in Erinnerung zu rufen. Man kann ja über eine Änderung der Therapie streiten, wenn plötzlich die Diagnose eine andere ist, aber so weit ich die Welt sehe, ist nach wie vor die Lage von Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland prekär. Wir haben nach wie vor nicht die erforderlichen Investitionen. Wir haben zurückgehende Arbeitsplätze und wir haben nach wie vor die Probleme, die der demographische Wandel, das heißt die fortschreitende Alterung der Gesellschaft, mit sich bringt. Solange sich diese Diagnose nicht geändert hat, wird es sehr, sehr schwe4r sein, eine andere Politik vorzuschlagen.
Liminski: Aber die Diagnose der SPD selbst hat sich doch ein bisschen geändert. Der Mitgliederschwund um mehr als ein Drittel seit 1990 und ein Wählerschwund in noch größerem Ausmaß, das kann man wahrscheinlich nicht so einfach aussitzen. Ihr Kollege Tiefensee in Leipzig sagt, auch die SPD sei im Osten keine Volkspartei mehr. Muss nicht doch gehandelt werden?
Stiegler: Ich glaube diese Aussage ist sehr zu relativieren. Die SPD war von der Mitgliederzahl im Osten her noch nie eine Volkspartei. Ganze Landesverbände hatten so viel Mitglieder wie ich allein in meinem Wahlkreis oder Unterbezirk habe. Also diese Aussagen sind nicht sonderlich hilfreich. Wir wissen alle, dass die SPD seit der Bundestagswahl erhebliche Probleme hat, auf die Veränderung in Wirtschaft und Gesellschaft zu reagieren, dass wir an manchen Stellen fast wie eine Kirche ohne Glauben sind, weil die Mitglieder und die Anhänger eben schockiert sind über Änderungen in der Politik, die alle, die auch ein Müntefering und ein Ludwig Stiegler oder wer auch immer so nicht vorhergesehen haben, aber wir haben uns eben der Welt stellen müssen. Ich habe mit Interesse gelesen, dass Oskar Lafontaine eine Rede zu Wunsch und Wolke gehalten hat, aber ich habe Oskar Lafontaine im Amt erlebt und habe erlebt, dass sein Handeln völlig anders war als seine feurigen Reden, weil er sich im Amt auch nicht den Realitäten entziehen konnte. Für die SPD wird zum Beispiel die Programmdebatte wirklich auch die Nagelprobe dafür sein, wie wir gemeinsam die Wirklichkeit neu analysieren. Es kann ja sein, dass die eine oder andere Sicht der Wirklichkeit vielleicht so nicht zutrifft, aber ich habe bisher eben keine Argumente gehört, die etwa verleugnen würden, dass die Lage etwa der kleineren und mittleren Unternehmen und damit die Lage der Investitionen und der Arbeitsplätze etwa leichter geworden wäre. Viele Gewerkschafter, die heftigst polemisieren, machen im Alltag als Betriebsräte und bei Sozialplänen genau das Gegenteil davon, was sie von der Politik fordern.
Liminski: Herr Stiegler, Sie sagen Kirche ohne Glauben. In diesem Zusammenhang ist wohl der Ruf in der Partei nach mehr sozialer Gerechtigkeit zu verstehen. Nun steht die Regierung vor der Alternative: entweder wird die Agenda 2010 modifiziert, oder es wird den Reichen in die Tasche gegriffen, um den Eindruck von sozialer Umverteilung zu erwecken, also höhere Erbschaftssteuer, höhere Mindeststeuer für Unternehmen, vielleicht die Vermögenssteuer, doppelte Kassenbeiträge für höhere Einkommen bei der Bürgerversicherung. Ist das die neue soziale Gerechtigkeit?
Stiegler: Soziale Gerechtigkeit ist natürlich der Schlüssel für uns. Dafür sind wir angetreten. Das ist, wenn Sie so wollen, unser moralischer Kitt. Soziale Gerechtigkeit in einer entfesselten Markt- und Kapitalmarktgesellschaft herzustellen, ist eine Herausforderung, wie wir sie aus dem sozusagen geschlossenen Handelsstaat alter Prägung so nicht kannten. Hier werden wir neue Lösungen suchen müssen. Ob jetzt die diskutierten Reizworte Vermögenssteuer, Erbschaftssteuer die Lösung des Problems sind oder nur wichtige Symbole, das lasse ich jetzt mal dahingestellt. Aber dass die SPD in der Auseinandersetzung mit der Union das Thema soziale Gerechtigkeit wirklich voll entfalten muss und auch darstellen muss was sie täte, wenn sie denn allein handeln könnte, das halte ich für eine ganz wichtige Grundlage der Glaubwürdigkeit. Es ist ja eben so, dass vieles, was von den Menschen als ungerecht empfunden wird, einfach der Tatsache geschultert ist, dass dieselben Menschen eine schwarze Mehrheit im Bundesrat gewählt haben.
Ich sage in meinen Versammlungen immer: Leute, ich bin nicht bereit, mich für manche Ungerechtigkeiten zu entschuldigen, solange das deutsche Volk in seiner Güte eine schwarze Mehrheit in den Bundesrat wählt und ich dann, wenn ich soziale Gerechtigkeit will, vor armierten Betonmauern stehe, wo jeder Mauerdurchbruch, wie wir im Vermittlungsausschuss ja diese Woche erleben werden, letzte Woche erlebt haben, immer wieder neue Schwierigkeiten mit sich bringt.
Liminski: Aber das, was Sie als soziale Gerechtigkeit bezeichnen, vielleicht auch dieses Stichwort, ist das bei näherem Hinsehen eventuell doch nur eine Form der Polarisierung, um von der internen Krise abzulenken?
Stiegler: Es ist in der Tat nach meinem Eindruck auch bei vielen die Formel, mit der man sich weigert, die veränderte Wirklichkeit zur Kenntnis zu nehmen. Ich muss oft an so ein altes Werk von Walter Rathenau denken, das da hieß "die Wirtschaft ist unser Schicksal". Helmut Schmidt hat das mal fortgeschrieben: "die Weltwirtschaft ist unser Schicksal". Das zu sehen, die Veränderungen zu sehen, die Voraussetzungen zu schaffen, dass es Arbeitsplätze, Investitionen, Verteilungsmasse oder wie Müntefering immer sagt Wohlstand auf hohem Niveau gibt, das muss unsere Aufgabe sein. Mich nervt zunehmend in unseren Debatten, dass im Grunde über die ökonomischen Grundlagen und über die demographischen Grundlagen der veränderten Politik überhaupt nicht geredet wird, sondern erst im Grunde die Ergebnisse mit dem verglichen werden was der Erwartungswert früherer Jahre war, als die ökonomischen Verhältnisse noch in Ordnung schienen sage ich jetzt mal, denn ich habe auch zu denen gehört, die im Jahre 2002 mit vollen Hoffnungen gestartet sind und am Ende des Jahres zur Kenntnis nehmen mussten, dass wir jetzt statt Wachstum drei Jahre Rezession oder Stagnation hatten, und die zur Kenntnis nehmen mussten, wie viele Verluste die Firmen gemacht haben, wie die kommunale Finanzkraft verfallen ist, und die eben sehen mussten, wie die sozialen Systeme im Grunde alle Beitragsgrenzen gesprengt hätten, wenn wir nicht gehandelt hätten. Ich sage oft in den Versammlungen: Leute, ich möchte mal sehen, was ihr mir erzählen würdet, wenn jetzt die Bruttolöhne nur noch 48 Prozent Nettolöhne produzieren würden, weil wir die sozialen Systeme haben laufen lassen oder ähnliches.
Hier müssen wir ran und müssen die Lage schonungslos erläutern, dann unsere Maßnahmen machen und dann kommt der dritte Teil, der ja völlig verloren gegangen ist. Das ist die offensive Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner, denn die Union und die FDP und wir, wir finden ja die ökonomische Analyse in gleicher Weise vor. Jede Seite hat ihre Antworten und es ist erstaunlich, dass die Union, die die Menschen etwa zehnmal so viel belasten würde wie wir, wenn ich deren Maßnahmen mir zusammenrechne, dort ungeschoren davon kommt, während wir dafür verprügelt werden, teilweise verprügelt werden für Maßnahmen, die die Union durch die prekäre Bundesratsmehrheit erzwungen hat. Da sage ich mir, da liegt der Fehler bei uns. Wir müssen wieder lernen zu kämpfen und müssen die Auseinandersetzung mit der anderen Seite suchen, damit die Menschen überhaupt die Alternativen erkennen.
Liminski: Die Prügel in der Öffentlichkeit ist sicher das Schmerzensgeld der Regierenden. Aber können Sie den Kritikern der Agenda 2010 sagen, welche Grundphilosophie oder Leitidee dieser Agenda zu Grunde liegt? Bisher überwiegt ja der Eindruck, die Regierung mache es den großen Unternehmen recht und die langen auch kräftig zu, siehe Vodafone. Was ist denn die Leitidee?
Stiegler: Die Leitidee der Agenda 2010 ist, dass wir am Ende dieses Prozesses in unserer Bildungs- und unserer Gesellschaftspolitik im Grunde wieder an der Spitze Europas und damit auch an der Spitze der Welt sind. Das heißt wir antworten auf die Frage, dass einfache Produkte in den nächsten Jahren und Jahrzehnten immer mehr in Richtung Asien oder irgendwann mal auch in Richtung Afrika abwandern werden, während bessere, qualifiziertere dort Vorrang sein müssen. Wir müssen unser Bildungsniveau gewaltig heben, damit wir uns im Grunde als Weltausrüstungsbutik dort behaupten können. Wir müssen eben zur Kenntnis nehmen, dass sich die Schwerpunkte der Weltwirtschaft in Richtung Asien verschieben. Das birgt aber für uns auch entsprechende Chancen.
Für mich ist die Agenda 2010 die Vorbereitung und das Training für eine solidarische Leistungsgesellschaft, die auch die Schwächeren mitkommen lässt. Das Gegenbild ist für mich diese marktradikale, kalte, liberale Gesellschaft, die große Teile der Union und die sogenannten Liberalen auch vertreten. Das heißt hier ist der Unterschied und ich sage in den Versammlungen den Leuten oft: hört mal, wir streiten hier wie ein Hühnerhaufen um ein paar Würmer auf der Tenne und übersehen ganz, dass diese Gesellschaft im Grunde von Wölfen, Füchsen oder von Geiern umkreist oder überflogen ist. Das muss man einfach deutlich machen. Die SPD muss wieder kämpfen lernen. Sie muss wirklich wieder raus, die Unterschiede aufzeigen und nicht in einer Autoaggression sich selber dafür anklagen, dass die Welt sich verändert hat. Wir regieren nun mal; wir müssen auf die Veränderungen reagieren und handeln.
Liminski: Herr Stiegler, noch eine ganz realistische Frage in Ihrer Fauna und Flora der Republik. Der Etatentwurf 2005 liegt vor. Nach den bisherigen Informationen schrammt er so an der Verfassungskonformität entlang. Es gibt fragliche Posten, etwa die Streichung der Eigenheimzulage, und schon regt sich auch Widerstand. Glauben Sie denn, dass dieser Entwurf die gesetzlichen Instanzen passiert?
Stiegler: Es gibt immer die strucksche Formel, dass jeder Haushalt oder auch jedes Gesetz das Parlament nicht so verlässt, wie es hinein geht. Entscheidend ist jetzt erst einmal, dass wir die Etataufstellung nach schwierigen Verteilungskämpfen innerhalb der Ressorts hinbekommen. Dann wird man die Steuerschätzung im November haben und es gibt ja auch stille Hoffnungen, dass sich in der Ökonomie wenigstens ein bisschen was nach oben verändert. Auf diese Hoffnungen setze ich. Deshalb glaube ich, dass wir im Dezember unseren Etat verabschieden werden, wenn auch mit Ächzen und mit Schwierigkeiten, aber die Welt ist halt heute so und ich kann mir keine andere malen.
Liminski: Das war Ludwig Stiegler, stellvertretender Vorsitzender der SPD-Fraktion. Besten Dank nach Berlin Herr Stiegler!