Archiv


Stiller Abschied von den Kugelzellen

Im Fall Claudia Pechstein wird dieser Tage der letzte Entscheid des Schweizer Bundesgerichtes erwartet. Das soll - geht es nach der Ex-Eisschnelllauf - Olympiasiegerin - dem Weltsportgerichtshof CAS eine Neuverhandlung ihrer Dopingsperre verordnen. Doch es gibt offenbar Neuigkeiten - und die lassen Pechsteins Aussichten fraglich erscheinen.

Von Grit Hartmann |
    Im März, bei der denkwürdigen Pressekonferenz zur Causa Pechstein, war Professor Gerhard Ehninger, Präsident der Hämatologen-Gesellschaft DGHO, sicher: Die Beweiskette stehe "zu 99,99 Prozent". Eine Runde von Pechstein-Gutachtern hatte angeblich erstens bewiesen: Die Kufenläuferin hat eine milde Kugelzellanomalie, eine hereditäre Sphärozytose. Zweitens: Sie hat nicht gedopt. Gutachter Wolfgang Jelkmann:

    "Weil die typischen Parameter nicht nur bei ihr fehlen, sondern genau entgegengesetzt sind."

    Das Dopingurteil, befand Ehninger, sei "Käse":

    "Drücken Sie bitte auf Ihren geistigen Resetknopf und versuchen Sie Reflexe zu vermeiden: ´Und sie hat doch ...!’ Wir haben das nach unserem besten medizinischen Wissen und Gewissen dargestellt mit einer Beweiskraft, die sicher gerichtsrelevant sein kann und wird."

    Die Relevanz der beim Schweizer Bundesgericht eingereichten Expertisen – sie stammen vom Siegener Krankenhausarzt Winfried Gassmann und vom Berliner Charité-Mediziner Andreas Weimann – steht allerdings in Frage. Nach Deutschlandfunk-Recherchen ist die Kugelzellanomalie nämlich beerdigt worden. Xerozytose lautet die neue Diagnose. Auch bei der handelt es sich um einen Membrandefekt der roten Blutzellen, sie zerfallen schneller, junge rote Blutkörperchen, Retikulozyten, kommen nach. Ergebnis: verdächtige Werte wie bei Pechstein. Zarte Hinweise auf den leisen Abschied von den Kugelzellen gibt Gassmann: Die Xerozytose werde, schreibt er in neueren Abhandlungen, "als Alternative" diskutiert. Auf Anfrage bestätigt Pechstein-Manager Ralf Grengel die Volte – und versucht sie zu minimieren. Das sei gar nicht neu, sondern schon vom Eislaufweltverband erwähnt worden. Tatsächlich teilte die ISU im Mai mit, ihr Gutachter Alberto Zanella halte eine Xerozytose für möglich. Aber die könne, meinte die ISU, Pechsteins Werte auch nicht erklären.

    Beruft sich Pechstein nun auf die Gegenpartei? Der Vorgang hat peinlichen Seltenheitswert, scheint aber geboten. Denn die Kugelzell-These wackelt schon lange. Im Blog des Rennrad-Magazins "Tour" versucht Gassmann seit Monaten, gegen zwei Nierenfachärzte anzukommen, die unter Pseudonym die Pechstein-Expertisen demontieren. Dr. Stefan Franz alias "Ritzelman" ist einer von ihnen:

    "Sehen Sie, ich schau mir als Wissenschaftler so ein Gutachten an und schau mir die Plausibilität an, und wenn Sie schon, nur als Beispiel, sehen, dass in einer Tabelle Werte als sehr hoch oder als sehr niedrig bezeichnet werden, die in Wirklichkeit normal sind, dann haben Sie das Gefühl, dass da was nicht richtig läuft, und dann schauen Sie sich das genauer an. Da war dann halt sehr schnell klar, dass die drei Werte, auf denen das Ganze im Endeffekt fußt, nicht wirklich aussagekräftig sind beziehungsweise erhebliche Zweifel daran bestehen."

    Bei einem Schweizer Pharmakonzern verantwortet Franz derzeit klinische Studien und Beobachtungsprogramme mit Erythropoietinen. Der Arzt ist also ausgewiesener Epo-Experte, auch Mitglied im Editorial Advisory Board von "Drug Testing and Analysis". Er weiß, dass es klinischer Alltag ist, Epo so zu dosieren, dass der Hämoglobinwert ein bestimmtes Niveau nicht überschreitet:

    "Das nennt man eine Maintenance-Phase. Und da sehen Sie immer wieder so kleine Zacken von Retikulozyten, die aber nachher nicht mit einem veränderten Hämoglobin einhergehen, sondern wirklich diesen gewünschten Hämoglobin schön stabil halten."

    Die neue Diagnose-Methode, die Pechstein eine Anomalie attestierte, bezeichnet Franz als untauglich. Die beiden Indizes dienten der Unterscheidung von Pathologien, lieferten aber mit Werten von Gesunden irreführende Befunde. Unhaltbar nennt er die dritte These, die zum MCHC-Wert, zum durchschnittlichen Hämoglobingehalt in den roten Blutzellen. Der ist bei Pechstein erhöht und gilt als Hauptargument für die Blutanomalie. Gerhard Ehninger:

    "Das sind nicht Indizien, das MCHC ist knallhart."

    Andreas Weimann:

    "MCHC ist für uns in der Laboratoriumsmedizin eigentlich der stabilste biologische Marker, den wir haben, den können Sie nicht manipulieren."

    Winfried Gassmann:

    "Der MCHC-Wert ist ein sehr konstanter Laborwert. Und es gibt nur zwei Differentialdiagnosen dafür. Oder drei. Die erste Differentialdiagnose: Das Labor hat einen Fehler gemacht. Ist aber undenkbar, wenn man das sieht, dass das so häufig der Fall ist. Möglichkeit Numero zwei ist ne Kälteaglutinien-Krankheit. Die hat sie nicht. Möglichkeit Nummer drei ist dann noch die hereditäre Sphärozytose."

    Stefan Franz widerspricht:

    "Herr Gassmann hat so argumentiert, dass damit die hereditäre Sphärozytose bewiesen ist. Wobei mir aus meiner klinischen Tätigkeit bekannt ist, dass man das bei Patienten, die ne hoch dosierte Eisentherapie plus Epo-Therapie bekommen, dass Sie diese erhöhten Werte auch feststellen können."

    Der Arzt kann mit 5300 Blutmessungen von 750 Nierenpatienten belegen, dass der MCHC-Wert durch Epo und Eisen manipulierbar ist. Jeder Zehnte kam damit auf erhöhte Werte. Gassmann, dem Beispieldaten übermittelt wurden, versucht, diesen Fakt wegzuerklären. Epo-Eisen-Cocktails sind auch im Sport bekannt, etwa aus Freiburg:

    "Dort hat man nachweisen können, dass sehr, sehr massive Dosen von Eisenpräparaten an diese Radsportler verschrieben worden sind. Es würde auch keinen Sinn machen, eine Epo-Therapie zu machen, ohne gleichzeitig Eisen zu geben, was ja erlaubt ist, die Eisengabe, weil sie sonst viel höhere Dosen bräuchten, um den gewünschten Effekt zu erzielen, und damit das Risiko erhöhen würden, positiv auf Epo getestet zu werden."

    Fazit des Epo-Forschers:

    "Ich kann sicherlich nicht behaupten, dass Frau Pechstein Epo genommen hat. Man muss aber sagen, dass die Argumente, die in diesem gesamten Komplex dieser Gutachten gebracht wurden als Gegenbeweis, oder als Beweis, dass sie’s nicht genommen hat, für mich einfach nicht stichhaltig sind."

    Abzuwarten bleibt, wie die Xerozytose begründet wird. Bis dahin stellt sich zumindest diese Frage: Warum haben sich die DGHO-Professoren nicht längst öffentlich korrigiert? Dafür könnte es einen gewichtigen Grund geben: Die neue Diagnose nimmt Pechsteins Antrag beim Schweizer Bundesgericht die Wirkung, denn der basiert auf der Kugelzell-These. Pikant auch: Dass gleich drei deutsche Kufenläuferinnen mit verdächtigen Retikulozyten auffielen, scheint nun noch rätselhafter. Die Xerozytose ist selten. Viel seltener als die Kugelzellanomalie.