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Stocker: Abriss des Bahnhofs-Südflügels ist reine Machtdemonstration

Initiator der "Stuttgart 21"-Proteste, Gangolf Stocker, sieht keine Notwendigkeit für den Abriss des Südflügels am Stuttgarter Hauptbahnhof. Er ist sich aber sicher, dass dieser Abriss "im Gedächtnis der Stuttgarter bleiben" wird.

Gangolf Stocker im Gespräch mit Martin Zagatta | 13.01.2012
    Martin Zagatta: Noch einmal ein Großeinsatz am Stuttgarter Hauptbahnhof: Bei dem ja auch durch einen Volksentscheid schon abgesegneten Großprojekt wird jetzt der Südflügel des Gebäudes abgerissen. Hunderte Gegner haben heute Morgen versucht, das mit einer Sitzblockade zumindest zu verzögern.

    Vor Ort in Stuttgart sind wir jetzt mit Gangolf Stocker verbunden, der Stadtrat, der die Bürgerinitiative "Leben in Stuttgart" gegründet hat und den Widerstand gegen das Neubauprojekt schon seit den 90er-Jahren organisiert. Guten Tag, Herr Stocker.

    Gangolf Stocker: Guten Tag, Herr Zagatta.

    Zagatta: Herr Stocker, wir erreichen Sie am Bahnhof, direkt dort. Ist es jetzt dort wieder völlig ruhig?

    Stocker: Völlig ruhig ist es nicht. Es sind noch zirka 50 bis 100 Menschen da. Die kommen natürlich jetzt einfach auch mal und wollen schauen, stehen dann vorm Zaun, teilweise unterhalten sie sich mit der Polizei, teilweise nicht. Interessant ist: im Bahnhof selbst, auf Gleis 16 - das ist jetzt gesperrt -, da haben sie drei Regionalexpresszüge älteren Datums, ehemalige Silberlinge, einfach abgestellt, damit also auch vom Bahnhof her niemand in den Südflügel eindringen kann und ihn besetzen kann.

    Zagatta: Unser Korrespondent hat eben gesagt, dieser Protest heute, der hätte fast schon etwas von Happening-Charakter. Ist das jetzt das Ende dieser Proteste? Ist das jetzt noch so ein Ausläufer, aber ist das jetzt durch?

    Stocker: Nein, ich glaube nicht. Wenn der Südflügel abgebrochen wird - und der wird abgebrochen -, dagegen kann man nichts tun. Wir können ja jetzt nicht mehr wie am 30. 9. im Weg herumstehen, sondern wir stehen außerhalb der Absperrung. Aber das wird im Gedächtnis der Stuttgarter und Stuttgarterinnen bleiben, dass man einen Südflügel abreißt, obwohl es keine Notwendigkeit gibt. Man müsste den Südflügel nicht abreißen, es ist eine reine Machtdemonstration, was jetzt läuft.

    Zagatta: Aber immerhin hat es ja diesen Volksentscheid gegeben über Stuttgart 21, und da hat sich eine klare Mehrheit für den Neubau entschieden. Ist es nicht Zeit, das dann auch anzuerkennen?

    Stocker: Dieser Volksentscheid war der Entscheid über die Mitfinanzierung, die Ko-Finanzierung der Landesregierung. Aber es war natürlich dann nachher hinterher auch so interpretiert worden, und dagegen kann man auch wenig sagen, dass es ein Entscheid war für Stuttgart 21. Allerdings ich sage Ihnen eines: Ich bin ziemlich sauer auf Ministerpräsident Kretschmann. Das habe ich ihm auch gesagt.

    Zagatta: Warum?

    Stocker: Einfach deswegen, weil man kann nicht einen Volksentscheid ansetzen und sich dann nicht darum kümmern, wie der abläuft und sich aus allem heraushalten, weil die Kräfteverhältnisse waren höchst ungleich. Wenn der Regionalverband mal kurz eine Million ausgibt und damit Anzeigen schaltet, und zwar in den kleinen Gemeindeblättchen der Dörfer der Region Stuttgart, dann hat das seine Wirkung. Wenn der Oberbürgermeister der Stadt Stuttgart mal kurz in die Stadtkasse greift und 130.000 Euro ausgibt für einen albernen Brief an die Stuttgarter, dann hat das trotzdem seine Wirkung. Also die Kräfteverhältnisse waren höchst ungleich und ich sage Ihnen, unter diesen Umständen dann immerhin ein Ergebnis von 42 Prozent zu erzielen für den Ausstieg, das ist schon eine Leistung.

    Zagatta: Aber doch ein deutliches Ergebnis. Man hatte damals ja gedacht, das würde viel knapper werden. Wie bewerten Sie denn im Nachhinein, was ...

    Stocker: Ich bin total enttäuscht über das Stuttgarter Ergebnis. Das muss man ohne Wenn und Aber sagen.

    Zagatta: War es denn eine gute Entscheidung, Heiner Geißler als Schlichter da einzusetzen, den da so ins Spiel zu bringen?

    Stocker: Ja, im Prinzip. Da will ich jetzt im Nachhinein nicht dran herumkritisieren. Die Schlichtung selber war ja eigentlich ein großer Erfolg von uns, dass so etwas stattgefunden hat. Und wenn so etwas künftig zum Beispiel, bevor man so ein Projekt beginnt, stattfindet, dann wäre das wirklich ein neuer Stil und auch ein demokratischer Stil. Aber wir haben jetzt auch versucht, mit Heiner Geißler Kontakt aufzunehmen, damit so etwas jetzt passiert für den Abschnitt 1.2, also für den Abschnitt oben auf den Fildern - und da ist alles völlig offen; damit schlägt sogar jetzt die SPD eine neue Trasse vor -, dass man so einen Fakten-Check da oben macht. Die Politik hat wohlwollend reagiert, aber Geißler hat überhaupt nicht reagiert.

    Zagatta: Herr Stocker, alles in allem - Sie haben da ja fast jetzt zwei Jahrzehnte protestiert, das alles mitorganisiert -, hat sich dieser jahrelange Protest gelohnt, oder sind Sie heute eher enttäuscht?

    Stocker: Nein, nein, er hat sich auf jeden Fall gelohnt, weil die Stadt hat sich verändert, das Bewusstsein der Menschen hat sich verändert. Wir haben zwei neue Zeitungen hier in Stuttgart, die 21er-Zeitung, die Kontext-Wochenzeitung. Also es ist so viel passiert, und ich denke, das wird nicht aus dem Gedächtnis der Leute verschwinden und sie werden im Gedächtnis behalten, dass man jetzt, obwohl es wenig Sinn macht, hingeht und diesen Südflügel abreißt. Das wird schon Wirkung hinterlassen. Das wird ein Pyrrhussieg sein, denke ich mal, für die Stuttgart 21-Befürworter.

    Zagatta: Gangolf Stocker, der den Widerstand gegen das Neubauprojekt Stuttgart 21 schon seit den 90er-Jahren organisiert und den wir jetzt über sein Handy direkt am Bahnhof erreicht haben. Herr Stocker, danke für das Gespräch.

    Stocker: Bitte schön!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.