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Strafe statt Therapie
Wenn kranke Menschen im Gefängnis landen

Die Gefängnisse in Deutschland müssen sich auf mehr psychisch auffällige Gefangene einstellen. Zu häufig werden Kranke jedoch einfach weggesperrt, weil hinter Gittern Personal und Betten fehlen. In den Justizvollzugskrankenhäusern werden oft nur die schwersten Fälle behandelt.

Von Timo Stukenberg | 10.03.2020
Mann in der Zelle einer Justizvollzugsanstalt (JVA)
Jedes Bundesland betreibt ein eigenes Gesundheitssystem innerhalb der Gefängnisse (dpa/Bernd Thissen)
"Nochmal zum Krankenhaus: Das ist 1913 bis 1914 als Heilerziehungsheim gebaut worden, also die beiden Häuser. Die sind natürlich von der Raumstruktur her heute überholt. Das ist also noch Schlafsaalstruktur. Deswegen bauen wir neu. Wenn Sie mal zur Seite kommen, sehen Sie dahinter schon den Neubau, den Rohbau, der ungefähr in einem Dreivierteljahr bezugsbereit ist."
Rolf Jacob leitet die "Justizvollzugsanstalt Leipzig mit Krankenhaus", so der offizielle Name des Gefängnisses am Stadtrand von Leipzig. Das frühere Heilerziehungsheim ist heute besagtes Krankenhaus. Ein imposanter Bau mit Rundbögen an der Rückseite des weitläufigen Gefängnisgeländes.
Jacob: "Wir gehen mal ganz hoch zur Psychiatrie, ja."
Neben den 28 Betten für körperlich erkrankte Gefangene gibt es offiziell 48 Betten für Inhaftierte mit psychischen Störungen. Das muss aktuell ausreichen, nicht nur für Gefangene in Sachsen, sondern auch für die Bundesländer Thüringen und Sachsen-Anhalt. Dort gibt es nämlich keine Justizvollzugskrankenhäuser.
Gefängnismauer und Stacheldraht
Erhöhtes Suizidrisiko bei Inhaftierten
Das Risiko eines Suizids ist bei Häftlingen deutlich höher als bei Menschen außerhalb des Strafvollzugs. 80 Selbsttötungen gibt es im Schnitt jedes Jahr in Gefängnissen. Die wichtigste Prävention ist die persönliche Ansprache durch Psychologen – dagegen steht jedoch der massive Personalmangel.
In der JVA versucht man die Normalität eines Krankenhauses herzustellen, trotz der vergitterten Fenster und der schweren Gittertüren, des abbröckelnden Putzes und der Hafträume, in denen teilweise bis zu vier schwer psychotisch erkrankte Inhaftierte untergebracht sind.
"Das ist ein Ergotherapieraum. Ehemals, sehen Sie, so groß sind die Hafträume alle. Aber er wird genutzt als Ergotherapieraum, dass die Psychiatriepatienten hier beim kreativen Malen, beim Basteln, auch Sachen, die sie herstellen für ihre Angehörigen manchmal wenn sie zum Besuch kommen, dann können sie kleine Geschenke übergeben. Hier haben wir mal die Frau Moldenhauer, eine Fachschwester von uns."
Katrin Moldenhauer ist Fachpflegerin für Psychiatrie. Seit 27 Jahren arbeitet sie bereits hier im Justizvollzugskrankenhaus. In ihrem Arbeitsalltag ist sie mit vielen schwerwiegenden Krankheitsbildern konfrontiert.
"Psychosen, Schizophrenien, Suchterkrankungen, Persönlichkeitsstörungen, alles so querbeet. Alles, was so in der Haft anfällt."
Die Strafgefangenen im Krankenhaus sind akut behandlungsbedürftig. Entweder weil sie eine akute schizophrene Episode durchleben, weil Lebensgefahr zum Beispiel aufgrund eines Alkoholentzugs nach der Inhaftierung besteht oder wegen Suizidgefahr. Und, weil sie im Hafthaus, wo sie normalerweise untergebracht sind, nicht ausreichend behandelt werden können.
Kriseninterventionsraum in der Klinik für Forensische Psychiatrie des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) in Dortmund
Kriseninterventionsraum in einer Klinik für Forensische Psychiatrie (imago / Friedrich Stark)
"Im Hafthaus haben Sie 80 Mann auf der Piste, hier im Krankenhaus, wir haben hier auf der Akutpsychiatrie so im Schnitt um die 15 Patienten. Unten auf der Station 7 sind es ein paar mehr, da sind es 20. Das ist schon mal ein Setting, was wesentlich ruhiger ist."
Wer über die Schwelle des Justizvollzugskrankenhauses gebracht wird, wird nicht mehr als Gefangener angesprochen, sondern als Patient. Psychiatriepflegerin Moldenhauer und ihre Kolleginnen und Kollegen tragen Hygienebekleidung. Ohne einen Schlüssel kommt man aber auch hier nicht weit. Uniformierte arbeiten im Krankenhaus jedoch nicht.
Stationäre Versorgung "völlig unzureichend"
Eindeutige Angaben, wie viele Gefangene in Deutschland eine psychische Störung haben, gibt es nicht. Eine Expertenkommission in Baden-Württemberg kam 2015 zu dem Ergebnis, dass 40 bis 70 Prozent der Gefangenen unter einer psychischen Störung leiden. Einige Schätzungen gehen von einem noch größeren Anteil aus. Und: viele Gefangene haben mehr als eine Störung. Anstaltsleiter Rolf Jacob:
"Ich würde sagen, es gibt einen Trend, einen Aufwärtstrend. Man muss allerdings vorsichtig sein zu sagen, es wird jedes Jahr immer schlimmer, immer mehr. Es ist tatsächlich so, dass die psychischen Befindlichkeiten, glaube ich, heutzutage auch genauer, differenzierter angeschaut werden. Das heißt also, es gibt mehr Hellfeld."
Verglichen mit der Allgemeinbevölkerung ist der Anteil drogenabhängiger, psychisch Kranker und auch suizidgefährdeter Menschen im Gefängnis generell höher. Ob die Insassen darüber hinaus immer schwerere Störungen mitbringen oder gar in der Haft entwickeln, lässt sich nicht belegen.
Im Haftkrankenhaus der JVA Leipzig werden nur die schwersten Fälle behandelt. Die meisten Gefangenen werden einige hundert Meter weiter auf dem Anstaltsgelände im Hafthaus betreut. Stephan Weber ist dort als externer Psychiater tätig. Er bezieht neben seiner Arbeit als niedergelassener Psychiater jeden Dienstagnachmittag ein kleines Sprechzimmer im Erdgeschoss des Hafthauses, in dem die Gefangenen ihre Zellen haben. Der Psychiater steht am Fenster und lauscht den Stimmen der Gefangenen, die sich von einem Fenster zum nächsten unterhalten.
"Extrem leise noch. Normalerweise ist das viel, viel lauter"
Der Lärm von Schritten und das Rollen von Aktenwagen dröhnen durch die Tür des Sprechzimmers. Drinnen stehen eine Liege und ein Schreibtisch mit zwei Monitoren. Hierher kommen seine Patienten entweder auf eigenen Wunsch oder, weil sie vonseiten der Anstalt zu ihm geschickt werden. Dabei dürften den Bediensteten einige psychisch kranke Gefangene gar nicht auffallen, schätzt Weber. Zum Beispiel depressive Gefangene, die sich zurückzögen.
"Ich denke, die Toleranzschwelle ist relativ hoch bei den Bediensteten. Was dort noch toleriert wird, würde sicherlich im ambulanten Bereich oder in der Familie nicht toleriert werden. Also insofern, denke ich, sind sie jetzt nicht übermäßig sensibilisiert für das Thema psychische Erkrankungen."
Der Justizvollzug ist in Deutschland Sache der Bundesländer. Und jedes Bundesland betreibt ein eigenes Gesundheitssystem innerhalb der Gefängnisse. Die stoßen vielerorts bei der Versorgung psychisch erkrankter Insassen an ihre Grenzen.
Im vergangenen Jahr kam eine Expertenkommission in Nordrhein-Westfalen zu dem Ergebnis, dass die ambulante Versorgung psychisch Erkrankter im Gefängnis zwar "knapp ausreichend" sei. Die stationäre Versorgung durch das Justizvollzugskrankenhaus in Fröndenberg sei jedoch "völlig unzureichend".
Hürden für eine Fixierung oder Zwangsmedikation sind hoch
Ein Gefangener musste demnach sogar 16 Monate auf einen Behandlungsplatz warten, heißt es in dem Bericht. Manche psychisch erkrankten Gefangenen würden eher entlassen als im Justizvollzugskrankenhaus behandelt. Stattdessen kommen sie immer wieder im besonders gesicherten Haftraum, kurz bgH, unter. Ein leerer Raum, in dem sich nichts außer einer Matratze, einer Toilette und einem Waschbecken befindet. Die Kommission hat bei ihrer Untersuchung einen Blick in solche Räume geworfen. Die Gefangenen gingen darin unruhig hin und her, sprachen halluziniert oder lagen bewegungslos auf der Matratze. Was die Experten auf dem Monitor der Überwachungskamera sahen, beschreiben sie so:
"Teils waren die Räume notdürftig mit Bindemittel 'sauber' gehalten. Dies zu sehen, war nicht einfach auszuhalten, wobei dies für die Kommission – anders als für die zuständigen Bediensteten – nur Momentaufnahmen waren. In vielen Fällen bestand diese, für die Gefangenen wie für die Bediensteten unzumutbare Situation, bereits seit Monaten."
Ein Sicherheitsbeamter im Gefängnis der französischen Stadt Bourg-en-Bresse
Ein Häftling im Gefängnishof (Symbolbild) (AFP / JEFF PACHOUD)
Solche Situationen kennt auch Psychiater Stephan Weber aus Leipzig. Er sucht seine Patienten manchmal im besonders gesicherten Haftraum auf, wenn sie nicht in sein Sprechzimmer gebracht werden dürfen.
"Patienten stehen dann in so Papierunterhosen vor einem. Also es gibt keine Möglichkeit sich ein Stück Privatsphäre zu schaffen. Es gibt im Prinzip keine Möglichkeit, Dinge abzustellen oder auf Toilette zu gehen mit Sichtschutz. Das gibt es alles nicht. Das ist natürlich eine sehr demütigende Erfahrung. Und das kann durchaus auch traumatisierend sein."
Die Hürden für eine Fixierung oder eine Zwangsmedikation im Gefängnis sind hoch. Der bgH ist daher in der Praxis oft das letzte Mittel, wenn Gefangene aggressiv gegenüber Mithäftlingen oder Bediensteten werden oder, wenn sie sich selbst verletzen. Immerhin sollen Gefängnisse die Sicherheit auch innerhalb der Anstalt gewährleisten. Nur weil jemand aggressiv werde, müsse er nicht zwangsläufig im Krankenhaus behandelt werden, sagt Weber:
"Die Bediensteten müssen auch geschützt werden oder die Mitpatienten müssen auch geschützt werden. Dann denke ich, ist es eine angemessenere Anordnung. Wenn eine psychische Erkrankung dahintersteht, dann ist es völlig unangemessen. Dann gehören die eigentlich ins Krankenhaus."
Ob ein Gefangener in den bgH oder gar aus der Anstalt heraus in ein ziviles Krankenhaus gebracht wird, entscheiden Anstaltsärztinnen und –ärzte vollkommen unabhängig, sagt Anstaltsleiter Rolf Jacob. Jedoch halte er es für legitim, die Medizinerinnen und Mediziner auf die Alternativen einer stationären Unterbringung im öffentlichen Krankenhaus hinzuweisen. Denn das justizinterne Gesundheitssystem befindet sich am Wochenende lediglich im Notbetrieb. Eine Behandlung außerhalb der Gefängnismauern binde zusätzliches Personal. Immerhin müssen die Gefangenen ja bewacht werden.
Schlechtes Image erschwert Personalsuche
"Es gibt also Fälle, insbesondere am Wochenende, wenn also kein Arzt da ist, dass es dann auch erstmal als Sofortmaßnahme eine Unterbringung im bgH und dann natürlich am Montag geschaut wird. Entweder kann die Anstalt das selber klären durch ihren Anstaltsarzt oder möglicherweise durch Hinzuziehung eines Psychiaters."
Im Justizvollzug steht die ärztliche Entscheidung nie alleine. Als Anstaltsleiter muss Jacob immer auch Sicherheitsaspekte mit einbeziehen.
"Sie können nicht, angenommen ich sage es jetzt mal fiktiv, sie haben fünf Brandstifter auf der Warteliste, können sie nicht alle fünf Brandstifter auf einmal holen. Zum Schluss gibt es kein Krankenhaus mehr - abgebrannt."
Tatsächlich hat vor wenigen Wochen ein Patient im Justizvollzugskrankenhaus ein Feuer in seinem Haftraum gelegt. Eine Bedienstete hat dabei eine Rauchvergiftung erlitten. Oft scheitere eine Überweisung ins Justizvollzugskrankenhaus aber auch schlicht an den Kapazitäten.
"Wir haben zehn Anstalten in Sachsen. Alle Anstalten haben Wartelisten zwischen eins bis zehn oder 15 Gefangene, wobei wir gerade dabei sind, so eine Prioritätenliste zu erarbeiten, dass jede Anstalt sagt, welche Fälle sind besonders wichtig für sie. Das kann zwischen Akutfall, kann innerhalb von Stunden zu uns kommen, aber ich glaube, es gibt auch Fälle, die warten monatelang."
Das liegt nicht zuletzt an fehlendem Personal. In fast allen Bundesländern sind die Gefängnisse personell unterbesetzt und es gibt einen hohen Krankenstand. Mitarbeiter für das Leipziger Vollzugskrankenhaus zu gewinnen und diese auch zu binden, sei eine Herausforderung, heißt es aus dem sächsischen Justizministerium. Die psychiatrisch-psychotherapeutische Abteilung könne deshalb seit geraumer Zeit nur eingeschränkt betrieben werden. Den Mangel an medizinischem Fachpersonal versucht das Vollzugskrankenhaus – wie Krankenhäuser draußen auch – aktuell mithilfe einer Zeitarbeitsfirma zu decken.
Der Justizvollzug hat bei der Personalsuche allerdings noch einen weiteren Nachteil: sein Image. Dass die Arbeitsbedingungen im Gefängnis speziell seien, spiegelten ihm auch immer wieder Kollegen von draußen vor, sagt Psychiater Stephan Weber.
"Allein so das Umfeld, das Beengte, dann verschlossene Türen. Immer so ein latent aggressives Klima. Das sind sicherlich Arbeitsbedingungen, die jetzt nicht primär dazu führen, dass man sagt: Ja, hier habe ich große Lust drin zu arbeiten, ja."
Kirstin Drenkhahn ist Professorin für Strafrecht und Kriminologie an der Freien Universität Berlin und hat unter anderem zur psychischen Gesundheit von Gefangenen geforscht. Sie sagt: Psychologinnen und Psychologen im Gefängnis seien häufig mit Gruppenangeboten ausgelastet oder als hochqualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Anstaltsleitung tätig.
"Und das heißt, dass die ganz wenig Zeit dafür haben, einzelne Gefangene zu versorgen. Und dann kommt noch dazu, dass es im Regelvollzug eben sehr wenige Psychologen pro ganz viele Gefangene gibt. Und dann hat man natürlich in jedem Fall so ein Versorgungsproblem."
"Die sitzen dann in der Zelle, sind total apathisch"
Dieses Versorgungsproblem betrifft nicht nur unmittelbar die Gefangenen, sondern berührt auch das oberste Ziel des Strafvollzugs: die Resozialisierung, also ein straffreies Leben nach der Entlassung.
"Um die Voraussetzung zu schaffen überhaupt an Maßnahmen zur Resozialisierung teilzunehmen, muss man halt gucken, also ob bei einem Gefangenen eine psychische Erkrankung da irgendwie ein Hinderungsgrund ist. Und wenn das so ist, dann muss man sich da auf jeden Fall drum kümmern. Mal ganz davon abgesehen, dass das natürlich ein Gesundheitsrisiko ist. Also, die Depression ist eine der tödlichsten Krankheiten."
Der Maßstab für die Gesundheitsversorgung in deutschen Gefängnissen ist das so genannte Äquivalenzprinzip. Das heißt, dass Gefangene eine gleichwertige Behandlung erfahren sollen wie die Menschen in Freiheit. Allgemein habe sich jedoch die Auffassung durchgesetzt, dass die Behandlung von psychischen Krankheiten kein Vollzugsziel sei, sagt Professorin Drenkhahn.
Blick in das Plenum des nordrhein-westfälischen Landtags.
Landtag NRW: Eine Expertenkommission bezweifelte, ob Behandlung hinter Gittern überhaupt funktionieren kann (picture alliance / dpa / Federico Gambarini)
"Man kann sicher sagen, es ist viel schwieriger im Vollzug eine gute Behandlung zu kriegen, auch eine Krisenintervention, die sozusagen nachhaltig die Krise löst."
Darüber hinaus äußert die Expertenkommission aus Nordrhein-Westfalen in ihrem Bericht Zweifel daran, ob eine psychiatrische Behandlung hinter Gittern überhaupt funktionieren kann. Im stark geregelten Gefängnisalltag blieben den Insassen kaum Spielräume für selbstbestimmtes und selbstverantwortliches Handeln, schreiben die Expertinnen und Experten. Das aber stehe einer psychiatrischen Behandlung ganz grundlegend im Weg. Marco Bras Dos Santos, Sprecher der selbsternannten Gefangenengewerkschaft GGBO, sagt, dass einige Gefangene aufgrund ihrer psychischen Erkrankung gar nicht haftfähig seien.
"Die sitzen dann in der Zelle, sind total apathisch, sind super krasse Zustände und die kommen da einfach nicht raus. Aber die haben im Bau selber nichts zu suchen, sagen teilweise auch die Leute, die in der Anstalt arbeiten."
Geholfen werden könne den Gefangenen weder von Psychologinnen und Ärzten im Hafthaus noch im Justizvollzugskrankenhaus. Denn ein Vertrauensverhältnis zwischen medizinischem Personal und Gefangenen, wie es gerade bei einer psychotherapeutischen Behandlung notwendig ist, gebe es nicht, sagt der GGBO-Sprecher.
"Menschen, die helfend im Knast tätig sind, Anstaltsärztinnen, Psychologinnen oder so, werden immer schon wahrgenommen als ein Teil des Systems. Das ist eine sehr unmenschliche Gegend, wo man sich da aufhält im Knast und die Leute, die einen da bevormunden oder die da für einen da sind, die werden jetzt nicht unbedingt als Freunde wahrgenommen."
An dieser Stelle ist das Äquivalenzprinzip, also die Forderung nach einer gleichwertigen Behandlung wie in Freiheit, eingeschränkt. Inhaftierte können sich ihre Psychiater oder Psychotherapeutinnen nämlich nicht aussuchen. Sie sind auf das medizinische Anstaltspersonal angewiesen. Eine Chance auf eine Zweitmeinung haben sie nicht.
Mit wenigen Ausnahmen - zum Beispiel bei geplanten Straftaten - gilt für die Behandelnden im Gefängnis die Schweigepflicht genauso wie draußen. Kommentarlos bliebe die Einschätzung des therapeutischen Personals dennoch nicht, sagt Professorin Kirstin Drenkhahn.
"Die sind eben auch an der Vollzugsplanung üblicherweise beteiligt. Der Vollzugsplan, das ist ein individueller Plan, der letztlich festlegt, was während der Freiheitsstrafe mit einem konkreten Gefangenen passieren soll. Und der muss regelmäßig überarbeitet werden. Das heißt, also man muss auch regelmäßig darüber reden, was ist jetzt in der Zwischenzeit passiert. Und da spielt natürlich das, was in solchen Behandlungssettings rausgekommen ist, eine ganz große Rolle."
Planstellen noch nicht besetzt
Worin sich Expertinnen und Experten einig sind, ist, dass es mehr Betten, mehr Personal und mehr Sprechstunden im Justizvollzug geben muss. Die Expertenkommission in NRW hat dazu zahlreiche Maßnahmen und auch konkrete Zahlen vorgelegt. Das dortige Justizministerium teilt mit, dass es die Zahl der Betten im Justizvollzugskrankenhaus in Fröndenberg erhöht habe, indem Doppelzellen wieder mit zwei statt einem Gefangenen belegt werden. Von den von der Kommission geforderten 160 Betten ist der Vollzug jedoch immer noch weit entfernt.
Im nordrhein-westfälischen Justizministerium berät seit Februar eine Koordinierungsrunde mit Vertreterinnen und Vertretern aller Landtagsfraktionen, wie die übrigen Empfehlungen aus dem Bericht umzusetzen sind. Schätzungen zu Kosten gebe es noch nicht, teilt das Ministerium mit. Seit Kurzem gebe es immerhin wieder eine Landesarbeitsgruppe zur Suizidprävention und zusätzliche zwölf Planstellen für Suizidpräventionsbeauftragte in den Anstalten. Besetzt sind die Stellen noch nicht.
In Baden-Württemberg hat die Expertenkommission 2015 ebenfalls eine Reihe von Empfehlungen vorgelegt. Mit Erfolg, könnte man sagen. Das dortige Justizministerium hat das Gehalt des medizinischen Personals aufgestockt, um die Berufe attraktiver zu machen, und rund 150 neue Stellen im Justizvollzug geschaffen. Insgesamt sei der Vollzug dadurch um zehn Millionen Euro teurer geworden.
Das sächsische Justizministerium sieht bei den Wartezeiten für eine Behandlung im Leipziger Haftkrankenhaus nach eigenen Angaben "dringenden Handlungsbedarf". Immerhin hat sich die sächsische Landesregierung in ihrem Koalitionsvertrag auf eine verbesserte psychiatrische Versorgung hinter Gittern geeinigt. Man wolle unter anderem mit Ärztinnen und Ärzten aus dem Maßregelvollzug zusammenarbeiten. Zudem sind mehrere Stellen bereits ausgeschrieben. Wie viel die verbesserte Versorgung kosten wird, das könne man im Moment noch nicht sagen. Ein wichtiger Schritt ist für Anstaltsleiter Rolf Jacob der Neubau des Justizvollzugskrankenhauses.
Jacob: "Also, dass neu gebaut werden musste, ist seit bestimmt 15 Jahren – wir sind ja jetzt 20 Jahre hier draußen – bekannt, dass wir ein neues Krankenhaus brauchen."
Reporter: "Warum hat das so lange gedauert?"
Jacob: "Müssen Sie mal das Finanzministerium fragen."