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Ernst Jünger: „Strahlungen“
Ganz hart am Nichts

Ernst Jüngers vieldiskutiertes Tagebuch „Strahlungen“ erscheint zum ersten Mal in voller Länge, mit allen Bearbeitungen und Stilisierungen des Autors. Er beschreibt sein Leben als Wehrmachtsoffizier im besetzten Paris während des zweiten Weltkriegs und versucht sich in geistesaristokratischen Posen.

Von Helmut Böttiger | 18.12.2022
Ernst Jünger: "Strahlungen"
Zu sehen sind der Autor und das Buchcover
Ernst Jünger: "Strahlungen" (Buchcover: Klett-Cotta Verlag / Foto: Ulf Andersen)
Man kann sich selten auf die Zeitläufte verlassen. Spätestens, als Klaus Theweleit 1977 seine „Männerphantasien“ veröffentlichte, schien es endgültig klar zu sein, dass der Autor Ernst Jünger ein für allemal ad acta gelegt werden konnte. Zu eindeutig war die Diagnose des soldatischen Mannes mit seinem Körperpanzer, den Theweleit vollkommen der Lächerlichkeit preisgab – die pathetische Sprache Jüngers, seine inszenierte Kälte und Sachlichkeit, seine pubertär-männlichen Ersatzhandlungen wurden in der Zeit von Theweleits Grundlagenwerk von einer breiten Mehrheit überhaupt nicht mehr ernstgenommen.
Doch was geschah? Achtzehn Jahre später feierte Jünger seinen 100. Geburtstag. Bereits am Vormittag des 29. März 1995 machten Bundespräsident Herzog und Bundeskanzler Kohl dem greisen Mann im schwäbischen Wilflingen ihre Aufwartung. Das brachte auch instinktsichere westdeutsche Feuilletonisten dazu, Jünger als Jahrhundertfigur wiederzuentdecken. Und so können auch die Herausgeber der neuen historisch-kritischen Ausgabe von Jüngers Tagebüchern mit dem Titel „Strahlungen“ offenkundig auf einen allgemeinen Konsens bauen:
„Das Journal, das Jünger am 3. April 1939 zu führen begann, ist das Dokument nicht nur einer Ausnahmezeit, sondern eines anhaltenden Ausnahmezustands sowohl im historisch-politischen als auch im rechtlichen und ethischen Sinn – geschrieben von einem Autor, der aufgrund seiner militärischen und politischen Vorerfahrungen, aber auch aufgrund seiner außerordentlichen historischen Belesenheit ein besonderes Sensorium für die katastrophalen Vorgänge hatte, in die er sich und seine Zeitgenossen versetzt sah.“

Ein suggestives Schlüsselwerk

Worum also handelt es sich bei diesem Autor, der so extrem unterschiedliche Reaktionen hervorzurufen in der Lage ist? „Strahlungen“ erfasst den Zeitraum zwischen 1939 und 1948 und war in der Fassung von 1949 mit 20.000 verkauften Exemplaren im ersten Jahr Jüngers erfolgreichstes Werk zu Lebzeiten, es scheint für viele deutsche Zeitgenossen in den fünfziger Jahren ein suggestives Schlüsselwerk gewesen zu sein. Jünger war 1939 Reserveoffizier und wurde, als ihm im Alter von 44 Jahren der Gestellungsbefehl zugestellt wurde, sogleich zum Hauptmann befördert. Sein soldatisches Ideal hatte er in dem Erfahrungsbericht aus dem Ersten Weltkrieg „In Stahlgewittern“ scharf und mit großer Wucht umrissen. Es ist bezeichnend, wie sehr er dieser Art von Kriegertum dann während des Zweiten Weltkriegs nachtrauert. Denn es hat sich etwas verändert. Im Februar 1942 schreibt er:
„Das Massensterben in den fürchterlichen Kesseln erweckt die Sehnsucht nach dem alten Tode, dem Sterben, das nicht dem Zertreten-Werden gleicht.“
Und am Silvestertag desselben Jahres setzt er dann nach:
„Ein Ekel ergreift mich vor den Uniformen, den Achselstücken, den Orden, den Waffen, deren Glanz ich so geliebt habe. Das alte Rittertum ist tot, wie es noch in den Kriegen Napoleons, ja, noch im Weltkrieg der Macht den Adel gab. Der Mensch hat also jenen Stand erreicht, wie ihn Dostojewski im ‚Raskolnikoff‘ auf seiner untersten Stufe beschrieb. Dann sieht er seinesgleichen als Laus, als Ungeziefer an. Gerade hiervor muss er sich auf das Äußerste in Acht nehmen, wenn er nicht in die Insektensphäre hineingeraten will.“

Ein selbstsicherer Solitär

Jünger ist früh durch seine Charakterisierung des Heldischen berühmt geworden, des sich seiner selbst sicheren Solitärs. Jetzt aber werden die Kriege von Technikern geführt, wie er verächtlich feststellt. Ein bisschen hallt noch etwas von der alten Würde nach, wenn er von Werner Rehm spricht, der ihn seit Beginn des Kriegs als Ordonnanz begleitet:
„Es lebt in solchem Miteinander noch etwas vom alten Verhältnis zwischen Ritter und Knappen, und ich trenne mich schwer von ihm.“
Jüngers Vorstellungen von Rittertum und Adel sind sehr ernst zu nehmen. Sie haben für ihn eine unmittelbare politische Bedeutung und führen dazu, dass er die Demokratie der Weimarer Republik wie die Pöbelherrschaft des Nationalsozialismus gleichermaßen ablehnt. Diese Grundhaltung verändert sich bei Jünger nie, auch wenn er im Lauf der Jahre einige innere Gemütsverschiebungen notiert. Das Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 kommentiert er mit den Worten:
„Der Attentäter soll ein Graf Stauffenberg sein. Das würde meine Meinung bestätigen, dass an solchen Wenden die älteste Aristokratie ins Treffen tritt.“

Von Paris in den Kaukasus und zurück

Jünger ist durch und durch von seiner Sozialisation im wilhelministischen preußisch-deutschen Kaiserreich geprägt, das merkt man den „Strahlungen“ von Anfang bis Ende an. Sein Tagebuch ist ein Mammutprojekt und hat eine bewegte Editionsgeschichte. Die erste Veröffentlichung daraus erschien bereits 1942 unter dem Titel „Gärten und Straßen“ und umfasst den erfolgreichen Frankreich-Feldzug des deutschen Militärs. 1949 kamen dann mit dem Titel „Strahlungen“ die zentralen Teile des Tagebuchs heraus. Angesichts der sich anbahnenden Katastrophe notiert Jünger:
„Welche Opfer hier wieder fallen, und gerade in den kleinen Kreisen der letzten vornehmen, ritterlichen Männer, der freien Geister, der jenseits der dumpfen Massenleidenschaften Fühlenden und Denkenden. Und dennoch halte ich diese Opfer für wichtig, weil sie inneren Raum schaffen und verhüten, dass die Nation als Ganzes, als Block in die entsetzlichen Tiefen des Schicksals fällt.“
1958 erschien schließlich, als Einzelband, noch eine Art Nachzügler mit dem Titel „Jahre der Okkupation“. Er behandelt Jüngers Jahre in Kirchhorst von April 1945 bis Dezember 1948, also in der Besatzungszeit durch die westlichen Alliierten. Es versteht sich von selbst, dass dieser Band für Jünger nicht einmal im Ansatz „Jahre der Befreiung“ heißen konnte – für ihn stand absolut im Vordergrund, dass die deutsche Nation in dieser Zeit ihre Geschicke nicht selbst lenken konnte.

Wie aus Hausschuhen Stiefel werden

Sämtliche Teilbände der „Strahlungen“ kamen in einer ersten Werkausgabe 1962/63 dann zum ersten Mal gebündelt heraus – mit etlichen nachträglichen Eingriffen des Autors. Was Jünger in jeder seiner Veröffentlichungen der Tagebücher unter neuen zeitgeschichtlichen Voraussetzungen gestrichen und was er hinzugefügt hat, ist sehr erhellend. Diese Prozesse im Detail nachzuweisen, ist ein großes Verdienst der Herausgeber der Historisch-Kritischen Ausgabe Joana van de Löcht und Helmuth Kiesel. Ernst Jünger hat gerade auch an seinen Tagebüchern stilistisch intensiv gefeilt, und er hat dabei offenkundig sehr an die Nachwelt gedacht. Das geht bis in vermeintliche Kleinigkeiten. So heißt es im Juni 1940 an der Westfront in der unmittelbaren ersten Niederschrift:
„Wollte in den Keller steigen, fand aber im Dunkeln meine Hausschuhe nicht.“
Die „Hausschuhe“ erschienen Jünger bei der Überarbeitung für einen Frontkämpfer wohl als zu schlicht, in der ersten Drucklegung heißt es stattdessen „Schuhe“. Und in der penibel redigierten Werkausgabe in den sechziger Jahren werden sie endlich zu dem, was angemessen ist: Es handelt sich dann um „Stiefel“, wie es sich für das Militär gehört. Es gibt aber auch substanziellere Eingriffe. So hat Jünger dann letztlich doch nicht publizieren wollen, was er am 2. September 1945 seinem Tagebuch anvertraute:     
„Die Engländer und Amerikaner gedenken in Deutschland die Demokratie wiederherzustellen, das ist einer ihrer Trugschlüsse. In Deutschland kam es zur Katastrophe nicht aus Mangel, sondern aus Überfluss an Demokratie.“

Niedermetzelungen des Adels

Und auch die ursprüngliche Eintragung vom 4. Januar 1946 hatte es so gewaltig in sich, dass sie Jünger bei der Veröffentlichung zurückhielt – er hätte sich dadurch doch zu sehr kenntlich gemacht:
„Das Schicksal der preußischen Aristokratie ist fürchterlich – im Grunde fürchterlicher als das der Juden, von denen man den Eindruck hat, dass sie die Prüfung festigte und dass es sich bei den Niedermetzelungen um einen zwar entsetzlichen, doch kräftigenden Aderlass handelte. Sie werden ein neues Äon bestehen – während der preußische Adel sich nicht wieder erheben wird.“
Wenn man Ernst Jünger als stolzen, unabhängigen Solitär rezipieren möchte – und seit geraumer Zeit scheint die Neigung dazu wieder größer geworden zu sein – dann sollte man nicht verkennen, vor welchem Hintergrund sich seine Stilisierung zum großen Einzelgänger abspielt. Sein oft bewundertes „Waldgängertum“ orientiert sich doch ziemlich an der Haltung ostelbischer Junker. Jüngers Vorstellungen von einer Geistesaristokratie beziehen sich auf das Reservoir der preußischen Streusandbüchse. Wenn man nach der Faszination fragt, die von ihm offenkundig dennoch ausgehen kann, stößt man auf Sätze wie die folgenden. Jünger befindet sich im Sommer 1942 in der deutschen Führungsspitze im besetzten Paris:
„Wenn ich die Augen schließe, erblicke ich jetzt zuweilen eine schwarze Landschaft, mit Steinen, Klippen und Bergen, am Rande der Unendlichkeit. Im Hintergrunde, vielleicht am Rande eines schwarzen Meeres, erkenne ich mich selbst, ein winziges Figürchen, das wie mit Kreide aufgezeichnet ist. Das ist meine Vorpostenstellung, ganz hart am Nichts – dort hinten am Abgrund kämpfe ich für mich.“   

Ein Besuch bei Picasso

Das hat sicherlich etwas von schwarzem Kitsch, doch mit einer ungeheuren existenziellen Aufladung. Solche Sätze bargen für die Nachkriegsdeutschen schier massenhaft ein Identifikationspotenzial. Ernst Jünger kam als Besatzungsoffizier, als Chef einer Wachkompanie nach Paris, stieß dort aber schnell auf den Obersten Hans Speidel, den Chef des Stabs des „Befehlshabers in Frankreich“ Carl-Heinrich von Stülpnagel. Speidel versammelte einen Kreis von kulturell interessierten Offizieren um sich und holte Jünger sofort zu sich in seinen Bereich. Das bedeutete ein großes Privileg: Jünger bekam ein Zimmer im Hotel Raphael in der Avenue Kléber, seinen Dienst verrichtete er im gegenüberliegenden Hotel Majestic.
Er hatte viel freie Zeit zur Verfügung und konnte in Zivil ausgehen. Dadurch bekam er Kontakt mit Pariser Intellektuellen und Künstlern, und die Passagen seines Tagebuchs, die davon handeln, gehören zu den kulturhistorisch interessantesten – auch wenn sie vergleichsweise knapp ausfallen. Jünger besucht Picasso, beschreibt Sacha Guitry, porträtiert Louis-Ferdinand Céline, der ihn sehr abstößt, und kommt oft mit Jean Marais und Jean Cocteau zusammen.
„Cocteau, der immer in mir den Eindruck weckt, als turne er am Trapez. Der Geist ist hier auf eine schlanke Physis zugeschnitten, doch diese beherrscht er als Jongleur.“

Die Erotik, militärisch betrachtet

Im Oktober 1941 lernte Jünger die Kinderärztin Sophie Ravoux kennen. Ihr Mann Paul Ravoux hatte sich der Résistance angeschlossen, er wurde später verhaftet und nach Dachau transportiert. Sophie wandte sich an Jünger, weil sie bestimmte häusliche Papiere vor der Gestapo in Sicherheit bringen wollte. Daraus entstand eine erotische Affäre, die bis zu Jüngers Abzug aus Paris zwölf Tage vor dem Einmarsch der Alliierten anhielt. Seine Annäherung an Sophie Ravoux hatte allerdings durchaus auch militärische Aspekte.
„Bei solchen Frauen, (Ärztinnen), ist es sehr schwierig, die Entfernung bis zum Körper zurückzulegen – es ist, als ob der Zynismus sie mit einem Gürtel, der die Lust entkräftet, der die Begierde zum Scheitern bringt, umringt. Vielleicht dringen ja, die erotisch nicht deutlich orientiert sind, noch am ersten vor. Stärker als Brünhilds Gürtel.“
Dies gehört zu jenen Passagen, die Jünger für den Druck später überarbeitet und philosophisch etwas geglättet hat. Jünger genießt seine Zeit in Paris, als hoher Vertreter der deutschen Besatzer hat er eine Bedeutung, die er für amouröse und salonkulturelle Kontakte gezielt zu nutzen weiß. Auffällig ist, wie sein Ekel vor den nationalsozialistischen Wortführern gelegentlich aufflammt. Doch dies hat vor allem den Charakter der eigenen Selbstüberhöhung. Von der realen Situation in Paris, der brutalen Verfolgung der Juden und der politisch Oppositionellen, erfährt man in Jüngers Tagebuch kein Wort.

Penibler, disziplinierter Stil

Er scheint sich selbst genug zu sein, und es ist charakteristisch, wie verdutzt er es notiert, als er im Juni 1942 zum ersten Mal einen gelben Judenstern auf der Straße sieht. Grundsätzlich aber ist sein Stil beherrscht von Penibilität und Disziplin. Er versucht, Gefühle so weit wie möglich fern von seinen Sätzen zu halten, er arbeitet an einer kühlen Distanz zu den Geschehnissen, und angesichts barbarischer Kriegsereignisse, von Bombenabwürfen und von verstümmelten Toten, dringt er in wahrlich abenteuerliche Formen von Kälte vor. Dabei trägt Jüngers Ästhetizismus zuweilen auch schwülstige und effekthascherische Züge. Berühmt geworden sind seine Sätze vom 27. Mai 1944, kurz vor seinem Abmarsch aus Paris und der drohenden Zerstörung der Stadt, die alliierten Geschwader hatten schon einmal die Flussbrücken angegriffen:
„Beim zweiten Male, gegen Sonnenuntergang, hielt ich ein Glas Burgunder, in dem Erdbeeren schwammen, in der Hand. Die Stadt mit ihren roten Türmen und Kuppeln lag in gewaltiger Schönheit, gleich einem Blütenkelche, der zu tödlicher Befruchtung überflogen wird. Alles war Schauspiel, war reine, von Schmerz bejahte und erhöhte Macht.“ 
Die komische Seite des Ernstes
Jüngers Vorliebe für Pflanzen und Insekten scheint hier auf theatralisch inszenierte Weise mit auf: Vorstellungen einer „tödlichen Befruchtung“ gehören zu seinen beliebtesten Obsessionen. Der Kritiker Franz Schonauer, der im Gegensatz zu damaligen Jünger-Verehrern wie Friedrich Sieburg oder Hans Egon Holthusen heute weitgehend vergessen ist, hat 1959 bei seiner Besprechung des letzten Teilbandes der „Strahlungen“ festgestellt, dass „Jüngers Beziehung zum Faktischen, zur Realität schwach“ sei. Schonauer hob vor allem Jüngers „vorschnelles Analogisieren“ sowie den Hang zu groben Vereinfachungen und metaphysischen Deutungsmustern hervor. Dankenswerterweise zitieren die Herausgeber in ihrem Vorwort zur Historisch-Kritischen Ausgabe auch solche Reaktionen, und besonders eindrucksvoll ist eine Rezension Erich Kubys 1950 in den „Frankfurter Heften“:
„Entsetzlichster, bitterster Ernst erfüllt ihn, der ihn als einzigen vielleicht von allen modernen deutschen Schriftstellern in den Stand setzt, sich ohne Ironie anzuschauen und ohne Ironie auszusagen. Hierauf führen wir es zurück, dass Jünger in den Augen aller derer, die nicht unbefangen genug sind, die komische Seite dieses Ernstes zu sehen, als eine Art geistiger Führer dasteht.“
Jüngers Ideal des Kriegers, des an antike Helden gemahnenden großen Einzelnen, schien eine Zeitlang tatsächlich überwunden zu sein. Aber irgendetwas west weiter und tritt in letzter Zeit wieder an die Oberfläche.

Wolf in der Schafsherde

Das große feuilletonistische Interesse an dieser umfassenden neuen Edition der „Strahlungen“ weist darauf hin. Es ist allemal erstaunlich, welche konjunkturellen Wechsel die Rezeption dieses Apothekersohns, der ständig in eine ritterliche Aristokratie hineinwachsen wollte und das unwillkürlich mit dem preußischen Kaiserreich gleichsetzte, im Lauf der Zeiten erlebt hat. Anscheinend liegen der Zweite Weltkrieg und die direkten Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus mittlerweile allzu lange zurück, um derlei deutsche Geistesrecken, die sich selbst über die Masse erheben und dabei gelegentlich unfreiwillig komisch wirken, historisch richtig einordnen zu wollen. Der eine oder andere kokettiert gerne mit antidemokratischen Impulsen, und Jünger liefert immer wieder Material dafür:  
„Der Wolf, der in eine mit Schafen gefüllte Hürde bricht, zerreißt zwei oder drei. Einige hundert treten sich gegenseitig tot.“
Ernst Jünger sah sich Zeit seines Lebens als einen solchen Wolf. Dass das gemeine Wählervolk dagegen mit einer Schafsherde zu vergleichen sei, davon war er von Anfang bis Ende überzeugt. Natürlich gehörte er mit seiner gesamten Haltung zu den einflussreichsten Wegbereitern des Nationalsozialismus, auch wenn diese Zuweisung mit Verweis auf seine Ablehnung des Nazipöbels von manchen Traditionalisten fast verächtlich zurückgewiesen wird. Dieser narzisstische Selbststilisierer ist weder ein Vorbild noch ein großer Schriftsteller. Aber seine Figur ist symptomatisch für das deutsche 20. Jahrhundert, und deshalb sind seine Tagebücher eine zeitgeschichtlich aufschlussreiche Quelle.
Ernst Jünger: „Strahlungen. Historisch-Kritische Ausgabe“
Die Tagebücher des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit (1939-1948)
Hrsg. von Joana van de Löcht und Helmuth Kiesel
unter Mitarbeit von Friederike Mayer-Lindenberg
Klett-Cotta, Stuttgart. 3 Bände, insgesamt 2371 Seiten, 198 Euro.