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Streit um 'historische Schuld'

Klaus Remme: Die Antragsteller im NPD-Verbotsverfahren, also Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung übergeben dem Bundesverfassungsgericht heute ihre Stellungnahme zur sogenannten V-Mann-Affäre. Auf 39 Seiten wird darin begründet, warum die Anträge weiter Bestand haben sollen und V-Leute, wie der NPD-Spitzenfunktionär Udo Holtmann, das Verfahren nicht beeinträchtigen. Unabhängig davon, wie sich das Gericht zum weiteren Fortgang des Verfahrens entscheidet: Der politische Schaden weitet sich aus, und Schuld daran - unter anderem, so nach Meinung vieler Kommentatoren und Politiker - ist der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Ludwig Stiegler. Er hatte mit Blick auf die Kritik von Union und FDP gesagt: "... dabei müsste gerade bei CDU/CSU und FDP - deren Vorläuferpartei am 23. März 1933 Hitler ermächtigt haben, nachdem sie ihn zuvor verharmlost und mit an die Macht gebracht haben -, die historische Schuld alle denkbaren Aktivitäten auslösen, wenigstens heute schon den Anfängen zu wehren". Union und FDP spucken Gift und Galle, und in einem Kommentar ist zu lesen: Stiegler schwingt die Nazikeule. Am Telefon ist nun Ludwig Stiegler selbst und der parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion und Rechtsexperte Jörg van Essen. Guten Morgen meine Herren.

    Jörg van Essen: Einen schönen guten Morgen.

    Ludwig Stiegler: Guten Morgen.

    Remme: Herr Stiegler, viele Ihrer Parlamentskollegen fordern eine Entschuldigung. Sind Sie dazu bereit?

    Stiegler: Da gibt es überhaupt nichts zu entschuldigen. Das ist ein historisches Werturteil, und wer die neuere zeitgeschichtliche Forschung über das Ende der Weimarer Republik studiert - etwa Heinrich August Winkler oder die neue Hitlerbiografie von Kershaw -, der kommt nicht an der Erkenntnis vorbei, dass das bürgerliche Lager am Erstarken und am Ende an der Ermächtigung des Sozialsozialismus eine große Mitursache gesetzt hat. Und daran habe ich erinnert, daran habe ich schon oft erinnert, da hat es auch im Parlament schon gekracht. Und daran werde ich auch in Zukunft erinnern. Ich weiß, die würden sich gerne alle als Widerstandskämpfer stilisieren, sie waren es aber nicht.

    Und ich meine, dass wir uns auch der jeweiligen geschichtlichen Traditionen bewusst sein müssen. Ich bin Mitglied der traditionsreichsten Partei Deutschlands und selbstverständlich befasse ich mich mit allen Phasen unserer Geschichte. Und deshalb erwarte ich auch, dass das sogenannte bürgerliche Lager, also die Liberalen und die Konservativen, sich ihrer historischen Verantwortung stellen.

    Remme: Herr van Essen, Ihre Meinung?

    van Essen: Es ist schier unerträglich, dass der Kollege Stiegler das, was er am Wochenende in die Welt gesetzt hat, jetzt noch einmal unterstreicht und noch einmal bestätigt. Er grenzt sich damit aus dem Kreis der Demokraten aus.

    Stiegler: So einen Unsinn habe ich selten gehört. Als ob sich jemand, der sich auf ein historisches Werturteil stützt und in eine Auseinandersetzung geht, aus dem Kreis der Demokraten auskreist. Allenfalls kreisen sich diejenigen aus, die sich ihrer eigenen Geschichte nicht stellen und sich ihrer Verantwortung nicht stellen wollen.

    van Essen: Selbstverständlich stellen wir uns als Deutsche der Geschichte und auch der Verantwortung ...

    Stiegler: . . . es geht hier nicht um die Deutschen, es geht hier um die Andeutungen der Liberalen und der Konservativen in der deutschen Geschichte, nicht um die Deutschen . . .

    Remme: . . . Herr Stiegler, wir sind am Anfang noch der Diskussion, und wenn wir alle zumindest nicht gleichzeitig reden, hat der Hörer mehr davon. Herr van Essen, antworten Sie bitte.

    van Essen: Es gibt keine spezielle Verantwortung von Konservativen und Liberalen zu dem Nationalsozialismus. Und ich lasse mich auf eine solche Debatte schon deshalb nicht ein, weil liberale und konservative Männer und Frauen Seite an Seite gemeinsam mit Sozialdemokraten gegen den Nationalsozialismus gekämpft haben und nach dem Krieg durch die Neugründung von Parteien für den demokratischen Wiederaufbau gesorgt haben. Und im übrigen darf ich den Kollegen Stiegler daran erinnern, dass wir zu Recht - und ich unterstreiche 'zu Recht' - niemandem in der SPD von heute Vorwürfe machen, dass Sozialdemokraten aktiv an der Gründung der SED teilgenommen und bis zuletzt Verantwortung für das mörderische Grenzregime getragen haben.

    Und ich darf noch einen zweiten Gesichtspunkt anführen. Wer die heutige Situation in unserer stabilen Demokratie mit dem Nationalsozialismus vergleicht, der plustert im übrigen die NPD in einer Weise auf, die unerträglich ist, und er führt dazu, dass wir die notwendige Debatte, wie wir mit Rechtsextremen in unserem Lande umgehen, in einer Weise führen, die dieses Land nicht verdient hat - im übrigen auch der NPD dient, weil es natürlich Streit zwischen Parteien über solche unverantwortlichen Äußerungen gibt und damit wieder die Möglichkeit gibt, gegen die Parteiendemokratie von heute zu zetern. Nein, alles das ist ein völlig falscher und inakzeptabler Weg!

    Stiegler: Das zeigt schon wieder einmal, dass Herr van Essen sich einer speziellen historischen Diskussion und Verantwortungsdiskussion entzieht. Die Nazis waren in einer bestimmten Phase der Weimarer Republik von den bürgerlichen Parteien abgeschrieben worden, verharmlost worden und als klein und unbedeutend betrachtet worden. Dann waren sie plötzlich dick da, teils, weil man sie gefördert hat, teils, weil man sie verharmlost hat, teils, weil man glaubte, man könne sie vor den eigenen Karren spannen - und am Ende, weil man Angst vor ihnen hatte.

    Diese nationalsozialistische Gesinnung, die ist heute wie damals virulent und muss kritisch betrachtet werden. Und man muss da den Anfängen jeweils wehren. Und es kann nicht sein, dass die Liberalen und die Konservativen sich auf die paar Widerstands-kämpfer herausreden in der Zeit nachher. Ich bin gerne bereit, anzuerkennen - das ist ja historisch sowieso selbstverständlich -, dass es auch Leute gegeben hat, die sich dann später oder gleichzeitig sogar gewehrt haben. Das Entscheidende ist, und darauf habe ich hingewiesen, dass in der Entwicklungsphase des Nationalsozialismus in der Weimarer Republik die bürgerlichen und die konservativen Parteien eben nicht bereit waren, diese Auseinandersetzung zu führen. Man kann also bei Kershaw oder bei Heinrich August Winkler wirklich deutlich nachlesen, wie schmählich etwa das Zentrum, aber auch wie die DP da gehandelt haben. Und ich habe erst in der letzten Woche das neueste Quartalsheft - das Vierteljahresheft - DIE VIERZEITGESCHICHTE auf den Tisch bekommen und wieder mit vollem Ingrimm nachgelesen, was etwa die bayerische Volkspartei mit den Nazis alles getrieben hat. Und das muss man historisch sehen. Ich werfe Ihnen, Herr van Essen, ja nicht als heutigen vor, ich sage nur: Sie, Herr van Essen und Sie, Herr Westerwelle stehen in einer historischen Tradition, und Ihre Vorgänger haben damals Fehler gemacht. Und deshalb erwarte ich eine umso schärfere Aufmerksamkeit.

    Remme: Herr Stiegler, der Anlass unseres Gespräches ist das NPD-Verfahren und die Tatsache, dass die Antragsteller - das heißt also Bundesregierung, Bundesrat und Bundestag - nachlegen müssen. Das heißt, es sind also Verfahrensmängel - Vorbereitungsmängel im Verfahren - offenbar geworden. Ist das, was Sie jetzt hier machen, nicht ein allzu offensichtliches Ablenkungsmanöver?

    Stiegler: Überhaupt nicht, sondern ich habe mich nur geärgert, dass die CDU und die FDP an dem Verfahrensfehler, der in der Tat im Innenministerium passiert ist, herummäkeln, anstatt dass man sich auf den Gegner konzentriert. Es ist eine streitige Auseinandersetzung, und da erwarte ich von allen demokratischen Parteien, dass sie sich auf das Wesentliche konzentrieren. Stattdessen wird versucht, sich auf das Innenministerium zu konzentrieren, oder die Konservativen glauben, sie könnten dem Innenminister persönlich am Zeug flicken. Die Bewertung des Schadens, der eingetreten ist, ist von der konservativen Seite vollkommen überzogen, denn die V-Leute sind eine Einrichtung des verfassungsgemäßen Verfassungsschutzes, sie sind ein Instrument der streitbaren Demokratie. Es gibt überhaupt keinen Grund anzunehmen, dass Aussagen oder Erkenntnisse, die von V-Leuten gewonnen worden sind, nicht verwertet werden können. Und in dem Schriftsatz wird eindeutig klargestellt, dass es eben keine gesteuerten V-Leute gegeben hat, dass nicht etwa gar Beamte eingeschleust worden sind, sondern dass die V-Leute Personen waren, die eben auf zwei Schultern getragen haben und wenn man so will - manche sogar wirklich als Doppelagenten gewirkt haben und manche eben schlichte Verräter waren - aus Sicht der NPD betrachtet.

    Und deshalb gibt es überhaupt keinen Anlass hier, große Zweifel über die Wirksamkeit des Verfahrens zu haben oder gar den Rückzug oder das Neuschreiben zu fordern oder, was noch das Allerhöchste ist, dass der Kollege Bosbach von der CDU herkommt und sagt, man müsse alle V-Leute dem Innenausschuss benennen. Also, da kann ich nur fast aus dem Fenster springen. Das würde ja für diejenigen, die davon betroffen wären, äußerste Lebensgefahr bedeuten.

    Remme: Herr Stiegler, lassen Sie Herrn van Essen noch zu Wort kommen. Herr van Essen, nachdem nun diese Anträge gestellt worden sind, nachdem das nun einmal passiert ist: Ist das, was heute mit der Stellungnahme geschieht, die richtige Reparatur?

    van Essen: Natürlich ist es nicht die richtige Reparatur, und die vielen Worte von Herrn Stiegler machen ja auch deutlich, dass es keine Mäkeleien sind. Es haben im übrigen nicht nur Politiker von CDU/CSU und FDP Kritik geübt, sondern auch die ehemaligen Bundesverfassungsgerichtspräsidenten Benda und Herzog ...

    Stiegler: ... aber in ein einem völlig anderen Zusammenhang ...

    van Essen: ... Herr Stiegler, Sie lassen mich jetzt bitte auch ausreden, ich habe Sie auch ausreden lassen und habe mir Ihre unerträglichen Worte ja auch angehört. Sie haben Kritikpunkte vorgetragen, und zwar berechtigte Kritikpunkte. Übrigens sind ja Benda und Herzog auch Christdemokraten und werden damit von Herrn Stiegler ebenfalls in die Nähe des Nationalsozialismus gerückt, unerträglich, ich muss sagen - unerträglich, dass Herr Stiegler das jetzt noch einmal wieder tut. Und deswegen wiederhole ich noch einmal unsere Kritikpunkte. Zunächst einmal: Herr Stiegler übersieht völlig, dass wir eine unterschiedliche Situation haben zu den Zeiten, in denen der Nationalsozialismus entstanden ist. Wir hatten eine schwache Demokratie in der Weimarer Zeit, wir haben jetzt erfreulicherweise eine starke Demokratie, zu der auch Christdemokraten und Liberale beigetragen haben. Und das möchte ich noch einmal nachträglich unterstreichen. Und von daher können wir heute Dinge anders beurteilen als wir sie 1933 beurteilen mussten.

    Remme: Ein Streitgespräch zwischen Jörg van Essen, FDP und Ludwig Stiegler, SPD.

    Link: Interview als RealAudio