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Streit zwischen Israel und Polen
"Hier werden Identitätsfragen verhandelt"

Mit dem Streit um die Rolle Polens im Holocaust sei Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu seine Bindung an die Visegrad-Staaten auf die Füße gefallen, sagte der Historiker Dan Diner im Dlf. Der "geschichtspolitische Rechtsruck" Polens sei in Israel nicht vertretbar.

Dan Diner im Gespräch mit Marina Schweizer | 18.02.2019
    Der Geschichtsprofessor und Autor Dan Diner auf der Internationalen Frankfurter Buchmesse 2005.
    Der Geschichtsprofessor und Autor Dan Diner (picture-alliance / dpa / dpaweb / Frank May)
    Die polnische Regierung hat ihre Teilnahme am Visegrad-Gipfel in Jerusalem abgesagt. Hintergrund ist der Streit zwischen Polen und Israel darüber, ob polnische Bürger mit den NS-Besatzern während des Zweiten Weltkriegs kollaboriert haben. Entsprechend hatte sich der israelische Außenminister geäußert.
    Israel habe sich mit seinem "Anti-Brüssel-Kurs" stark auf Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei gestützt, die eine Art "innere Opposition in der EU" seien, erklärte der Historiker Dan Diner. Damit habe er sich dem geschichtspolitischen Diskurs Polens anschließen müssen - das sei in Israel aber nicht vertretbar. Damit würde die jüdische Erinnerung an den Holocaust verraten. Polens rechtsnationale Regierung betreibe eine Geschichtspolitik, mit der sie versuche, Polen nationaler zu definieren, so Diner. "Es ist eine Nachjustierung des Zweiten Weltkrieges beziehungsweise des Verhältnisses zwischen Polen und Juden."

    Lesen Sie hier das vollständige Interview:
    Marina Schweizer: Der Streit zwischen Israel und Polen flammt wieder auf. Über die Hintergründe konnte ich vor der Sendung mit dem Historiker Dan Diner sprechen, der viele Jahre das Institut für Jüdische Kultur und Geschichte an der Uni Leipzig leitete. Das Aufflammen des Streits zwischen Israel und Polen, warum würden Sie sagen eskaliert das jetzt verbal erneut in diesen harschen Tönen?
    Dan Diner: Na ja. Ich denke, dass es im Wesentlichen damit was zu tun hat, dass Polen - nennen wir es mal so - eine recht nationale oder zumindest eine nationale Regierung hat, die im Wesentlichen auch so etwas wie eine Geschichtspolitik betreibt, Polen stärker, ja, einerseits, man könnte sagen, nationaler zu definieren, nationaler zu verstehen, also schon so etwas wie ein nationales Profil im Unterschied zu den Regierungen, die wir zuvor kannten.
    Auch innerhalb der gegenwärtigen Regierung kann man so etwas feststellen wie einen geschichtspolitischen Rechtsruck, der jetzt mit diesem Gesetz, das vor einem Jahr verabschiedet worden war, dass man die Lager in Polen natürlich als deutsche Lager zu bezeichnen hat und nicht als polnische, was ja völlig richtig ist, aber gleichzeitig doch so etwas wie eine Nachjustierung der Geschichte des Zweiten Weltkrieges beziehungsweise des Verhältnisses zwischen Polen und Juden versucht - einerseits.
    Andererseits: Die israelische Regierung, die sich ja jetzt im Wahlkampfmodus befindet - sie haben am 9. April Wahlen -, aber schon über ein Jahr hat die Regierung Netanjahu versucht, sich stärker an diese Visegrad-Staaten anzulehnen. Man darf nicht vergessen, dass Israel historisch gesehen auch so ein Stück herausgerissenes Mitteleuropa ist. Viele Juden und vor allem diejenigen, die der Gründungsgeneration angehörten, viele Holocaust-Überlebende stammen ja aus Polen, stammen aus Ungarn, stammen aus Rumänien - ist zwar kein Visegrad-Staat, aber doch ein ostmitteleuropäisches Gemeinwesen. Die vormalige Tschechoslowakei, jetzt Tschechische Republik, und die Slowakei, das sind Staaten, aus denen ein Großteil der doch prägenden jüdischen Bevölkerung Israels hervorgegangen ist, und dass man hier natürlich auch eine gemeinsame und nicht immer harmonische Geschichte hat.
    Jetzt brandet das wieder an, wie überhaupt die Geschichte der Zwischenkriegszeit zwischen 1919 und 1939 uns immer näher auf den Leib rückt. Auch das hat etwas damit zu tun. Wir sehen ja, dass vieles zusammenbricht, was wir in den letzten 50 bis 70 Jahren gekannt haben.
    "Netanjahus Anti-Brüssel-Kurs ist ihm auf die Fuße gefallen"
    Schweizer: Herr Diner, lassen Sie mich da ganz kurz einhaken. Wir können ja gleich noch die Einzelheiten in der Geschichte genauer betrachten. Nun ist es ja so: Man hatte sich ja im Ton wieder gemäßigt angenähert, nachdem es um dieses Gesetz erstmals ging. Innenpolitisch würden Sie sagen, für beide Seiten aber zu opportun, derzeit Härte zu zeigen?
    Diner: Ich denke, ja. Ich denke, dass es schon etwas damit zu tun hat. Nun stehen in Polen keine Wahlen an, aber noch mal: Das geschichtspolitische Motiv der Regierung ist offenkundig, dies stark zu machen. Jetzt muss man nicht davon ausgehen, dass in Israel unbedingt damit jetzt Stimmen zu gewinnen sind. Was eigentlich passiert ist, dass Netanjahu, der Ministerpräsident sich sehr stark in seinem, man könnte sagen, Anti-Brüssel-Kurs, antieuropäischen Kurs auf diese Visegrad-Staaten auch gestützt hat, die eine gewisse Distanz ja zu Brüssel halten, und das, was man im Englischen Backfight nennt, das ist ihm irgendwie auf die Füße gefallen, denn er musste sich dann wiederum diesem geschichtspolitischen Diskurs anschließen, und plötzlich stellte er fest, dass dieser geschichtspolitische Diskurs so in Israel nicht vertretbar ist, dass er damit - ich sage das mal ganz ungeschützt und zugespitzt -, wenn man so will, die jüdische Erinnerung an den Holocaust verrät.
    Und dieser Widerspruch ist nun in den letzten Tagen noch mal aufgebrochen, indem Netanjahu beides gesagt hat. Er sagte einerseits, dass Polen oder Polen und nicht die Polen, aber doch Polen mit am Holocaust beteiligt waren, und gleichzeitig das Gegenteil, indem er Polen als Gemeinwesen und als Kollektiv wiederum davon freisprach. Dieses Dilemma ist jetzt politisch relevant geworden.
    Israels Premierminister Netanjahu vor der Kabinettssitzung. 
    Israels Premierminister Netanjahu (dpa/ Pool Reuters / Ronen Zvulun)
    Schweizer: Würden Sie sagen, da geht es für beide gerade um so eine Art Identitätsfrage für ihren Staat?
    Diner: Unbedingt! Unbedingt! Es werden hier letztendlich Identitätsfragen verhandelt, gar keine Frage.
    "Polen war ein multiethnisches Gemeinwesen"
    Schweizer: Sie sagten, die PiS-Partei bedient mit ihrem Gesetz, aber möglicherweise auch mit Stimmung gegen Ausländer, restriktiver Migrationspolitik etwas ganz Altgewachsenes?
    Diner: Unbedingt! Altgewachsen insofern: Wenn man sich die 30er-Jahre anschaut, dann war, wenn man über Antisemitismus gesprochen hat, die 20er-Jahre, 30er-Jahre, eben jene Zwischenkriegszeit, von der bereits die Rede war, das Verhältnis zwischen den ethnischen Polen, wie man das damals nannte, und der jüdischen Bevölkerung - wir dürfen nicht vergessen: Polen war ja ein multiethnisches Gemeinwesen. Zehn Prozent seiner gesamten Bevölkerung oder ein Drittel seiner Bevölkerung waren ja nicht ethnische Polen gewesen, Juden und Deutsche und Ukrainer und Litauer, und Polen ist ja erst nach seinem ethnisch-homogenen Gemeinwesen nach 1945 oder 1947 geworden.
    Die Juden waren vernichtet, durch die Deutschen natürlich, nicht durch die Polen. Die Deutschen waren vertrieben, die Ukrainer blieben durch die Westverschiebung weit im Osten, jenseits der Grenze. Polen war unter kommunistischer Herrschaft eine wahre Volksdemokratie im Sinne eines homogenen ethnischen Gemeinwesens geworden. Das ist jetzt im Kontext der Globalisierung, der Flüchtlingsbewegung etc. noch mal aufgeworfen worden, dass die Polen sich fragen, wer sie sind, und die Regierung verstärkt jene nationale ethnische Seite und das trifft natürlich mit dem jüdischen Erleben, mit der jüdischen Erfahrung der Zwischenkriegszeit zusammen und natürlich auch während des Krieges selbst.
    Schweizer: Ist dann nach Ihrem Dafürhalten in diesem aktuellen aufkommenden auch Rechtsruck, den wir in Osteuropa teilweise sehen, eine Debatte über eine Mittäterschaft überhaupt nicht möglich?
    Diner: Na ja, sie wird abgewehrt, obwohl Historiker, die Fachhistoriker sie nachweisen. Es ist davon die Rede, dass ungefähr 200.000 von ihren polnischen Mitbürgern direkt oder indirekt den Deutschen ausgeliefert wurden, was natürlich nicht heißt, dass die Vernichtungslager in Polen polnische Vernichtungslager waren - weit gefehlt und gerade das Gegenteil. Die Polen lebten ja in einem hohen Maße unter der Nazi-Besatzung und Millionen Polen sind dabei umgekommen, umgebracht worden. Es ist schon ein Problem auch der Hierarchisierung unterhalb oder zwischen den Opfern selbst. Die Juden empfanden sich in Polen von ihren polnischen Mitbürgern gleichsam ausgeliefert, schon allein durch eine gewisse Form der Neutralität, abgesehen jetzt von einzelnen, die Juden auch verraten haben.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.