Dienstag, 19. März 2024

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Streitgespräch über Bildungsgerechtigkeit
Gezielte Förderung von Brennpunktschulen in NRW

Ziel des Schulversuchs “Talentschule“ ist mehr Chancengleichheit in der Bildung. Dafür werden in NRW zeitlich befristet 60 Brennpunktschulen mit Extrafördermitteln ausgestattet. Für Anne Deimel von der Lehrergewerkschaft VBE leistet das Modell zu wenig. Brigitte Balbach von „lehrer nrw“ sieht hingegen neue Perspektiven.

Anne Deimel und Brigitte Balbach im Gespräch mit Stephanie Gebert | 12.12.2018
    Schüler einer 3. Klasse melden sich im Unterricht Foto: Andreas Arnold/dpa | Verwendung weltweit
    Ausgewählte Brennpunktschulen werden in NRW zu "Talentschulen" (dpa)
    Stephanie Gebert: Schwierige Stadtviertel mit besonderen Herausforderungen – das sind die Standorte für bis zu 60 Schulen, die in Nordrhein-Westfalen zu Talentschulen werden sollen. Zu Leuchtturmprojekten. Sie bekommen mehr Lehrer, bessere Ausstattung und mindestens eine Stelle für Sozialarbeit. Das ist die Idee der liberalen Schulministerin von NRW, Yvonne Gebauer. Wer aber in den Genuss der Förderung kommen will, muss sich bewerben. Die erste Runde ist durch, und die Bewerbungen von fast 150 Brennpunktschulen liegen jetzt beim Ministerium auf dem Tisch. Trotzdem kommen der Wettbewerb und die Idee zu den Talentschulen nicht überall gut an. Der Verband für Bildung und Erziehung etwa lehnt sie ab – warum wird uns Anne Deimel, stellvertretende Vorsitzende beim VBE, gleich erklären. Rückenwind bekommt die Ministerin dagegen vom Verband "lehrer nrw". Dort sitzt Brigitte Balbach im Vorstand. Schönen guten Tag an Sie beide! Erst mal Frau Balbach: Ihr Verband sagt, Talentschulen würden neue Perspektiven eröffnen, welche sind das denn aus Ihrer Sicht?
    Brigitte Balbach: Seit Jahren warten wir darauf, dass man sich ausdrücklich und ausschließlich um Kinder kümmert, die aus schwierigen sozialen Verhältnissen gekommen, die in solchen Gebieten wohnen oder eben bildungsferne Eltern besitzen, und das ist eine schwierige Situation, wo noch nie der Fokus drauf gelegt wurde. Und wir wünschen und erhoffen uns jetzt von diesem Modellversuch, dass das geändert wird und dass wir endlich nicht so eine Gießkannenprinzip in Nordrhein-Westfalen bekommen, sondern der Fokus wirklich auf die Menschen gelegt wird, um die es geht.
    Zweistufiges Bewerbungsverfahren für Talentschulen-Förderung
    Gebert: Frau Deimel, dass die NRW-Regierung jetzt besonders Brennpunktschulen in den Fokus nimmt, müsste ja auch in Ihrem Interesse sein, aber Sie stört, dass längst nicht alle in den Genuss kommen werden, richtig?
    Anne Deimel: Das ist so. Also wir sagen ganz deutlich, dass wir natürlich den guten Willen spüren, da soziale Nachteile zu überwinden und mehr Chancengerechtigkeit herbeizuführen, aber es gibt einfach in NRW sehr viel mehr Schulen im sozialen Brennpunkt als an die 60, die nach dem zweiten Bewerbungsverfahren als Talentschulen arbeiten können. Und was für uns einfach der entscheidende Punkt ist, dass wir sagen, dass es doch nicht angehen kann, dass man Schulen für Arbeits- und Lernbedingungen in einen Wettbewerb schickt für ausreichend Unterstützung und Ressourcen, die sie schlichtweg benötigen und die ihnen einfach zustehen.
    Gebert: Frau Balbach, was sagen Sie den Eltern und Schülern von den Schulen, die jetzt eben nicht als Talentschulen benannt werden, also leer ausgehen werden?
    Balbach: Ja, die werden ja erst mal leer ausgehen, das heißt aber nicht, dass es kommt. Ich halte das deshalb für einen guten Modellversuch, erst mal klein anzufangen, um abzutesten, was geht und was nicht, um abzutesten, wie viele Ressourcen tatsächlich benötigt werden und auch aus wissenschaftlicher Sicht, um zu gucken, welche Pädagogik ist die Pädagogik, die dort noch fehlt, wo müssen wir nachbessern. Und wenn das peu à peu mit immer mehr Talentschulen gelingt, dann kann man natürlich auch in eine größere Fläche gehen. Aber da braucht es Zeit für und ein Händchen für, und wir müssen die Wissenschaft mit einbinden. Das war immer ein Anliegen, dass Pädagogik und Wissenschaft ein größeres Potenzial dort einnehmen, und das verspreche ich mir von diesem Modellversuch.
    Vorreiterschulen gab es schon immer
    Gebert: Frau Deimel, das klingt doch wie eine klare Strategie, statt allen ein bisschen zu geben, werden erst mal einige ausgesucht, und dann wird evaluiert, was sich da lohnt, um es dann auch den anderen Schulen zugutekommen zu lassen.
    Deimel: Von diesem Prinzip sind wir gar nicht so weit weg. Was wir als VEB nur sagen, ist, dass die Daten zu den Schulen ja einfach vorliegen. Es gibt verschiedenste Sachen: Sozialindex, Ergebnisse-Vergleichsarbeiten, die Stellenbesetzung, ich könnte das ewig fortführen. Und wir sagen einfach, dann kann aber auch die Politik bestimmen, welche Schulen einfach beginnen. Das hat aus unserer Sicht nichts mit Gießkannenprinzip zu tun, das ist immer so gewesen, dass es in bestimmten Bereichen Vorreiterschulen gab und dass man da genau guckt, wie arbeitet man, was braucht man für Ressourcen. Aber die Kollegen, die jetzt schon täglich diese großen Herausforderungen vor Ort stemmen, hoch motiviert ihre wertvolle Arbeit leisten, die dann noch aufzufordern, in einen Wettbewerb zu gehen und sich mit Konzeptunterlagen zu bewerben, damit sie die entsprechenden Rahmenbedingungen kriegen, das halten wir für schwierig. Und das möchte ich auch noch gerne ansprechen: Wir haben auch Probleme mit dem Begriff Talentschulen. Wir haben in Nordrhein-Westfalen, wenn man nur den Sek.-1-Bereich bis zum Berufskolleg dieser Schulen nimmt, die sich da jetzt bewerben dürfen, sind das ja gut 2.700 Schulen. Dann kommen noch die aus dem sozialen Brennpunkt, die man jetzt herausfischen muss, aber an allen Schulen gibt es ganz viele Kinder mit ganz vielen Talenten. Und deshalb sagt der VEB, für uns sind alle Schulen Talentschulen, und alle Schulen brauchen ausreichend Rahmenbedingungen.
    Schulklassen einzeln in den Fokus nehmen
    Gebert: Frau Balbach, was sagen Sie dazu, müssen einzelne Talente rausgepickt werden, oder gibt es tatsächlich viel mehr, und eine Bildungsgerechtigkeit kann nur hergestellt werden, wenn alle was vom Kuchen bekommen?
    Balbach: Ich glaube, wenn man den einzelnen Schüler nicht in den Blick bekommt, wenn kein System vorhanden ist, das tatsächlich das Hingucken erlaubt, so wie es bei diesen Schulen jetzt der Fall ist, da wird es auch keine Bildungsgerechtigkeit geben. Ich will das noch von unten aufbrechen statt von oben, also nicht systemisch gucken, sondern in die Klasse gucken. Ich hatte immer Klassen in der Realschule im Bochumer Norden, wo ganz viele Schüler aus schwierigen Verhältnissen kamen. Die sind geschlagen worden, die sind angenommene Kinder gewesen, wurden zeitweise abgegeben und Ähnliches. Und ich habe immer wieder erkannt, wenn man sich die Zeit nehmen kann, wenn man eine pädagogische Hilfe sich an die Seite holt, dann kann man diese Schüler wirklich zu erstaunlichen Ergebnissen führen.
    Gebert: Frau Deimel, wenn ich Sie richtig verstanden habe, geht es aber genau darum, dass das jetzt aber nur wenigen Schülern zugutekommen wird und längst nicht alle profitieren werden von diesem Label Talentschulen.
    Deimel: Ein bisschen geht es uns auch darum, man muss ja sehen, das sind dann hinterher 60 Schulen, es soll eine langjährige Evaluation stattfinden, und wir sind in Nordrhein-Westfalen zurzeit in einer Notsituation in den Schulen, wo wir einfach sagen, wir können uns das gar nicht leisten, so lange zu warten, um die Schulen so auszustatten, dass sie ihre Arbeit vor Ort machen können. Ich kann da Frau Balbach schon gut verstehen, genau das ist die Aufgabe in den Schulen, das ist die Aufgabe von Lehrkräften und das ist die Aufgabe im Unterricht, jedes Kind einzeln in den Blick zu nehmen. Nur wir haben einfach im Moment das Problem, es fehlen an allen Orten Lehrkräfte, es fehlen die Mitarbeiter in den multiprofessionellen Teams, und das sind viele Dinge, die die Arbeit vor Ort schon erleichtern würden. Ich möchte auch gerne dann diesen Begriff der Bildungsgerechtigkeit noch mal aufgreifen: Wenn man diesen Begriff nimmt, dann bedeutet das für uns eben auch, dass man das ganze Schulsystem in den Blick nehmen muss – von der Kita bis zum Berufskolleg. Und da muss man schon mal fragen, das sind ja gut 2.800 Grundschulen, die wir in NRW haben, die haben noch nicht mal die Chance, sich zu bewerben, die sind vollkommen ausgenommen. Wenn die Kinder in den Grundschulen – und da sind eben auch die Kinder aus schwierigen sozialen Verhältnissen und mit ihren ganzen Problemen –, wenn für die die Zeit und Ressource nicht da ist, dann verlagert sich das ja noch mehr in die Sek. 1 und Sek. 2.
    Erlaubnis von der NRW-Landesregierung neue Wege zu gehen
    Gebert: Frau Balbach, können Sie diese Problematik, die Frau Deimel da schildert, durchaus verstehen und nachvollziehen, oder sagen Sie, es ist wichtig, dass wir erst mal irgendwo anfangen?
    Balbach: Also nachvollziehen kann ich es nicht so, weil das eine – da können wir gerne auch drüber sprechen in unserem Gespräch – ist das, was alle Schulen betrifft, und das andere ist, ob eine Landesregierung und ein Schulministerium sich erlauben, neue Wege zu gehen. Neue Wege kann man nicht mit allen Schulen gehen, sondern man muss auch etwas ausprobieren. Und wenn man nicht bereit ist, etwas auszuprobieren, wird man auch nichts Neues erwirken können. Das heißt also, auch eine wissenschaftliche Begleitung – ich möchte das noch mal ein bisschen betonen, weil mir das sehr wichtig ist –, und es ist mir wichtig, auch eine pädagogische Begleitung zu bekommen. Ich habe die Anregung gemacht, dass wir Professoren zum Beispiel ansprechen, die die Resonanzpädagogik zu ihrem Thema gemacht haben, das heißt, darauf zu schauen, wie gehe ich mit Schülern um, wie erreiche ich den jungen Menschen, dass er mir zuhört und dass er eine Beziehung zu mir entwickelt. Wir reden jetzt gerade nicht über Entlastung von Lehrern und über Lehrermangel und andere Themen. Wir reden wirklich darüber, macht das Sinn, und "lehrer nrw" sagt, das macht Sinn, Talentschulen zu erstellen.
    Gebert: Frau Balbach, was macht Sie denn so optimistisch – 400 neue Lehrerstellen sollen da zusätzlich besetzt werden an diesen Talentschulen –, was macht Sie so zuversichtlich, dass auf dem doch sehr leergefischten Lehrermarkt tatsächlich genug Lehrer für NRW auch gefunden werden?
    Balbach: Also da vertraue ich auch so ein bisschen aufs Haus, muss ich sagen. Da wird geguckt, wie wird es verschoben, wie geht es. Die wollen ja selbst, dass das ein Erfolg wird, wenn sie etwas auflegen. Allerdings müssen wir auch alle mit anpacken, also auch die Lehrkräfte. Das wird nicht anders gehen. Und ich halte das für lohnenswert, es zu begleiten und zu gucken, ob man da die eine oder andere Note noch setzen kann, die man selbst dazu beitragen kann, auch von Lehrerseite.
    Evaluation durch Wissenschaft nötig
    Gebert: Frau Deimel, Sie sind ja eher skeptisch, was diese Talentschulen angeht. Zum Schluss noch mal an Sie die Frage: Würden Sie Schulleiterinnen und Schulleiter dazu animieren, sich dort zu beteiligen und zu bewerben, oder sagen Sie, das ist eh nicht gerecht, davon sollten wir die Finger lassen.
    Deimel: Das muss ich jetzt mal unterteilen: Einmal, Frau Balbach hat gesagt, das kann sie nicht nachvollziehen. Vielleicht sind wir da gar nicht so weit oder auseinander, nur der Weg ist ein anderer, weil wissenschaftliche Begleitung, pädagogische Begleitung, das sind Dinge, da sind wir völlig d’accord. Auf der anderen Seite, ich bin auch Schulleiterin. Wenn diese Dinge da sind und man hat Möglichkeiten, auch ich würde mich bewerben, und ich würde niemandem sagen, er soll sich nicht bewerben, das ist ungerecht. Unsere Aufforderung ist nur ganz deutlich: Es muss dann eben auch zügig gehen mit der Evaluation durch Wissenschaft, durch Pädagogen, sodass einfach möglichst viele Schulen davon profitieren.
    Gebert: Noch läuft die Bewerbungsphase für den Schulversuch Talentschulen in NRW, das Für und Wider dieses Wettbewerbs um mehr Ressourcen haben diskutiert Anne Deimel vom VEB und Brigitte Balbach vom Verband lehrer nrw. Danke schön dafür!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.