Gehm: Ein Hauch von Abschiedsstimmung im Deutschen Bundestag; die letzte stürmische ordentliche Sitzungswoche dieser 14. Legislaturperiode liegt hinter uns. Und blickt man zurück, Herr Dr. Struck, sehen wir ein Parlament, das in vier Jahren mehr als 500 Gesetze verabschiedet hat, darunter eine ganze Reihe großkalibriger Entscheidungen. Trägheit kann man Rot-Grün also nicht nachsagen.
Struck: Nein, absolut nicht. Wenn man zurückblickt auf die Zeit seit September 1998, haben wir wichtige Weichenstellungen vorgenommen. Wir haben, wie wir das nennen, den Reformstau in Deutschland aufgelöst. Wir haben zum Beispiel auch solche grundlegenden Entscheidungen getroffen, wie Ausstieg aus der Kernenergie – also Entscheidungen, die sich für die nächsten Generationen auswirken werden, positiv auswirken werden. Wir haben allerdings dann auch Entscheidungen zu treffen gehabt im außenpolitischen Bereich, von denen niemand aus der Koalition überhaupt je erwartet hätte, dass wir sie treffen müssten.
Gehm: Es hat also viel politische Bewegung gegeben in beiden Koalitionsparteien. Welche politische Schlagzeile würden Sie denn über diese zu Ende gehende Legislaturperiode setzen?
Struck: Gute Arbeit geleistet, es ist aber noch einiges zu tun, insbesondere im Bereich der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik. Und wir haben nach wie vor mit internationalen Entscheidungen zu rechnen, die auch die neue Koalition, also Rot-Grün, nach der Bundestagswahl sicherlich wieder sehr intensiv beschäftigen wird.
Gehm: "Wir müssen weitermachen" sagt die Koalition. Verständlich. Und verständlich auch, dass die Opposition ganz andere Schlagzeilen hat. Sie geißelt die "Politik der ruhigen Hand" oder den Reformstau.
Struck: Die Politik der ruhigen Hand ist entstanden, nachdem Opposition und Arbeitgeberverbände gegen Ende des letzten Jahres hektisch Konjunkturprogramme und Schnellschüsse – Vorziehen von Steuerreformmaßnahmen, Investitionsprogramme und dergleichen – gefordert haben. Der Bundeskanzler hat völlig zu recht gesagt, dass man der Weltwirtschaftskrise nicht durch Schnellschüsse gerecht wird. Da ist er auch unterstützt worden von allen Sachverständigen, die sich mit dieser Frage beschäftigt haben. Es war ja auch nicht so, dass wir nichts getan haben, wir haben eine Menge getan. Dass die Opposition das nicht begrüßte, das ist ihre Aufgabe, das zu geißeln. Aber ich bin schon stolz auf die Bilanz der letzten Zeit.
Gehm: Im Wahlkampf macht sich natürlich eine Reformeuphorie bei der Opposition breit. Ist das wahlkampfbedingt, oder ist nicht ein Tick Berechtigung dabei?
Struck: Es ist nur wahlkampfbedingt. Die Alternativen der Opposition – wenn man sich die Programme von CDU/CSU oder auch von der FDP ansieht, sind keine Alternativen, weil sie unrealistisch sind, weil sie nicht finanzierbar sind. Dass die Opposition gegen die handelnde Koalition natürlich versucht, Akzente zu setzen, ist normal. Allerdings muss das realistisch sein. Die Opposition ist auch nach meiner Einschätzung von einer euphorischen Phase schon längst wieder auf den Boden der Realität zurückgekehrt. Ich begrüße sehr die Äußerung von Lothar Späth, der ja der "Wundermann" von Herrn Stoiber ist, der aber alles das, was im Wahlprogramm der Union steht, als "Weihnachtsgeschenke, die nicht realisierbar sind" bezeichnet hat. Insofern wird die Opposition auch bis zum 22. September hin auch noch auf die Festigkeit und die Wirksamkeit ihres Programms untersucht werden. Und das wird dann alles zu dem Ergebnis führen: Das, was die Union und auch die FDP wollen, geht nicht.
Gehm: Der parlamentarische Kehraus in dieser Legislaturperiode ist ja fast bewältigt, kann man sagen. Im September, also vor den Wahlen, wird es noch eine Haushaltsberatung geben. Und ein anderes Thema, die Verlängerung des Bosnien-Mandats, wird den Bundestag in diesem Monat noch beschäftigen müssen. Das hieße: Sondersitzung.
Struck: Ja, wir wollen auf jeden Fall am 12. und 13. September die erste Lesung des Bundeshaushaltes 2003 durchführen. Wir wollen dann wenigstens an diesem Tag Herrn Stoiber im Duell im Parlament mit Herrn Schröder sehen. Herr Stoiber hat ja sich versteckt; er ist feige den Auseinandersetzungen ausgewichen, hat statt dessen lieber in einem Hotel räsoniert und dann am Ende sogar noch den Bundestag für "wenig bedeutungsvoll" erklärt. Die Haushaltsentscheidungen fallen natürlich erst im Jahre 2003. Wir haben dafür einen guten Vorschlagsentwurf jetzt vorgelegt. Was die Verlängerung des Mandates für die Soldaten, aber auch für die Polizeibeamten in Bosnien-Herzegowina angeht, hoffen wir, dass es noch einen Sicherheitsratsbeschluss geben wird – mit Zustimmung der USA, der eine Entscheidung des Bundestags überflüssig machen würde. Das Mandat war nicht zeitlich begrenzt, sondern war geknüpft an eine Sicherheitsratsentscheidung. Ich glaube, dass wir ganz gute Chancen haben, um eine Sondersitzung nicht durchführen zu müssen, weil auch die Amerikaner wieder einlenken werden.
Gehm: Also die Hoffnung auf ein Einlenken der USA und damit Verzicht auf das Zusteuern auf ein transatlantisches Drama?
Struck: Die Haltung der Amerikaner ist mir nicht verständlich. Wenn es darum geht, dass die US-Regierung will, dass ihre Soldaten nicht dem Internationalen Gerichtshof unterstellt werden, so kann ich das verstehen. Ich sehe allerdings auch überhaupt nicht das Problem, das die amerikanische Regierung jetzt darstellt, denn ein Soldat, der gegen Menschenrechte verstößt oder auch gegen seine Dienstpflichten verstößt im Ausland beim Auslandseinsatz, unterliegt ohnehin der Militärgerichtsbarkeit der Vereinigten Staaten von Amerika. Hier gibt es ein Machtspiel. Die USA wollen klarmachen, dass sie sich außerhalb der Regeln - auch des Internationalen Gerichtshofs - stellen wollen, und das kann man nicht akzeptieren.
Gehm: Das heißt, der Graben könnte tiefer werden?
Struck: Ich hoffe nicht. Ich denke, wir haben noch zwölf Tage Zeit. Die Bundesregierung, vertreten durch den Bundesaußenminister Joschka Fischer, vor allen Dingen in enger Zusammenarbeit mit seinem französischen Amtskollegen, versucht schon wieder, die USA zur Vernunft zurückkehren zu lassen
Gehm: Die wohlverdiente Sommerpause, Herr Struck, ist Fehlanzeige in diesem Jahr. Es beginnt die heiße Wahlkampfphase.
Struck: Das bedeutet eben schon, dass man gerade in dieser heißen Phase die Menschen auch darauf aufmerksam macht, dass es eine Bundestagswahl gibt, denn diese Wahlkampfveranstaltungen haben ja verschiedene Motive. Ein Motiv ist, die eigenen Anhänger besonders zu mobilisieren. Das Hauptmotiv ist aber, in der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner den Bürgerinnen und Bürgern klarzumachen, dass es um etwas geht bei der Bundestagswahl am 22. September – und: "geht hin".
Gehm: Und es geht um sehr viel in diesem Wahlkampf. Es geht eigentlich um alles – Thema Machtwechsel. Sehen Sie Anzeichen für Garstigkeiten, oder hoffen Sie, dass die Schmutzkübel außen vor bleiben?
Struck: Ich kann nicht ausschließen, dass es doch, je enger es wird – und die SPD holt ja deutlich auf gegenüber der Union – auch zu nervöseren und vielleicht auch zu Wahlkampfmaßnahmen kommt, die man dann auch unterhalb der Gürtellinie vielleicht ansiedeln muss. Ich hoffe, dass es nicht so kommt. Es geht immer nur um die Inhalte, und es geht um die Personen. Es geht letztlich um die Frage: Soll Gerhard Schröder Kanzler bleiben oder nicht. Und da mache ich mir politisch keine Sorgen. Aber wenn ich höre, dass das Thema Zuwanderung eine Rolle spielen soll in dem Wahlkampf, dann kann ich nur an die Union appellieren, nicht mit der Lüge zu arbeiten, wir wollten durch dieses neue Gesetz Millionen von Arbeitslosen nach Deutschland reinlassen. Das Gegenteil ist der Fall.
Gehm: Seit dem Tief der Sachsen-Anhalt-Wahl – die SPD lag damals bundesweit bei 31 Prozent – ist ja Boden gutgemacht worden. Der Abstand zur Union ist halbiert worden, kann man sagen. Allerdings – einige%e liegen noch vor Ihnen, und die SPD träumt in diesem Sommer vom "letzten Wupp", der gelingen möge.
Struck: Es wird vor allen Dingen auf die Mobilisierung der Anhängerschaft der SPD ankommen. Es war klar, dass nicht alles, was sich unsere Wählerinnen und Wähler im Jahr 1998 erhofft haben, erfüllt werden konnte – insbesondere auch wegen der schwierigen außenpolitischen Situation, die wir zu bewältigen hatten und wegen der Folgen der Weltwirtschaftskrise. Wir werden vor allen Dingen mit der sozialen Gerechtigkeit, die nach wie vor das Markenzeichen der SPD ist, aber auch mit der Öffnung hin für Innovationen, wie wir das in manchen Bereichen schon bewiesen haben, unsere Stammwähler und unsere Anhänger mobilisieren. Dann kommt es noch darauf an, dass man die berühmte Mitte bei uns hält, wo sie bei der letzten Bundestagswahl war. Und dann, denke ich, haben wir gute Chancen, stärkste Fraktion im Deutschen Bundestag zu bleiben.
Gehm: Erstaunlich ist eines in dieser Wahlkampfzeit: Die Umfragen für Ihre Partei sind nicht gerade berauschend, aber es gibt keine innerparteilichen Auseinandersetzungen. Die SPD gibt sich gelassen, ist ruhig. Ist das Friedhofsruhe – oder die Knute des Herrn, oder ist das Zuversicht?
Struck: Weder Friedhofsruhe noch die Knute, sondern es ist das Bewusstsein, dass wir, wenn wir unser Wahlziel erreichen wollen, ein Zeichen der Geschlossenheit und des Bündnisses untereinander, aber auch mit dem Bundeskanzler und dem Parteivorsitzenden geben müssen. Die SPD war immer eine diskussionsfreudige Partei, aber völlig klar ist, dass wir gerade in bezug auf die Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner deutlich machen müssen, dass wir in den entscheidenden wichtigen Fragen geschlossen sind. Und es gibt auch eine Zuversicht, das merke ich bei vielen Veranstaltungen überall in Deutschland, dass die Delle, die wir nach Sachsen-Anhalt zweifellos hatten, dass diese Delle jetzt überwunden ist und dass wir nach oben kommen.
Gehm: Kaninchen würden nicht aus dem Zylinder gezogen, hat Franz Müntefering vor einigen Wochen gesagt. Aber seit zwei Wochen hoppelt nun ein Wahlkampfkaninchen durch die Gegend und hört auf den Namen ""Hartz-Kommission". Und dieses Kaninchen verbreitet eine verführerische Botschaft: Halbierung der Arbeitslosenzahl innerhalb von drei Jahren. Und Friedrich Merz sagt, das sei ein großer Bluff. Was sagen Sie?
Struck: Ich sage, dass eine solche Bewertung, die Herr Merz hier vorgenommen hat, sehr ungerecht gegenüber den bisherigen Vorschlägen der Kommission ist, und dass wir, wenn wir die Vorschläge Mitte August auf dem Tisch haben, sehr viel damit anfangen können und sehr viel davon umsetzen können. Es ist nicht ohne Grund von Gerhard Schröder diese Kommission mit dem Arbeitsauftrag eingesetzt worden, bis Mitte August einen Vorschlag vorzulegen. Die bisher bekannt gewordenen einzelnen Detailvorschläge der Hartz-Kommission haben – mal abgesehen von der Union – eine positive Bewertung gefunden, sowohl von den Gewerkschaften als auch von der Arbeitgeberseite. Das, was wir jetzt in der zeitlichen Planung vorgesehen haben für die Hartz-Kommissions-Vorschläge, versetzt uns auch in die Lage, das, was nicht gesetzlicher Änderungen bedarf, auch noch vor der Bundestagswahl in Angriff zu nehmen und umzusetzen.
Gehm: Wie könnte denn ein Fahrplan bei der Umsetzung der zu erwartenden Ergebnisse der Hartz-Kommission aussehen, denn die Mehrheit der Wähler – so die aktuellen Umfragen – plädiert ja für schnelles Handeln?
Struck: Wir brauchen auch schnelles Handeln. Die Krise der Bundesanstalt für Arbeit, die ja letztlich dann mit einem Rücktritt des Präsidenten Bernhard Jagoda endete, war auch eine große Chance, die die Bundesregierung dann auch entsprechend genutzt hat. Man wird das Ziel, dass mehr Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Arbeitsverwaltung sich wirklich dem Hauptgebiet, nämlich der Vermittlung von Arbeitslosen in den ersten Arbeitsmarkt, zu widmen haben, erreichen können, ohne dass man große gesetzliche Änderungen macht. Da geht es um Umorganisation und Umstrukturierung der Bundesanstalt für Arbeit. Das, was die Kommission dann auch vorschlagen wird vermutlich, nämlich eine neue Definition, was einem Arbeitslosen zumutbar ist, um eine Arbeitsstelle annehmen zu müssen oder zu können, das wird gesetzlicher Änderungen bedürfen. Aber wir sind fest entschlossen, das, was nicht über Gesetz zu ändern ist, sondern schon so durch Verwaltungsanordnungen – durch Verordnung –, noch vor dem 22. September zu machen.
Gehm: Ein Knackpunkt für die Gewerkschaften, das ist am Freitag nach dem Gespräch mit dem Bundeskanzler noch einmal deutlich geworden, heißt: Keine Leistungseinschnitte für Arbeitslose. Der BDI dagegen plädiert für Leistungseinschnitte. Was heißt denn das für eine Umsetzung?
Struck: Es geht ja um die Frage: Wie wird das Arbeitslosengeld berechnet, wie wird das Arbeitslosengeld ausgezahlt? Da bin ich sehr dafür, dass der Vorschlag der Hartz-Kommission übernommen wird, um viele Verwaltungstätigkeiten zu vermeiden und in einer Verwaltungsentscheidung zu bündeln, dass man das Arbeitslosengeld pauschal auszahlt - in Form eines Abschlages vielleicht für die ersten drei Monate. Dass die Gewerkschaften mit Recht darauf hinweisen, dass man Arbeitslose jetzt nicht zu Verlierern dieser gesamten Operation machen darf, versteht sich von selbst. Ich hüte mich jetzt, in einzelnen Punkten schon ein kategorisches ‚Ja‘ oder ‚Nein‘ zu einem Vorschlag zu sagen, sondern ich warte das Gesamtkonzept ab. Da stimme ich dem Michael Sommer und dem Bundeskanzler zu, die ja am vergangenen Freitag eine in dieser Weise gleiche Position bezogen haben.
Gehm: In dem, was aus der Kommission herausdringt, liegt ziemlich viel Zündstoff noch – der Zug zur Frühverrentung für Erwerbslose über 55. "Nicht mit uns" sagen die Gewerkschaften. Der schnelle Übergang in die Sozialhilfe: "Nicht mit uns" sagt der Städtebund. Ist denn das Risiko nicht verdammt hoch, dass der heißersehnte Ruck außen vor bleibt und alles zerredet wird?
Struck: Das Risiko ist hoch, es kann allerdings minimiert werden, wenn alle Beteiligten – Gewerkschaften, Arbeitgeber, Bundesregierung, politische Parteien – sich davor hüten, bestimmte Teile jetzt von vornherein oder auch nach Vorlage des Berichtes für völlig falsch oder für völlig richtig bezeichnen und sagen: "Mit uns wird das nicht passieren" – oder "mit uns muss nur das passieren", Es geht wirklich um ein Gesamtkonzept. Und die Hartz-Kommission wird einen Vorschlag vorlegen, von dem die Kommissionsmitglieder glauben, dass er wirksame beschäftigungspolitische Maßnahmen mit sich bringen wird und auch Effekte haben wird. Trotzdem bleibt natürlich auch eines richtig: Man kann Arbeitslose nur in Stellen vermitteln, die auch da sind. Das heißt, wir brauchen nach wie vor – aber das werden wir ja dann auch entsprechend bekommen – ein ordentliches wirtschaftliches Wachstum. Das heißt, die konjunkturelle Entwicklung, die sich jetzt positiv abzeichnet, muss vertieft werden. Aber da sprechen alle Indikatoren dafür, dass wir im nächsten Jahr ordentliche Wachstumsraten haben werden – auch noch in der zweiten Hälfte dieses Jahres, so dass dann die neuen Beschäftigungsvorschläge der Kommission in Einklang mit wirtschaftlichem Wachstum tatsächlich sehr gute Effekte auf die Arbeitsmarktsituation haben werden.
Gehm: Strukturell gesehen jedenfalls: Die Arbeit der Hartz-Kommission dürfte einen Modernisierungsschub am Arbeitsmarkt bewirken?
Struck: Auf jeden Fall. Ich setze sehr großes Vertrauen in die Kommission, die von Peter Hartz geleitet wird. Und ich appelliere an alle, parteipolitische oder wahltaktische Überlegungen zurückzustellen und zu sagen: Lasst uns gemeinsam jetzt diese Vorschläge überprüfen auf ihre Wirksamkeit, und lasst uns gemeinsam die nötigen Konsequenzen ziehen!
Gehm: Ein ganz solides Nebenergebnis wäre natürlich: Die Hartz-Kommission könnte auch zum dringend notwendigen Turbo im SPD-Wahlkampf werden.
Struck: Ich sehe mit völliger Verwunderung und eigentlich mit Unverständnis die unterschiedlichen Stellungnahmen aus dem Bereich der Opposition: Die CDU/CSU ist völlig hilflos gegenüber den Vorschlägen der Hartz-Kommission. Wir haben erklärt, dass wir sehr intensiv diese Vorschläge prüfen und dann auch übernehmen werden. Die Union ist noch im Sprachenchaos. Deshalb ist völlig klar, dass das, was wir aus der Hartz-Kommission dann machen werden, natürlich einen sehr positiven Effekt auch für unseren politischen Weg haben wird.
Gehm: Die Hartz-Kommission bestimmt die Schlagzeilen derzeit, Herr Struck. Die Gesundheitspolitik scheint etwas in den Schatten geraten.
Struck: Das wäre falsch, wenn man den Menschen vor der Bundestagswahl nicht klar erklärt, wo denn die Unterschiede zwischen SPD und Opposition im Bereich der Gesundheitspoltiik sind. Wir wollen keine Zwei-Klassen-Medizin. Wenn die anderen dran kommen, wird es eine Zwei-Klassen-Medizin geben – mit der Folge, dass diejenigen, die reich sind, sich bestimmte ärztliche Leistungen oder Krankenkassenleistungen mehr leisten können als diejenigen, die arm sind. Deshalb ein klares Nein zur Zwei-Klassen-Medizin und auch eine harte Auseinandersetzung in dieser Frage.
Gehm: Was den politischen Weg angeht: Der SPD bleibt ein Risiko. Das heißt NRW, heißt Kölner Klüngel, heißt Korruption. Da hat nun der Staatsanwalt das Wort. Ist das Risiko hoch?
Struck: Ich bin sehr bestürzt über das, was sich in Köln abgespielt hat, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass Sozialdemokraten sich in diese Niederungen von möglicher Bestechlichkeit begeben könnten. Es gab eine große Empörung in der nordrhein-westfälischen SPD, dass einige wenige Sozialdemokraten die ganze Partei dort in Misskredit gebracht haben. Es sind die personellen Konsequenzen gezogen worden, auch rechtliche Konsequenzen gegen die verantwortlich Handelnden von Köln. Im Gegensatz zur CDU haben wir aufgeräumt. Wir haben Leute aus der Partei ausgeschlossen, wir gehen gegen sie zivilrechtlich vor. Ich glaube, dass diese Affäre jetzt überwunden ist. Meine Einschätzung ist, dass auch gerade die nordrhein-westfälische SPD kampfeslustig ist, um zu verhindern, dass Herr Stoiber Bundeskanzler wird.
Gehm: Andererseits, Herr Struck, spekulieren Sie natürlich auch auf ein Schwächeln der Union, obwohl – bislang hat der Kandidat Ihnen ja nicht den Gefallen getan, sich so rechts zu geben, wie Sie ihn gern hätten.
Struck: Der Kandidat hat sich versteckt. Er ist nicht greifbar. Er versteckt sich ja auch sogar vor dem Deutschen Bundestag, was ich also schon für einen unglaublichen Vorgang halte. Aber der Kandidat steht ja nicht alleine da. Es gibt ein Programm, und das Programm ist ja absolut unfinanzierbar. Es ist auch unsozial, und wir werden uns dann, wenn der Kandidat sich nicht zeigt, an dem Programm abarbeiten. Das betrifft dann auch die Frage, wie Herr Stoiber beispielsweise dann, wenn die Hartz-Kommission ihre Vorschläge vorgelegt hat, damit umgehen will. Will er Herrn Späth folgen, der die Vorschläge für vernünftig hält, oder will er einem Herrn Merz folgen, der sie für unvernünftig hält?
Gehm: Das hieße, die Leute überbewerten den Kandidaten Stoiber, nicht den Bundestag?
Struck: Ich glaube, dass Herr Stoiber in der Tat überbewertet wird. Wer also, wie er noch vor einigen Wochen mit dem Siegel "wirtschaftliche Kompetenz" versehen ist, gleichzeitig aber auch solche Firmenpleiten wie Kirch usw. oder Maxhütte zu verantworten hat – oder mit zu verantworten hat –, wo viel, viel gutes Geld von bayerischen Banken jemandem hinterher geworfen wurde, der das eigentlich gar nicht mehr hätte kriegen dürfen, dann sehe ich, dass Herr Stoiber, sowohl was die wirtschaftliche Kompetenz angeht, aber auch in anderen sozialen Fragen absolut weit hinter dem Bundeskanzler Gerhard Schröder zurückliegt. Und das lässt mich auch sehr optimistisch in die nächsten Wochen und Monate gucken.
Gehm: Ein Blick zur FDP: Hat denn für Sie die FDP nach dem Fischen Möllemanns in trüben Gewässern wieder auf den Boden der Realität zurückgefunden?
Struck: Ich glaube nicht. Also, ich halte die FDP, insbesondere auch Herrn Westerwelle, für einen Politiker und für eine Partei ohne Substanz. Das hat überhaupt nichts mehr mit der guten FDP von Hamm-Brücher oder Genscher oder auch von Gerhard Rudolf Baum zu tun, oder auch von Klaus Kinkel. Die FDP mit den möllemannschen Aktivitäten hat das ja nicht aus einer Laune heraus getan, sondern die FDP versucht schon, am rechten Rand mit Antisemitismus zu fischen – das ist für mich absolut unanständig. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass man mit solchen Leuten zusammenarbeiten kann. Ich hoffe, dass sich da noch einiges ändert, dass die Besonnenen, die wirklich echten Liberalen in der Partei, Herrn Westerwelle und auch Herrn Möllemann in den Arm greifen.
Gehm: Nun: Ein parlamentarischer Coup der letzten Tage, sprich Stasi-Unterlagen-Gesetz, wo urplötzlich eine Ampel-Koalition die CDU in den Regen stellte, macht denn das nicht Geschmack auf mehr?
Struck: Das war eine sehr gute Entscheidung der FDP, dass sie dann plötzlich den Vorstellungen der rot-grünen Koalition nahegetreten ist. Wenn man die FDP nicht gewonnen hätte, hätten wir möglicherweise im Bundesrat ein kategorisches "Nein" bekommen. Ich finde sehr erstaunlich, dass der neue sachsen-anhaltinische Ministerpräsident Wolfgang Böhmer, zusammen mit der FDP, eine andere Position eingenommen hat als Helmut Kohl und auch die CDU/CSU-Fraktion. Das sind dann ganz hoffnungsvolle Zeichen, was die FDP-Bundestagsfraktion angeht. Ich muss auch freimütig bekennen: Ich halte Herrn Gerhardt, den Fraktionsvorsitzenden-Kollegen, für einen viel solideren und seriöseren, als andere, die dort agieren.
Gehm: Elf Wochen vor dem Wahltermin, Herr Struck. Die Ausgangslage der SPD ist klar. Die der Grünen hat Joschka Fischer jüngst verdeutlicht: Keine Ampel, keine Duldung durch die PDS. Da gehen, wenn Rot-Grün keine Mehrheit hat, Optionen ja reihenweise flöten.
Struck: Ja, aber man muss, gerade angesichts der außenpolitischen Ereignisse, die wir immer zu erwarten haben, völlig klar feststellen: Mit einer PDS kann es keine Zusammenarbeit geben. Das Wort gilt. Ein kategorisches "Nein" auch in der Innenpolitik. Mit denen kann man wirklich keine Steuer- oder Sozialpolitik machen, weil sie absolut unrealistische Forderungen vertreten und alles immer nur mit der Abschaffung der Bundeswehr finanzieren wollen. Was die Wahlentscheidung angeht, hoffe ich sehr darauf, dass Rot-Grün die Mehrheit behält. Die Aussichten sind nicht schlecht. Jeder muss kämpfen, jeder muss seine Wählerschaft mobilisieren und auch für sich selbst mobilisieren. Ich hoffe, dass die jetzige Koalition eine Mehrheit behält. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass die Menschen in Deutschland sagen, es soll einen Bundeskanzler Stoiber und einen Außenminister Westerwelle oder Möllemann geben – gegenüber dem jetzigen Gespann Gerhard Schröder und Joschka Fischer.
Gehm: Elefantenhochzeit – kein Thema?
Struck: Nein, in einer parlamentarischen Demokratie kommt es auch immer auf eine starke Opposition an. Es ist immer nur in Notzeiten nötig, dass beide Großen dann auch ein Regierungsbündnis bilden. Solche Notzeiten sehe ich nicht.
Struck: Nein, absolut nicht. Wenn man zurückblickt auf die Zeit seit September 1998, haben wir wichtige Weichenstellungen vorgenommen. Wir haben, wie wir das nennen, den Reformstau in Deutschland aufgelöst. Wir haben zum Beispiel auch solche grundlegenden Entscheidungen getroffen, wie Ausstieg aus der Kernenergie – also Entscheidungen, die sich für die nächsten Generationen auswirken werden, positiv auswirken werden. Wir haben allerdings dann auch Entscheidungen zu treffen gehabt im außenpolitischen Bereich, von denen niemand aus der Koalition überhaupt je erwartet hätte, dass wir sie treffen müssten.
Gehm: Es hat also viel politische Bewegung gegeben in beiden Koalitionsparteien. Welche politische Schlagzeile würden Sie denn über diese zu Ende gehende Legislaturperiode setzen?
Struck: Gute Arbeit geleistet, es ist aber noch einiges zu tun, insbesondere im Bereich der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik. Und wir haben nach wie vor mit internationalen Entscheidungen zu rechnen, die auch die neue Koalition, also Rot-Grün, nach der Bundestagswahl sicherlich wieder sehr intensiv beschäftigen wird.
Gehm: "Wir müssen weitermachen" sagt die Koalition. Verständlich. Und verständlich auch, dass die Opposition ganz andere Schlagzeilen hat. Sie geißelt die "Politik der ruhigen Hand" oder den Reformstau.
Struck: Die Politik der ruhigen Hand ist entstanden, nachdem Opposition und Arbeitgeberverbände gegen Ende des letzten Jahres hektisch Konjunkturprogramme und Schnellschüsse – Vorziehen von Steuerreformmaßnahmen, Investitionsprogramme und dergleichen – gefordert haben. Der Bundeskanzler hat völlig zu recht gesagt, dass man der Weltwirtschaftskrise nicht durch Schnellschüsse gerecht wird. Da ist er auch unterstützt worden von allen Sachverständigen, die sich mit dieser Frage beschäftigt haben. Es war ja auch nicht so, dass wir nichts getan haben, wir haben eine Menge getan. Dass die Opposition das nicht begrüßte, das ist ihre Aufgabe, das zu geißeln. Aber ich bin schon stolz auf die Bilanz der letzten Zeit.
Gehm: Im Wahlkampf macht sich natürlich eine Reformeuphorie bei der Opposition breit. Ist das wahlkampfbedingt, oder ist nicht ein Tick Berechtigung dabei?
Struck: Es ist nur wahlkampfbedingt. Die Alternativen der Opposition – wenn man sich die Programme von CDU/CSU oder auch von der FDP ansieht, sind keine Alternativen, weil sie unrealistisch sind, weil sie nicht finanzierbar sind. Dass die Opposition gegen die handelnde Koalition natürlich versucht, Akzente zu setzen, ist normal. Allerdings muss das realistisch sein. Die Opposition ist auch nach meiner Einschätzung von einer euphorischen Phase schon längst wieder auf den Boden der Realität zurückgekehrt. Ich begrüße sehr die Äußerung von Lothar Späth, der ja der "Wundermann" von Herrn Stoiber ist, der aber alles das, was im Wahlprogramm der Union steht, als "Weihnachtsgeschenke, die nicht realisierbar sind" bezeichnet hat. Insofern wird die Opposition auch bis zum 22. September hin auch noch auf die Festigkeit und die Wirksamkeit ihres Programms untersucht werden. Und das wird dann alles zu dem Ergebnis führen: Das, was die Union und auch die FDP wollen, geht nicht.
Gehm: Der parlamentarische Kehraus in dieser Legislaturperiode ist ja fast bewältigt, kann man sagen. Im September, also vor den Wahlen, wird es noch eine Haushaltsberatung geben. Und ein anderes Thema, die Verlängerung des Bosnien-Mandats, wird den Bundestag in diesem Monat noch beschäftigen müssen. Das hieße: Sondersitzung.
Struck: Ja, wir wollen auf jeden Fall am 12. und 13. September die erste Lesung des Bundeshaushaltes 2003 durchführen. Wir wollen dann wenigstens an diesem Tag Herrn Stoiber im Duell im Parlament mit Herrn Schröder sehen. Herr Stoiber hat ja sich versteckt; er ist feige den Auseinandersetzungen ausgewichen, hat statt dessen lieber in einem Hotel räsoniert und dann am Ende sogar noch den Bundestag für "wenig bedeutungsvoll" erklärt. Die Haushaltsentscheidungen fallen natürlich erst im Jahre 2003. Wir haben dafür einen guten Vorschlagsentwurf jetzt vorgelegt. Was die Verlängerung des Mandates für die Soldaten, aber auch für die Polizeibeamten in Bosnien-Herzegowina angeht, hoffen wir, dass es noch einen Sicherheitsratsbeschluss geben wird – mit Zustimmung der USA, der eine Entscheidung des Bundestags überflüssig machen würde. Das Mandat war nicht zeitlich begrenzt, sondern war geknüpft an eine Sicherheitsratsentscheidung. Ich glaube, dass wir ganz gute Chancen haben, um eine Sondersitzung nicht durchführen zu müssen, weil auch die Amerikaner wieder einlenken werden.
Gehm: Also die Hoffnung auf ein Einlenken der USA und damit Verzicht auf das Zusteuern auf ein transatlantisches Drama?
Struck: Die Haltung der Amerikaner ist mir nicht verständlich. Wenn es darum geht, dass die US-Regierung will, dass ihre Soldaten nicht dem Internationalen Gerichtshof unterstellt werden, so kann ich das verstehen. Ich sehe allerdings auch überhaupt nicht das Problem, das die amerikanische Regierung jetzt darstellt, denn ein Soldat, der gegen Menschenrechte verstößt oder auch gegen seine Dienstpflichten verstößt im Ausland beim Auslandseinsatz, unterliegt ohnehin der Militärgerichtsbarkeit der Vereinigten Staaten von Amerika. Hier gibt es ein Machtspiel. Die USA wollen klarmachen, dass sie sich außerhalb der Regeln - auch des Internationalen Gerichtshofs - stellen wollen, und das kann man nicht akzeptieren.
Gehm: Das heißt, der Graben könnte tiefer werden?
Struck: Ich hoffe nicht. Ich denke, wir haben noch zwölf Tage Zeit. Die Bundesregierung, vertreten durch den Bundesaußenminister Joschka Fischer, vor allen Dingen in enger Zusammenarbeit mit seinem französischen Amtskollegen, versucht schon wieder, die USA zur Vernunft zurückkehren zu lassen
Gehm: Die wohlverdiente Sommerpause, Herr Struck, ist Fehlanzeige in diesem Jahr. Es beginnt die heiße Wahlkampfphase.
Struck: Das bedeutet eben schon, dass man gerade in dieser heißen Phase die Menschen auch darauf aufmerksam macht, dass es eine Bundestagswahl gibt, denn diese Wahlkampfveranstaltungen haben ja verschiedene Motive. Ein Motiv ist, die eigenen Anhänger besonders zu mobilisieren. Das Hauptmotiv ist aber, in der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner den Bürgerinnen und Bürgern klarzumachen, dass es um etwas geht bei der Bundestagswahl am 22. September – und: "geht hin".
Gehm: Und es geht um sehr viel in diesem Wahlkampf. Es geht eigentlich um alles – Thema Machtwechsel. Sehen Sie Anzeichen für Garstigkeiten, oder hoffen Sie, dass die Schmutzkübel außen vor bleiben?
Struck: Ich kann nicht ausschließen, dass es doch, je enger es wird – und die SPD holt ja deutlich auf gegenüber der Union – auch zu nervöseren und vielleicht auch zu Wahlkampfmaßnahmen kommt, die man dann auch unterhalb der Gürtellinie vielleicht ansiedeln muss. Ich hoffe, dass es nicht so kommt. Es geht immer nur um die Inhalte, und es geht um die Personen. Es geht letztlich um die Frage: Soll Gerhard Schröder Kanzler bleiben oder nicht. Und da mache ich mir politisch keine Sorgen. Aber wenn ich höre, dass das Thema Zuwanderung eine Rolle spielen soll in dem Wahlkampf, dann kann ich nur an die Union appellieren, nicht mit der Lüge zu arbeiten, wir wollten durch dieses neue Gesetz Millionen von Arbeitslosen nach Deutschland reinlassen. Das Gegenteil ist der Fall.
Gehm: Seit dem Tief der Sachsen-Anhalt-Wahl – die SPD lag damals bundesweit bei 31 Prozent – ist ja Boden gutgemacht worden. Der Abstand zur Union ist halbiert worden, kann man sagen. Allerdings – einige%e liegen noch vor Ihnen, und die SPD träumt in diesem Sommer vom "letzten Wupp", der gelingen möge.
Struck: Es wird vor allen Dingen auf die Mobilisierung der Anhängerschaft der SPD ankommen. Es war klar, dass nicht alles, was sich unsere Wählerinnen und Wähler im Jahr 1998 erhofft haben, erfüllt werden konnte – insbesondere auch wegen der schwierigen außenpolitischen Situation, die wir zu bewältigen hatten und wegen der Folgen der Weltwirtschaftskrise. Wir werden vor allen Dingen mit der sozialen Gerechtigkeit, die nach wie vor das Markenzeichen der SPD ist, aber auch mit der Öffnung hin für Innovationen, wie wir das in manchen Bereichen schon bewiesen haben, unsere Stammwähler und unsere Anhänger mobilisieren. Dann kommt es noch darauf an, dass man die berühmte Mitte bei uns hält, wo sie bei der letzten Bundestagswahl war. Und dann, denke ich, haben wir gute Chancen, stärkste Fraktion im Deutschen Bundestag zu bleiben.
Gehm: Erstaunlich ist eines in dieser Wahlkampfzeit: Die Umfragen für Ihre Partei sind nicht gerade berauschend, aber es gibt keine innerparteilichen Auseinandersetzungen. Die SPD gibt sich gelassen, ist ruhig. Ist das Friedhofsruhe – oder die Knute des Herrn, oder ist das Zuversicht?
Struck: Weder Friedhofsruhe noch die Knute, sondern es ist das Bewusstsein, dass wir, wenn wir unser Wahlziel erreichen wollen, ein Zeichen der Geschlossenheit und des Bündnisses untereinander, aber auch mit dem Bundeskanzler und dem Parteivorsitzenden geben müssen. Die SPD war immer eine diskussionsfreudige Partei, aber völlig klar ist, dass wir gerade in bezug auf die Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner deutlich machen müssen, dass wir in den entscheidenden wichtigen Fragen geschlossen sind. Und es gibt auch eine Zuversicht, das merke ich bei vielen Veranstaltungen überall in Deutschland, dass die Delle, die wir nach Sachsen-Anhalt zweifellos hatten, dass diese Delle jetzt überwunden ist und dass wir nach oben kommen.
Gehm: Kaninchen würden nicht aus dem Zylinder gezogen, hat Franz Müntefering vor einigen Wochen gesagt. Aber seit zwei Wochen hoppelt nun ein Wahlkampfkaninchen durch die Gegend und hört auf den Namen ""Hartz-Kommission". Und dieses Kaninchen verbreitet eine verführerische Botschaft: Halbierung der Arbeitslosenzahl innerhalb von drei Jahren. Und Friedrich Merz sagt, das sei ein großer Bluff. Was sagen Sie?
Struck: Ich sage, dass eine solche Bewertung, die Herr Merz hier vorgenommen hat, sehr ungerecht gegenüber den bisherigen Vorschlägen der Kommission ist, und dass wir, wenn wir die Vorschläge Mitte August auf dem Tisch haben, sehr viel damit anfangen können und sehr viel davon umsetzen können. Es ist nicht ohne Grund von Gerhard Schröder diese Kommission mit dem Arbeitsauftrag eingesetzt worden, bis Mitte August einen Vorschlag vorzulegen. Die bisher bekannt gewordenen einzelnen Detailvorschläge der Hartz-Kommission haben – mal abgesehen von der Union – eine positive Bewertung gefunden, sowohl von den Gewerkschaften als auch von der Arbeitgeberseite. Das, was wir jetzt in der zeitlichen Planung vorgesehen haben für die Hartz-Kommissions-Vorschläge, versetzt uns auch in die Lage, das, was nicht gesetzlicher Änderungen bedarf, auch noch vor der Bundestagswahl in Angriff zu nehmen und umzusetzen.
Gehm: Wie könnte denn ein Fahrplan bei der Umsetzung der zu erwartenden Ergebnisse der Hartz-Kommission aussehen, denn die Mehrheit der Wähler – so die aktuellen Umfragen – plädiert ja für schnelles Handeln?
Struck: Wir brauchen auch schnelles Handeln. Die Krise der Bundesanstalt für Arbeit, die ja letztlich dann mit einem Rücktritt des Präsidenten Bernhard Jagoda endete, war auch eine große Chance, die die Bundesregierung dann auch entsprechend genutzt hat. Man wird das Ziel, dass mehr Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Arbeitsverwaltung sich wirklich dem Hauptgebiet, nämlich der Vermittlung von Arbeitslosen in den ersten Arbeitsmarkt, zu widmen haben, erreichen können, ohne dass man große gesetzliche Änderungen macht. Da geht es um Umorganisation und Umstrukturierung der Bundesanstalt für Arbeit. Das, was die Kommission dann auch vorschlagen wird vermutlich, nämlich eine neue Definition, was einem Arbeitslosen zumutbar ist, um eine Arbeitsstelle annehmen zu müssen oder zu können, das wird gesetzlicher Änderungen bedürfen. Aber wir sind fest entschlossen, das, was nicht über Gesetz zu ändern ist, sondern schon so durch Verwaltungsanordnungen – durch Verordnung –, noch vor dem 22. September zu machen.
Gehm: Ein Knackpunkt für die Gewerkschaften, das ist am Freitag nach dem Gespräch mit dem Bundeskanzler noch einmal deutlich geworden, heißt: Keine Leistungseinschnitte für Arbeitslose. Der BDI dagegen plädiert für Leistungseinschnitte. Was heißt denn das für eine Umsetzung?
Struck: Es geht ja um die Frage: Wie wird das Arbeitslosengeld berechnet, wie wird das Arbeitslosengeld ausgezahlt? Da bin ich sehr dafür, dass der Vorschlag der Hartz-Kommission übernommen wird, um viele Verwaltungstätigkeiten zu vermeiden und in einer Verwaltungsentscheidung zu bündeln, dass man das Arbeitslosengeld pauschal auszahlt - in Form eines Abschlages vielleicht für die ersten drei Monate. Dass die Gewerkschaften mit Recht darauf hinweisen, dass man Arbeitslose jetzt nicht zu Verlierern dieser gesamten Operation machen darf, versteht sich von selbst. Ich hüte mich jetzt, in einzelnen Punkten schon ein kategorisches ‚Ja‘ oder ‚Nein‘ zu einem Vorschlag zu sagen, sondern ich warte das Gesamtkonzept ab. Da stimme ich dem Michael Sommer und dem Bundeskanzler zu, die ja am vergangenen Freitag eine in dieser Weise gleiche Position bezogen haben.
Gehm: In dem, was aus der Kommission herausdringt, liegt ziemlich viel Zündstoff noch – der Zug zur Frühverrentung für Erwerbslose über 55. "Nicht mit uns" sagen die Gewerkschaften. Der schnelle Übergang in die Sozialhilfe: "Nicht mit uns" sagt der Städtebund. Ist denn das Risiko nicht verdammt hoch, dass der heißersehnte Ruck außen vor bleibt und alles zerredet wird?
Struck: Das Risiko ist hoch, es kann allerdings minimiert werden, wenn alle Beteiligten – Gewerkschaften, Arbeitgeber, Bundesregierung, politische Parteien – sich davor hüten, bestimmte Teile jetzt von vornherein oder auch nach Vorlage des Berichtes für völlig falsch oder für völlig richtig bezeichnen und sagen: "Mit uns wird das nicht passieren" – oder "mit uns muss nur das passieren", Es geht wirklich um ein Gesamtkonzept. Und die Hartz-Kommission wird einen Vorschlag vorlegen, von dem die Kommissionsmitglieder glauben, dass er wirksame beschäftigungspolitische Maßnahmen mit sich bringen wird und auch Effekte haben wird. Trotzdem bleibt natürlich auch eines richtig: Man kann Arbeitslose nur in Stellen vermitteln, die auch da sind. Das heißt, wir brauchen nach wie vor – aber das werden wir ja dann auch entsprechend bekommen – ein ordentliches wirtschaftliches Wachstum. Das heißt, die konjunkturelle Entwicklung, die sich jetzt positiv abzeichnet, muss vertieft werden. Aber da sprechen alle Indikatoren dafür, dass wir im nächsten Jahr ordentliche Wachstumsraten haben werden – auch noch in der zweiten Hälfte dieses Jahres, so dass dann die neuen Beschäftigungsvorschläge der Kommission in Einklang mit wirtschaftlichem Wachstum tatsächlich sehr gute Effekte auf die Arbeitsmarktsituation haben werden.
Gehm: Strukturell gesehen jedenfalls: Die Arbeit der Hartz-Kommission dürfte einen Modernisierungsschub am Arbeitsmarkt bewirken?
Struck: Auf jeden Fall. Ich setze sehr großes Vertrauen in die Kommission, die von Peter Hartz geleitet wird. Und ich appelliere an alle, parteipolitische oder wahltaktische Überlegungen zurückzustellen und zu sagen: Lasst uns gemeinsam jetzt diese Vorschläge überprüfen auf ihre Wirksamkeit, und lasst uns gemeinsam die nötigen Konsequenzen ziehen!
Gehm: Ein ganz solides Nebenergebnis wäre natürlich: Die Hartz-Kommission könnte auch zum dringend notwendigen Turbo im SPD-Wahlkampf werden.
Struck: Ich sehe mit völliger Verwunderung und eigentlich mit Unverständnis die unterschiedlichen Stellungnahmen aus dem Bereich der Opposition: Die CDU/CSU ist völlig hilflos gegenüber den Vorschlägen der Hartz-Kommission. Wir haben erklärt, dass wir sehr intensiv diese Vorschläge prüfen und dann auch übernehmen werden. Die Union ist noch im Sprachenchaos. Deshalb ist völlig klar, dass das, was wir aus der Hartz-Kommission dann machen werden, natürlich einen sehr positiven Effekt auch für unseren politischen Weg haben wird.
Gehm: Die Hartz-Kommission bestimmt die Schlagzeilen derzeit, Herr Struck. Die Gesundheitspolitik scheint etwas in den Schatten geraten.
Struck: Das wäre falsch, wenn man den Menschen vor der Bundestagswahl nicht klar erklärt, wo denn die Unterschiede zwischen SPD und Opposition im Bereich der Gesundheitspoltiik sind. Wir wollen keine Zwei-Klassen-Medizin. Wenn die anderen dran kommen, wird es eine Zwei-Klassen-Medizin geben – mit der Folge, dass diejenigen, die reich sind, sich bestimmte ärztliche Leistungen oder Krankenkassenleistungen mehr leisten können als diejenigen, die arm sind. Deshalb ein klares Nein zur Zwei-Klassen-Medizin und auch eine harte Auseinandersetzung in dieser Frage.
Gehm: Was den politischen Weg angeht: Der SPD bleibt ein Risiko. Das heißt NRW, heißt Kölner Klüngel, heißt Korruption. Da hat nun der Staatsanwalt das Wort. Ist das Risiko hoch?
Struck: Ich bin sehr bestürzt über das, was sich in Köln abgespielt hat, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass Sozialdemokraten sich in diese Niederungen von möglicher Bestechlichkeit begeben könnten. Es gab eine große Empörung in der nordrhein-westfälischen SPD, dass einige wenige Sozialdemokraten die ganze Partei dort in Misskredit gebracht haben. Es sind die personellen Konsequenzen gezogen worden, auch rechtliche Konsequenzen gegen die verantwortlich Handelnden von Köln. Im Gegensatz zur CDU haben wir aufgeräumt. Wir haben Leute aus der Partei ausgeschlossen, wir gehen gegen sie zivilrechtlich vor. Ich glaube, dass diese Affäre jetzt überwunden ist. Meine Einschätzung ist, dass auch gerade die nordrhein-westfälische SPD kampfeslustig ist, um zu verhindern, dass Herr Stoiber Bundeskanzler wird.
Gehm: Andererseits, Herr Struck, spekulieren Sie natürlich auch auf ein Schwächeln der Union, obwohl – bislang hat der Kandidat Ihnen ja nicht den Gefallen getan, sich so rechts zu geben, wie Sie ihn gern hätten.
Struck: Der Kandidat hat sich versteckt. Er ist nicht greifbar. Er versteckt sich ja auch sogar vor dem Deutschen Bundestag, was ich also schon für einen unglaublichen Vorgang halte. Aber der Kandidat steht ja nicht alleine da. Es gibt ein Programm, und das Programm ist ja absolut unfinanzierbar. Es ist auch unsozial, und wir werden uns dann, wenn der Kandidat sich nicht zeigt, an dem Programm abarbeiten. Das betrifft dann auch die Frage, wie Herr Stoiber beispielsweise dann, wenn die Hartz-Kommission ihre Vorschläge vorgelegt hat, damit umgehen will. Will er Herrn Späth folgen, der die Vorschläge für vernünftig hält, oder will er einem Herrn Merz folgen, der sie für unvernünftig hält?
Gehm: Das hieße, die Leute überbewerten den Kandidaten Stoiber, nicht den Bundestag?
Struck: Ich glaube, dass Herr Stoiber in der Tat überbewertet wird. Wer also, wie er noch vor einigen Wochen mit dem Siegel "wirtschaftliche Kompetenz" versehen ist, gleichzeitig aber auch solche Firmenpleiten wie Kirch usw. oder Maxhütte zu verantworten hat – oder mit zu verantworten hat –, wo viel, viel gutes Geld von bayerischen Banken jemandem hinterher geworfen wurde, der das eigentlich gar nicht mehr hätte kriegen dürfen, dann sehe ich, dass Herr Stoiber, sowohl was die wirtschaftliche Kompetenz angeht, aber auch in anderen sozialen Fragen absolut weit hinter dem Bundeskanzler Gerhard Schröder zurückliegt. Und das lässt mich auch sehr optimistisch in die nächsten Wochen und Monate gucken.
Gehm: Ein Blick zur FDP: Hat denn für Sie die FDP nach dem Fischen Möllemanns in trüben Gewässern wieder auf den Boden der Realität zurückgefunden?
Struck: Ich glaube nicht. Also, ich halte die FDP, insbesondere auch Herrn Westerwelle, für einen Politiker und für eine Partei ohne Substanz. Das hat überhaupt nichts mehr mit der guten FDP von Hamm-Brücher oder Genscher oder auch von Gerhard Rudolf Baum zu tun, oder auch von Klaus Kinkel. Die FDP mit den möllemannschen Aktivitäten hat das ja nicht aus einer Laune heraus getan, sondern die FDP versucht schon, am rechten Rand mit Antisemitismus zu fischen – das ist für mich absolut unanständig. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass man mit solchen Leuten zusammenarbeiten kann. Ich hoffe, dass sich da noch einiges ändert, dass die Besonnenen, die wirklich echten Liberalen in der Partei, Herrn Westerwelle und auch Herrn Möllemann in den Arm greifen.
Gehm: Nun: Ein parlamentarischer Coup der letzten Tage, sprich Stasi-Unterlagen-Gesetz, wo urplötzlich eine Ampel-Koalition die CDU in den Regen stellte, macht denn das nicht Geschmack auf mehr?
Struck: Das war eine sehr gute Entscheidung der FDP, dass sie dann plötzlich den Vorstellungen der rot-grünen Koalition nahegetreten ist. Wenn man die FDP nicht gewonnen hätte, hätten wir möglicherweise im Bundesrat ein kategorisches "Nein" bekommen. Ich finde sehr erstaunlich, dass der neue sachsen-anhaltinische Ministerpräsident Wolfgang Böhmer, zusammen mit der FDP, eine andere Position eingenommen hat als Helmut Kohl und auch die CDU/CSU-Fraktion. Das sind dann ganz hoffnungsvolle Zeichen, was die FDP-Bundestagsfraktion angeht. Ich muss auch freimütig bekennen: Ich halte Herrn Gerhardt, den Fraktionsvorsitzenden-Kollegen, für einen viel solideren und seriöseren, als andere, die dort agieren.
Gehm: Elf Wochen vor dem Wahltermin, Herr Struck. Die Ausgangslage der SPD ist klar. Die der Grünen hat Joschka Fischer jüngst verdeutlicht: Keine Ampel, keine Duldung durch die PDS. Da gehen, wenn Rot-Grün keine Mehrheit hat, Optionen ja reihenweise flöten.
Struck: Ja, aber man muss, gerade angesichts der außenpolitischen Ereignisse, die wir immer zu erwarten haben, völlig klar feststellen: Mit einer PDS kann es keine Zusammenarbeit geben. Das Wort gilt. Ein kategorisches "Nein" auch in der Innenpolitik. Mit denen kann man wirklich keine Steuer- oder Sozialpolitik machen, weil sie absolut unrealistische Forderungen vertreten und alles immer nur mit der Abschaffung der Bundeswehr finanzieren wollen. Was die Wahlentscheidung angeht, hoffe ich sehr darauf, dass Rot-Grün die Mehrheit behält. Die Aussichten sind nicht schlecht. Jeder muss kämpfen, jeder muss seine Wählerschaft mobilisieren und auch für sich selbst mobilisieren. Ich hoffe, dass die jetzige Koalition eine Mehrheit behält. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass die Menschen in Deutschland sagen, es soll einen Bundeskanzler Stoiber und einen Außenminister Westerwelle oder Möllemann geben – gegenüber dem jetzigen Gespann Gerhard Schröder und Joschka Fischer.
Gehm: Elefantenhochzeit – kein Thema?
Struck: Nein, in einer parlamentarischen Demokratie kommt es auch immer auf eine starke Opposition an. Es ist immer nur in Notzeiten nötig, dass beide Großen dann auch ein Regierungsbündnis bilden. Solche Notzeiten sehe ich nicht.