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Studie "Testen im Osten"
Effiziente Tests von Westmedizin in DDR-Kliniken

Im Mai 2013 berichtete der "Spiegel" über westliche Pharmaunternehmen wie Bayer, Merck, Schering oder Novartis, die jahrzehntelang in der DDR Arzneimittel getestet hätten. Die Rede war von Menschenversuchen in ostdeutschen Kliniken und schnellem Profit. Dies gab Anstoß für ein Forschungsprojekt an der Berliner Charité - das allerdings zu anderen Ergebnissen kommt.

Von Otto Langels | 11.04.2016
    Ein Arzt hält Tabletten in der Hand.
    In der DDR testeten viele westliche Pharmakonzerne ihre Medikamente. (imago/STPP)
    Es ist im Grunde kaum überraschend und doch immer wieder verblüffend, wie wenig sich Konzerne von der politischen Großwetterlage beirren lassen. So auch die Arzneimittelbranche. Trotz Teilung gab es in Deutschland immer so etwas wie einen kleinen pharmazeutischen Grenzverkehr. Ende der 1940er-Jahre fuhren westliche Firmenvertreter durch die sich gerade gründende DDR, um dort in Kliniken Präparate für Tests anzubieten. Volker Hess, Medizinhistoriker und Leiter des Forschungsprojekts an der Berliner Charité:
    "Es fängt an nach dem Ende des Krieges mit Gründung der DDR, oder muss man besser sagen, es hat nie aufgehört? Klinische Studien und klinische Erprobungen gibt es seit Gründung der DDR. Und zwar über die Teilung, den Mauerbau und die Entspannungspolitik hinweg. Das ist Teil einer engen wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Verflechtung dieser beiden deutschen Staaten über den Eisernen Vorhang hinweg."
    In der DDR schon 1964 Arzneimittelgesetz
    Das Forschungsprojekt der Berliner Charité, finanziert unter anderem von der Bundesregierung, den Ärztekammern und der Pharma-Industrie, umfasst die gesamte DDR-Zeit, konzentriert sich aber vor allem auf die Jahre nach 1964, als in der DDR - lange vor der Bundesrepublik – ein Arzneimittelgesetz in Kraft trat.
    "Mit dem Arzneimittelgesetz von 1964 wurde in der DDR eine zentrale Erfassung, Zulassung und Aufsicht über klinische Arzneimittelversuche eingeführt. Hatten die von den Herstellern beauftragten Ärzte bislang weitgehend Prüfmethoden und Beurteilungskriterien einer klinischen Erprobung bestimmt, so musste nun die Zustimmung für die erprobende Institution vorab beim Zentralen Gutachterausschuss eingeholt werden."
    Der Text des vorliegenden Buches ist erkennbar als betont nüchterner Abschlussbericht einer wissenschaftlichen Untersuchung abgefasst, mit umfangreichen Tabellen und statistischen Angaben sowie längeren Ausführungen zu gesetzlichen Regelungen und klinischen Prüfungen.
    Daher ist "Testen im Osten" zwar ein aufschlussreiches Buch, aber mitunter ein trockener Stoff. Anschauliche Beispiele und Schilderungen konkreter Fälle wären an mancher Stelle wünschenswert gewesen. Doch die betroffenen Probanden kommen in dem Bericht kaum vor. Ein öffentlicher Aufruf der Autoren an Studienteilnehmer, sich an einer Fragebogenaktion zu beteiligen, fand kaum Resonanz.
    Ab 1964 mussten sich Pharmavertreter aus dem kapitalistischen Ausland an das zentrale Beratungsbüro der DDR wenden, um Hormon-Präparate, Antibiotika oder Bluthochdruckmittel in ostdeutschen Unikliniken und Krankenhäusern testen zu können. Das SED-Regime hatte die Arzneimittelforschung westlicher Firmen als zusätzliche Einnahmequelle entdeckt. Laura Hottenrott, Co-Autorin des Buches:
    "Seit 1981/82 waren alle Krankenhäuser DDR-weit, insbesondere die Hochschulmedizin, dazu angehalten, Devisen für das Gesundheitswesen zu erwirtschaften. Das ging über den sogenannten "Immateriellen Export"."
    150 Pharmahersteller testeten Medikamente in der DDR
    Allein zwischen 1970 und 1984 erprobten rund 150 Pharmahersteller aus 16 Ländern noch nicht zugelassene Medikamente im Osten. Die Liste der beteiligten Firmen liest sich wie ein Who-is-Who der Pharmaindustrie: Bayer, Merck, Pfizer, Roche, Schering, Boehringer, Hoechst – alle waren in der DDR aktiv. Die Autoren fanden Hinweise auf 900 Studien, von denen rund die Hälfte im Auftrag bundesdeutscher Unternehmen durchgeführt wurde.
    "Neben den Vertretern aus deutschsprachigen Ländern suchten auch Repräsentanten britischer, niederländischer, französischer, italienischer und skandinavischer Firmen das Beratungsbüro auf. Sogar Hersteller aus den USA oder Japan stellten für die klinischen Studien Prüfmuster bereit."
    Warum testeten westliche Pharmahersteller ihre Produkte in der DDR? Die Studien waren dort nicht wesentlich billiger als im Westen. Nur in Einzelfällen sparten die Firmen bis zu einem Drittel der Kosten. Der finanzielle Aspekt war nicht entscheidend, wie die Autoren herausgearbeitet haben: Wichtiger war, dass die Tests im Osten schnell und effizient abliefen. Die zentrale Steuerung und Kontrolle des DDR-Gesundheitssystems sorgte dafür, dass Zeitpläne eingehalten, exakte Studienprotokolle erstellt wurden und immer ausreichend Probanden zur Verfügung standen. Über allem wachte die Stasi, aber politische Bedenken spielten offensichtlich keine Rolle.
    "Die Pharmafirmen haben sich für die leichtere Durchsetzung und Durchführung ihrer Studien die totalitären Strukturen eines diktatorischen Systems tatsächlich nutzbar gemacht, indem man den disziplinierten Apparat des Staates für seine Zwecke nutzen konnte."
    Studie: Keine Hinweise auf DDR-Versuchskaninchen
    Die DDR-Regierung habe ihre kranken Bürger wie ein Zuhälter an den Westen verkauft und das Land als Versuchslabor prostituiert, schrieb der "Spiegel" 2013. Doch die Autoren der Studie fanden keine Hinweise auf eine systematische Verletzung damals geltender ärztlicher Regeln. Patienten wurden nach ihren bisherigen Erkenntnissen nicht als Versuchskaninchen missbraucht:
    "Im Großen und Ganzen ist festzuhalten, dass es keine wesentlichen Unterschiede in der Anlage und Durchführung klinischer Studien in Österreich, Westdeutschland oder der DDR gab. Wenn damals nicht die Regeln gegolten haben, denen klinische Studien heutzutage unterworfen sind, dann belegt das lediglich, dass die Anforderungen – aus guten Gründen – in den letzten Jahrzehnten strenger geworden sind."
    Allerdings sprechen die Autoren selber von einer ersten vorläufigen Bilanz. Sie gehen davon aus, dass ihnen längst nicht alle Unterlagen aus den Firmenarchiven vorgelegt wurden. Zudem fehlten die finanziellen Mittel für eine umfassende, fundierte Untersuchung. Die nicht gerade am Hungertuch nagende Pharmaindustrie steuerte für das Forschungsprojekt nur einen bescheidenen Beitrag bei.
    Deshalb ist nach wie vor unklar, unter welchen Bedingungen die Probanden an den Tests teilnahmen. Wussten sie überhaupt, dass sie noch nicht zugelassene Medikamente einnahmen? Wurden sie über Risiken und Nebenwirkungen aufgeklärt? Leiden einige heute unter den Spätfolgen? Waren sie informiert, dass es sich um Westpräparate handelte und erhofften sie sich davon einen größeren Nutzen? Auf diese Fragen gibt es bisher keine Antwort.
    Buchinfos:
    Volker Hess, Laura Hottenrott, Peter Steinkamp: "Testen im Osten. DDR-Arzneimittelstudien im Auftrag westlicher Pharmaindustrie, 1964 – 1990", Bebra Wissenschaft Verlag, Berlin 2016, 272 Seiten, Preis: 26,00 Euro, ISBN 978-3-95410-074-3