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Studie zu Blitzschlag-Opfern
Gefahr durch Gewitter wird unterschätzt

"Eichen sollst Du weichen, Buchen sollst Du suchen" - bekanntlich ist dieser Spruch blanker Unsinn. Und dennoch: Bei Gewitter stellen sich viele Menschen unter einen Baum. Wenn es zu Toten oder Verletzten durch Blitzeinschläge kommt, dann war meist Leichtsinn im Spiel, warnen Meteorologen.

Von Volker Mrasek | 08.11.2019
Ein mehrfach verzweigter Blitz am dunklen Himmel über der Silhouette eines Baumes
"When thunder roars, go indoors!" - "Wenn es donnert, geh‘ nach drinnen!": Das Motto des US-Wetterdienstes ist die beste Empfehlung bei Gewittern. (imago/STAR-MEDIA)
"Wir schauen mal, was wir hier haben."
Thilo Kühne blättert durch eine Tabelle auf dem Bildschirm seines Laptops:
"Eine Liste zu tödlichen Blitzschlag-Ereignissen aus dem Jahr 2018."
Kühne ist Wissenschaftler Mitarbeiter am ESSL, dem Europäischen Unwetter-Labor mit Sitz in Wessling in Oberbayern:
"Hier ist ein sehr klassisches Beispiel vom 21. Mai 2018 aus Deutschland, im Bereich Spitzingsee in Bayern. Dort wurde ein 22jähriger Mann durch einen Blitz getötet, während er entlang der Becherspitze, also einem Berg dort, mit einem Freund wanderte. Der Blitz schlug in einen Baum ein, unter dem sie gerade entlangspaziert sind. Der Freund von ihm hat überlebt. Und er hat dann tatsächlich auch der Polizei angegeben, dass sie die Gefahr des Gewitters unterschätzt hätten während ihrer Wanderung."
81 Tote, 970 Verletzte in den letzten zehn Jahren
Tote und Verletzte durch Blitzeinschläge – das gibt es immer wieder. Französische Forscher haben jetzt alle bekannten Fälle der letzten zehn Jahre in Westeuropa genauer untersucht. In der Summe kommen sie auf mehr als 200 Unglücke. 81 Menschen wurden dabei getötet und fast 970 verletzt. In der Mehrzahl der Fälle sei Leichtsinn mit im Spiel gewesen, berichtete Stéphane Schmitt jetzt in Krakau. Er gehört zu einem Team von Blitzexperten beim staatlichen Wetterdienst Meteo-France:
"Die meisten Leute unterschätzen das Risiko, weil die Wahrscheinlichkeit, vom Blitz getroffen zu werden, für jeden einzelnen natürlich sehr gering ist. Deswegen bleiben sie einfach draußen, auch wenn ein Gewitter heraufzieht. Schlimmer noch: Unsere Studie enthüllt, dass 30 Prozent aller Blitzopfer Schutz unter einem Baum gesucht hatten."
Das ist aber grundverkehrt! Denn Bäume ragen aus der Landschaft. In ihre Kronen schlagen Blitze sogar bevorzugt ein und pflanzen sich dann bis zum Erdboden fort.
Meist ist reichlich Zeit bis zum Blitzeinschlag
An der Studie war auch der Meteorologe Michael Kreitz beteiligt. Er schaute sich die 57 französischen Fälle genauer an und wertete dafür hochaufgelöste Regenradar-Bilder aus:
"Die Ergebnisse haben uns überrascht. Es gab nur ganz wenige Fälle, in denen Menschen vom Blitz getroffen wurden, weil sich das Gewitter ganz plötzlich über ihren Köpfen zusammenbraute. Fast immer verging reichlich Zeit bis zum Blitzeinschlag, und fast immer handelte es sich um langsam ziehende Gewitter. Das Problem ist: Man kann sie nur schwer einschätzen. Oft hört man ‘zig Minuten lang Donnergrollen, kriegt das Unwetter aber nicht unmittelbar zu spüren. Und dann denkt man fälschlicherweise, es zieht an einem vorbei!"
Veranstaltungen bei Gewitter besser früh abbrechen
Deutschland steht in der Liste mit zehn Todesopfern und über 400 Verletzten seit 2010. Am häufigsten wurden Menschen demnach bei Sport- und Freizeitaktivitäten vom Blitz getroffen, etwa beim Fußballspielen oder Golfen. Auf Rang zwei folgen Festivals, Konzerte und Picknicks unter freiem Himmel.
Stéphane Schmitt rät dazu, solche Veranstaltungen und Tätigkeiten lieber zu früh als zu spät oder gar nicht abzubrechen. Dann könnten sich alle rechtzeitig in Sicherheit bringen, in Häusern, Autos oder Schutzhütten:
"Man sollte sich wirklich an das halten, was zum Beispiel der US-Wetterdienst in seinen Warnungen betont: ‚When thunder roars, go indoors!‘ Also: Wenn es donnert, geh‘ nach drinnen, um Dich zu schützen!"
Sind Gewitterwarnungen nicht deutlich genug?
Schmitt ist Mitglied einer Expertengruppe der Internationalen Elektrotechnischen Kommission. Sie arbeitet derzeit an neuen Empfehlungen zum Schutz vor Blitzgefahren. Sie sollen die Leute stärker aufrütteln.
Offenbar ist das nötig. Denn auch das zeigt die neue Studie: Bei fast allen der französischen Vorfälle bestand eine amtliche Gewitterwarnung - allerdings nur auf der niedrigsten Stufe Gelb. Das bedeutet: Es können Blitze auftreten. Orange und Rot dagegen signalisieren, dass eine gefährliche Wetterlage bevorsteht. Die späteren Blitzopfer haben Gelb vielleicht nicht wirklich ernst genommen - und die Gefahr durch das Gewitter auch deshalb fatal unterschätzt.
Bei uns könnte es genauso sein. Die Warnungen und die App des Deutschen Wetterdienstes arbeiten mit der gleichen Farbskala.