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Studieren im Zweischichtsystem

Jeder zweite Afghane ist Analphabet. Dennoch drängen die Jungen an die Universitäten. Diese haben aber Kapazitätsprobleme. Jetzt wird im Zweischichtsystem studiert. Tagsüber kostenlos, abends gegen Gebühr.

Von Sandra Petersmann |
    Die Bilanz fällt düster aus gut zehn Jahre nach dem Sturz der Taliban, ist Afghanistan weder friedlich noch demokratisch oder gar wirtschaftlich stabil. Dennoch gibt es kleine Verbesserungen zum Beispiel im Bildungswesen. Unter den Taliban waren Mädchen von den Schulen komplett ausgeschlossen und die Jungen gingen wenn überhaupt nur auf die Koranschulen der Islamisten. Inzwischen aber besuchen laut Unicef wieder 8,3 Millionen Kinder eine öffentliche Schule, acht Mal mehr als unter den Taliban.

    40 Prozent der Schüler sind Mädchen, auch wenn viele dieser Mädchen von der Schule genommen werden bevor sie irgendeinen Abschluss erreichen können, weil sie minderjährig verheiratet werden, auch wenn der Lehrplan zum Teil noch von den Taliban diktiert wird, ist das dennoch ein Fortschritt. Eine ebenso kleine aber spürbare Verbesserung ist auch im Hochschulwesen zu sehen:

    Eine unwirsche Handbewegung. Wer zu spät kommt, muss draußen bleiben, das Seminar für Strafrecht ist voll.

    Professor Abdul Iqrar Wasel geht vor der ersten Stuhlreihe auf und ab, spricht frei, gestikuliert viel und doziert frontal - über das Recht des Staates zu bestrafen und über das Recht des Angeklagten. Rund 50 Studenten beugen sich über ihre Blöcke und schreiben so viel mit, wie sie können. Keiner hat einen Laptop oder Bücher dabei. Die 15 Mädchen des Kurses sitzen alle vorne links.

    "Ihr müsst den einzelnen Menschen im System der Gesellschaft begreifen",

    erklärt Professor Iqrar Wasel seinen Studenten. Er ist der Dekan der Fakultät für Recht und Politikwissenschaft an der Universität Kabul - mit über 10.000 Studenten die größte Universität Afghanistans. Gegen Ende des Taliban -Regimes waren es weniger als 8000 im ganzen Land.
    "Es ist unglaublich wichtig, dass so viele junge Afghanen gerade an dieser Fakultät studieren, denn sie werden nach ihrer Graduierung diejenigen sein, die in der Justiz und im Außen- und im Innenministerium arbeiten. Ich hoffe, dass diese jungen Leute unser Land wieder aufbauen und es verändern werden - wenn es uns jetzt gelingt, den Boden für sie zu bereiten."

    Seine Fakultät hat zurzeit 1400 Studenten, die in zwei Schichten lernen. Anders geht es nicht - aus Platzgründen. Wer tagsüber studiert, muss nichts bezahlen. Der Abendkurs für Berufstätige kostet umgerechnet knapp 80 Euro pro Semester. Das ist für die meisten Menschen in Afghanistan eine enorme Summe. Dunia gehört zu den Glücklichen, die einen der heiß begehrten Studienplätze ergattern konnten - in der Tagesschicht:

    "Das hier ist die einzige Fakultät, an der wir lernen, wie unser Staat und unsere Gesellschaft aufgebaut sind. Wir lernen, wie andere Länder funktionieren und welche Rechte und Pflichten die Staaten im Umgang miteinander haben. Afghanistan hat sich in den vergangenen Jahren sehr verändert, aber im Vergleich mit anderen Ländern ist uns kein Durchbruch gelungen. Wir sind immer noch eine zurückgebliebene und unterentwickelte Nation. Ich möchte helfen, das zu ändern."

    Dunia trägt enge Jeans, eine lange schwarze Bluse, darüber ein modisches Sakko. Sie ist geschminkt und die Augenbrauen sind sorgfältig gezupft. Die 18-jährige will später im afghanischen Außenministerium arbeiten - am liebsten als Diplomatin.

    "Ich wünsche mir ein Afghanistan, das genauso ist wie andere Länder und in dem alle Menschen gebildet sind. Noch kann mehr als die Hälfte der Bevölkerung nicht lesen und nicht schreiben. Aber wenn meine Generation hart genug studiert, dann können wir das ändern."

    Der Bildungshunger in Afghanistan ist riesig. 150.000 Schulabgänger haben gerade an der Universitätsaufnahmeprüfung teilgenommen, aber nur 40.000 haben einen Studienplatz bekommen. Das sorgt für viel Wut und Enttäuschung bei den Betroffenen. Doch den meisten der rund 20 staatlichen und privaten Hochschulen fehlen qualifizierte Dozenten, zeitgemäße Lehrpläne, Bücher, vernetzte Computer, Seminarräume und Wohnheime. Fast alle, die in Afghanistan über den Bachelor hinaus studieren wollen, müssen mangels Angebot ins Ausland: vor allem nach Pakistan oder Indien oder in den Iran. Über 30 Jahre Dauerkrieg haben deutliche Spuren hinterlassen. Der 19-jährige Farid wünscht sich, dass mehr Geld direkt an die Hochschulen geht.

    "Die internationale Gemeinschaft muss bei ihren Finanzhilfen für mehr Transparenz sorgen. Das Ausland schickt so viele Millionen Dollar nach Afghanistan, aber das wenigste davon kommt bei den Menschen an, die es brauchen. Unsere Regierung ist hochgradig korrupt. Die Politiker können das Geld missbrauchen, weil es nicht direkt in Projekte fließt. Umso wichtiger ist die Transparenz der Geber."
    Die ersten zehn Jahre des internationalen Afghanistaneinsatzes haben Deutschland nach Berechnungen von Wirtschaftsexperten etwa 17 Milliarden Euro gekostet. In diesem Zeitraum hat die Bundesregierung nach eigenen Angaben rund 110 Millionen in die Bereiche Bildung und Kultur investiert. Bei anderen Geldgebern sieht es nicht besser aus. Der akademische Wiederaufbau Afghanistans hat politisch keine Priorität. Das Militärische verschlingt den Großteil des Geldes. Der schlacksige Farid träumt unterdessen von einer wissenschaftlichen Karriere - in Afghanistan, in der Fakultät für Recht und Politische Wissenschaft der Universität Kabul:
    "Noch ist unsere Zukunft als Nation nicht entschieden. Aber wenn es uns gelingt, den Rechtstaat zu stärken und die Korruption zu bekämpfen und das Land besser zu regieren, dann haben wir eine Chance."