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Stützle: Bush schadet der NATO

Der Verteidigungsexperte Walther Stützle gibt der amerikanischen Seite die Schuld für den diplomatischen Streit über die Zukunft der Rüstungskontrolle. Die russische Drohung, den KSE-Vertrag aufzukündigen, sei eine Reaktion darauf, dass US-Präsident George Bush den Abrüstungsprozess gestoppt hat, sagte der ehemalige Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium.

Moderation: Wolfgang Koczian |
    Christiane Kaess: Es war ein diplomatischer Paukenschlag: Gestern kündigte der russische Präsident Putin in seiner Rede zu Lage der Nation an, den KSE-Vertrag auszusetzen und damit aus der Rüstungskontrolle für konventionelle Streitkräfte in Europa auszusteigen. Ob das eine Überreaktion Russlands auf die US-Raketenpläne in Osteuropa war, das wollte mein Kollege Wolfgang Koczian gestern von Walther Stützle von der Stiftung Wissenschaft und Politik wissen. Stützle war außerdem ehemals Staatssekretär im Verteidigungsministerium. An ihn ging zuerst die Frage, würde ein US-Raketenabwehrschirm Russland tatsächlich bedrohen?

    Walther Stützle: Nein, die Raketenabwehr bedroht Russland nicht primär, das ist auch nicht der Hauptpunkt. Sondern der Hauptpunkt, den Putin machen wollte, ganz offenkundig auch im Anschluss an seine Ausführungen im Februar in München und zum Abschluss seiner Präsidentschaft, ist, das die gesamte Vertragsstruktur zwischen Ost und West bezogen auf die nukleare Abrüstung und auf die konventionelle Abrüstung schwer in Gefahr ist. Und dieser Punkt ist vollkommen zu Recht gemacht und hat etwas zu tun in allererster Linie mit der Politik von Präsident Bush, der an allen Tischen der Abrüstung im Grunde genommen ein Stopp gesetzt hat und den Abrüstungsprozess gestoppt hat. Und die Warnung, die Präsident Putin ausgesprochen hat, ist aus russischer Sicht vollkommen verständlich. Und was aus westlicher Sicht, aus NATO-Sicht vollkommen unverständlich ist, ist der Ton, den die amerikanische Außenministerin gewählt hat. Ich würde ihn mal milde charakterisieren als ungehörig.

    Wolfgang Koczian: Lassen Sie mich trotzdem noch mal kurz bei den Raketen bleiben, nämlich die Frage dahingehend stellen: Wie glaubwürdig ist denn die Begründung mit dem Iran, dass von dort Abschüsse kommen könnten?

    Stützle: Das ist keine glaubwürdige Begründung, denn wenn es aus dem Iran tatsächlich eine Raketenbedrohung gäbe, um die man sich jetzt ernsthaft mit militärischen Gegenmaßnahmen kümmern müsste, dann wäre das keine einseitige Frage an die Vereinigten Staaten, sondern dann wäre es eine Frage an das gesamte westliche Bündnis, eine Frage an die Europäische Union und auch eine Frage an Russland. Denn wenn es eine Raketenbedrohung geben sollte aus dem Iran, dann müsste Russland sich genauso bedroht fühlen und dann wäre es im Sinne der bestehenden vertraglichen Vereinbarungen zwischen der NATO und Russland, dass dies im NATO-Russland-Rat erörtert wird, und zwar nicht nur darüber gesprochen wird, sondern eine ganz konkrete Politik entwickelt wird, wie man mit dieser Bedrohung umgeht.

    Das ist nicht geschehen. Und die Ansprache, die Präsident Putin gehalten hat, ist sozusagen ein Generalplädoyer dafür, doch darauf zu achten, dass die Abrüstungs- und Rüstungskontrollstruktur nicht ganz zusammenbricht. Dass er dabei nicht darüber gesprochen hat, dass auch Russland Versäumnisse aufzuweisen hat, zum Beispiel dadurch, dass es noch immer russischen Kontingente in Georgien, in Moldawien gibt, gehört aber mit zum Bild.

    Koczian: Ist möglicherweise die Administration in Washington Nationalinteressen in Polen und Tschechien etwas zu voreilig gefolgt?

    Stützle: Nein, ich glaube nicht, dass es sich bei der Politik des amerikanischen Präsidenten darum handelt, polnische und tschechische Interessen zu berücksichtigen, sondern ich glaube, es handelt sich bei ihm darum, dass er eine einseitige amerikanische Politik versucht zu betreiben und sich dabei einzelne Bündnispartner in Europa herausgreift, bei denen er vermutet, dass sie seinen Plänen zustimmen könnten in der Hoffnung, dass sie dafür irgendwelche außenpolitischen bilateralen Gegenleistungen bringen. Was er dabei offensichtlich in Kauf nimmt, vielleicht sogar gänzlich übersieht, ist, dass er damit der atlantischen Allianz schweren Schaden zufügt, dass auch Europa ein schwerer Schaden zugefügt wird, um den natürlich die Europäische Union sich eigentlich kümmern müsste, was sie nicht tut, und dass er verstößt gegen das, was mit Russland abgemacht ist in der so genannten NATO-Russland-Grundakte, die nun zehn Jahre alt ist, und was in den NATO-Russland-Rat gehört, der nun auch schon mehr als fünf Jahre alt ist.

    Koczian: Es fällt ja auf, bei der Wiedervereinigung, der EU-Erweiterung und der NATO-Ost-Erweiterung setzten sich die durch, die fragten, wer weiß, wie lange dieses window of opportunity, also die Chance, so zu handeln, denn bleibe. Und sie mögen ja auch Recht gehabt haben, aber sie nahmen eben Kollateralprobleme in Kauf. Muss Moskau sich nicht doch auch durch die NATO-Osterweiterung etwas missachten fühlen?

    Stützle: Ja natürlich ist das ein entscheidender Gesichtspunkt, der sicherlich für Putin eine große Rolle gespielt hat. Er hat das ja in München bereits im Februar angedeutet. Die beiden ehemaligen Sowjetrepubliken, nämlich Georgien und Ukraine, die heutigen unabhängigen Staaten, betreiben beide mit Unterstützung der atlantischen Allianz eine Politik, die auf Mitgliedschaft in der NATO gerichtet ist. Das bedeutet aus der Sicht Russlands, dass die NATO immer stärker an die russischen Grenzen heranrückt, ohne dass mit Russland darüber einvernehmlich gesprochen wird. Und das zerrüttet im Grunde genommen eines der Kernprinzipien der europäischen Sicherheit der letzten 20 Jahre, nämlich das Prinzip der gemeinsamen Sicherheit, das immer darauf gegründet war, dass man zum Erfolg, sprich zu vertraglichen Rüstungsbegrenzungsabkommen, nur kommen kann, wenn man die Interessen beider Seiten berücksichtigt und die Interessen beider Seiten in Vertragsform gießt, an die man sich dann anschließend auch hält. Und dieses Prinzip hat der amerikanische Präsident Bush jr. sträflich vernachlässigt und verletzt.

    Und ich denke, dass es für Putin ausschlaggebend war am Ende seiner Präsidentenamtszeit. Ich denke, er wollte darauf hinweisen, dass die Sicherheitslage aus der Sicht Russlands sich sehr nachteilig verändert hat und dass er deswegen zu diesem etwas ungewöhnlichen Schritt gegriffen hat, der vermutlich nicht unbedingt in einer Aufkündigung des Vertrages enden muss, der aber dort landen kann, wenn die atlantische Allianz nicht endlich zu dem Punkt zurückkehrt, den übrigens der frühere Bundesaußenminister Genscher schon vor einigen Wochen angemahnt hat, nämlich zur Politik, zu einer gemeinsamen Politik der Rüstungsbegrenzung zurückzukehren und ein konstruktiver Partner auch gerade für Russland zu sein bei dieser schwierigen Thematik.