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"'Stuttgart 21' wird die Republik verändern"

Die Gespräche zu "Stuttgart 21" werden live im TV und im Internet übertragen. "Diese Schlichtung ist nicht dazu da, damit man sich für die Wahlen profiliert. Dann werden sie scheitern", warnt Winfried Kretschmann, Fraktionsvorsitzender der Grünen in Baden-Württemberg.

Winfried Kretschmann im Gespräch mit Friedbert Meurer | 22.10.2010
    Friedbert Meurer: Wenn etwas sieben Stunden lang live in mehreren Fernsehprogrammen übertragen wird, dann ging es früher um Ereignisse wie die Mondlandung oder den runden Tisch, der die DDR abwickelte. Heute geht es nur um einen Bahnhof. Befürworter und Gegner von "Stuttgart 21" kommen zum ersten Vermittlungsgespräch zusammen. Hunderttausende, vielleicht sogar Millionen werden zumindest zeitweise via Fernsehen oder Internet alles live miterleben können. Fensterreden sind nicht erwünscht, sagt jedenfalls Heiner Geißler, der Vermittler. Am Telefon begrüße ich nun Winfried Kretschmann, er ist der Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen im baden-württembergischen Landtag. Guten Morgen, Herr Kretschmann.

    Winfried Kretschmann: Guten Morgen!

    Meurer: Stefan Mappus, der Ministerpräsident, nimmt jetzt teil, Sie, ich sage jetzt mal, als Oppositionsführer heute nicht. Warum eigentlich nicht, Herr Kretschmann?

    Kretschmann: Man muss diese Gespräche optimal besetzen. Das heute ist ein ganz wichtiges Expertengespräch. Da ist für uns drin der Werner Wölfle und ich habe jetzt auch den OB Palmer reingeschickt, weil der sehr viele Jahre dieses Projekt bis ins Detail durchdrungen hat, und der ist da der richtige Mann dafür. Es kommt ja da nicht auf die Kleiderordnung an, sondern auch das Projekt in Details tief durchdrungen zu haben. Das hat er!

    Meurer: Werden Sie beim nächsten Mal dabei sein?

    Kretschmann: Ich werde bei allen wichtigen Dingen dabei sein, vor allem bei den Parts, wo es um die Kosten geht. Das ist ja der Hauptstreitpunkt.

    Meurer: Was wird da geschehen bei diesen Gesprächen? Sind es Gespräche, oder würden Sie sogar sagen, es sind Verhandlungen?

    Kretschmann: Erst mal ist es eine öffentliche Auseinandersetzung um die unterschiedlichen Einschätzungen der Faktenlage. Es gibt ja einen Streit zum Beispiel, wie leistungsfähig ist "Stuttgart 21" wirklich. Das heißt, wir werden das Projekt heute einem Stresstest unterziehen und sozusagen die wunden Punkte mal mit den anderen besprechen. Darauf kommt es wirklich an! Dialog heißt ja, miteinander zu reden, das heißt natürlich oft auch zu streiten, und bisher konnten wir ja nur Monologe führen. Jede Seite hat vor ihren eigenen Anhängern ihre Thesen ausgebreitet, es stand auch mal was in der Zeitung, aber das ist ja nur immer an der Oberfläche. Nur wenn man tief in die Fakten geht, dann wird man sehen, dass da vieles ganz anders sich anlässt, als man gedacht hat.

    Meurer: Nun kann es aber auch sein, dass die eine Seite, nämlich die Befürworter, die besseren Sachargumente haben. Wenn dem so käme, was machen Sie dann?

    Kretschmann: Ich meine, dann werden wir zum Schluss diese Fakten bewerten. Das ist dann Aufgabe des Schlichters, das zusammenzufassen. Dann hat man erst mal sich darüber verständigt, wo man einig ist und wo man nicht.

    Meurer: Aber können Sie sich vorstellen, dass am Ende die Gegner einlenken werden und sagen, okay, wir haben uns überzeugen lassen, war eine schöne Zeit, wir sind jetzt für "Stuttgart 21"?

    Kretschmann: Ich meine, wenn man in solche Gespräche so rauskommen will, wie man reingegangen ist, dann braucht man sie nicht führen. Ich meine, die Gespräche sind ausdrücklich ergebnisoffen, und mit dieser Haltung muss da jeder reingehen. Das ist ja was ganz Neues und was da am Ende steht, das muss man sehen. Ich meine, normalerweise sollte man solche Debatten führen, bevor die Entscheidungen gefallen sind, und nicht hinterher. Das macht es natürlich schwierig.

    Meurer: Nun wird ja befürchtet, dass irgendwie, wenn das Fernsehen überträgt und im Internet und alle hören zu, dass es doch ein bisschen auch ein Schaulaufen wird. Können die Gegner, und wenn Sie beim nächsten Mal dabei sind, Herr Kretschmann, wirklich unbefangen auftreten? Müssen Sie nicht immer denken, da gucken jetzt Zehntausende von Demonstranten zu und ich muss in deren Augen bestehen?

    Kretschmann: Ja, sicher besteht die Gefahr da für jede Seite, aber der Heiner Geißler ist ein sehr entschlossener und durchsetzungsfähiger Mensch, der wird Fensterreden verhindern, da bin ich sicher.

    Meurer: Was macht Sie so sicher?

    Kretschmann: Ich habe ihn ja jetzt gut kennengelernt. Der wird da eingreifen und den Leuten das Wort entziehen, oder sie ermahnen, zur Sache zu reden. Da bin ich sicher! Dazu hat man ja einen Vermittler in so einem Prozess, das soll der ja gerade hinbekommen.

    Meurer: Bei Tarifverhandlungen hat Heiner Geißler irgendwie am Ende erreichen können, die eine Seite fordert 4 Prozent mehr Gehalt und die andere sagt nur 2 und dann kommt eine 3 heraus. Wie soll eine 3 sozusagen im Fall "Stuttgart 21" aussehen?

    Kretschmann: Das kann hier natürlich nicht der Fall sein. Entweder man bleibt oben, oder man geht in die Tiefe. Das ist ja eine Sach- und Faktenschlichtung. Nehmen wir mal die Kosten, dann wird man zum Schluss sagen, wird der Schlichter sagen, die Parteien konnten sich auf eine einheitliche Bewertung der Kosten einigen oder nicht, oder es blieben die und jene Fragen offen, und dann weiß man mal, dass bestimmte Zahlen irgendeiner Seite nicht belastbar sind, und darum geht es doch eigentlich in dem ganzen Konflikt. Die Bahn sagt, das bestgerechnete Projekt, dann muss sie selber nach oben korrigieren. Da muss man doch mal in Frage stellen, ob sie uns überhaupt gute Zahlen liefert. Das ist ja offensichtlich nicht der Fall. Und das auf den Tisch zu bringen, darauf hat die Bürgerschaft erst mal ein Anrecht. Hier geht es also um die Bürger und nicht einfach nur um uns!

    Meurer: Nun können ja eigentlich die Gegner, also Sie, die Grünen und die Gegner von "Stuttgart 21", zufrieden sein, dass es zu dieser Schlichtungsrunde ab heute kommt. Jetzt hört man aber, in Ihrer Anhängerschaft gibt es auch die Sorge, dass sie sozusagen von den Profis über den Tisch gezogen werden. Wie wollen Sie diese Angst ausräumen?

    Kretschmann: Ja, das wird sich ja zeigen, ob uns die Profis über den Tisch ziehen können. Wir haben da allerdings selber Profis drin, das sind ja erfahrene Politiker, der Werner Wölfle und der Boris Palmer, die lassen sich nicht über den Tisch ziehen. Da habe ich nun überhaupt keine Angst.

    Meurer: Und die andere Seite hat nicht den größeren Apparat hinter sich?

    Kretschmann: Ja, natürlich! Ich meine, das ist so! Die Bürgerbewegung macht das in ihrer Freiheit. Sie hat ein paar Pensionäre, die ihr helfen, und so weiter. Da ist sie natürlich von vornherein schlechter da, aber dafür hat sie sehr viele Menschen, die daran mitarbeiten. Das ist ja das Tolle an der Zivilgesellschaft, dass sie auch große Apparate in den Schatten stellen kann.

    Meurer: In den Umfragen liegen CDU und Grüne Kopf an Kopf, kann man sagen, in Baden-Württemberg bei 34 und 32 Prozent. Im März wird gewählt. Wer wird mehr von der Schlichtung profitieren, Stefan Mappus oder Sie, Winfried Kretschmann?

    Kretschmann: Darum geht es nicht. Es geht darum, dass die Konfrontation nicht immer tiefer wird und wir zum Schluss eine gespaltene Bevölkerung haben und dass sich Gegnerschaft in Feindschaft umwandelt. Das darf es in der Demokratie nicht geben. Diese Schlichtung ist nicht dazu da, damit man sich für die Wahlen profiliert. Dann werden sie scheitern, dann kommt nichts dabei heraus.

    Meurer: Aber der Zeitplan ist nun mal so. Denken Sie nicht an die Landtagswahl?

    Kretschmann: Nein, überhaupt nicht. Es war die Idee der Bundeskanzlerin, die Wahlen zu einem Plebiszit zu machen. Wir haben schon immer gesagt, nein, es geht um die Sache. Wir sind ja schließlich seit über einem Jahrzehnt gegen dieses Projekt und wenn man daraus eine Wahlkampfveranstaltung machen würde, würde das nichts bringen und dann ist die Bürgerschaft noch mehr enttäuscht wie vorher. Das können wir und wollen wir uns nun wirklich nicht erlauben, im Gegenteil. "Stuttgart 21" wird die Republik verändern und in Zukunft wir das, was wir jetzt sehr spät machen, im und vor dem Verfahren stattfinden, und dann hat dieses Projekt, der Kampf um das Projekt, egal wie er ausgeht, schon sehr, sehr viel für die Zukunft gebracht, nämlich auch der Zivilgesellschaft Einfluss in die Parlamente und Regierungen zu bringen und nicht nur den starken Interessengruppen und Lobbyisten, wie wir das gerade in Berlin verfolgen können.

    Meurer: Winfried Kretschmann, der Vorsitzende der Landtagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen in Baden-Württemberg, heute Morgen bei uns im Deutschlandfunk. Danke, Herr Kretschmann und auf Wiederhören!

    Kretschmann: Auf Wiederhören!