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Sudabeh Mohafez: "Behalte den Flug im Gedächtnis"
Weg in eine vielleicht bessere Welt

In ihren Geschichten schreibt Sudabeh Mohafez von kultureller Zugehörigkeit in unterschiedlichen Welten. Dabei verbinden sich Gedächtnis und Fiktion zu kleinen Erzählungen, die besonders von der Musikalität der Autorin profitieren. Ihren Figuren kommt sie außergewöhnlich nah.

Von Bettina Hesse | 22.08.2018
    Die Schriftstellerin Sudabeh Mohafez
    Die Schriftstellerin Sudabeh Mohafez (edition AZUR / Markus Kirchgessner)
    Die Autorin Sudabeh Mohafez wurde 1963 in Teheran geboren und wuchs dort mit ihrer deutschen Mutter und dem iranischen Vater dreisprachig auf. Obwohl sie seit 40 Jahren nicht mehr im Iran gewesen ist, erzählen ihre Geschichten von den vielen 'Heimaten' und Leben in beiden Kulturen. Selbst machte die studierte Musikerin, Anglistin und Erziehungswissenschaftlerin Station in: Teheran, Berlin, Lissabon, Stuttgart und im Schwäbischen Wald. Am längsten im "eigenbrötlerischen und vernarbten" Berlin, wo sie zehn Jahre Krisenintervention und Anti-Gewaltarbeit geleistet hat. Nach Erzählungen, Romanen, Lyrik, Theaterstücken und Kurzprosa erschien nun der Erzählungsband "Behalte den Flug im Gedächtnis", in dem sie sich neben dem persönlichen Schreibinteresse – der Weitergabe von Traumata und dem Überleben in Gewaltstrukturen – auch literarisch mit ihrer Bikulturalität, der Mehrsprachigkeit und dem Umzug aus dem Nahen Osten nach Europa auseinandersetzt.
    Dabei hat sie die Erfahrung gemacht, dass ihr Name ein häufiges Nachfragen hervorruft. Im kurzen Dialog am Ende des Bandes lässt die Autorin das Thema aufblitzen: Zwei junge, bildungsferne Berliner kriegen sich über den unaussprechlichen und fremden Namen "Moafeß" in die Wolle. Dieser spielerische Umgang mit biografischem Material – Identität fängt bekanntlich beim Namen an –, ist nur eine Facette einer großen Suchbewegung nach kultureller Zugehörigkeit in den Erfahrungswelten des Iran und Deutschland, in denen die Erzählerin gleichermaßen zu Hause ist.
    Mohafez' Texte erzählen von unbeschwerter Bikulturalität, aber auch von einer Kehrseite, von unterschwelliger oder offener Gewalt. Aus dem eigenen Schreibinteresse heraus stellt sie die Frage nach der Weitergabe von Traumata und dem Überleben von Gewalterfahrung und zeigt, wie sich die beiden Lebenswirklichkeiten vermischen können. Der verlustreiche Weg in eine andere, vielleicht bessere Welt ist beschwerlich und erfordert von den Figuren, am Übergang innezuhalten, sich zu erinnern oder genau hinzuschauen, bevor sie zurück in die Liebe finden.
    So unterschiedlich und facettenreich die Geschichten in Erzählhaltung und literarischer Machart sind, in allen schwingt bei der studierten Musikerin ein Ton mit. Ein feiner, melancholischer oder warnender Ton, der zum Lächeln oder Nachdenken anregt. Die große Vertrautheit mit den Themen und Settings, die beide - Autorin wie Erzählerin/Erzähler - gut kennen, stellt eine berührende Nähe zu den Figuren her.
    "Die Musikalität spielt eine große Rolle in meiner Arbeit", sagt die Autorin. "Insbesondere die Rhythmizität, würde ich sagen, und der Band versammelt ja Geschichten aus über zehn Jahren Entstehungszeiten. Insofern freut mich das auch zu hören, dass gerade aus so unterschiedlichen Schaffenszeiten da ein roter Faden durchgeht, und der nicht thematisch ist, sondern in der Spracharbeit, das Rhythmische, die Bögen, die Ein- und Ausatmen-Momente in Sätzen."
    Irans höchster Berg erscheint über der Spree
    In der Geschichte 'Sediment' erscheint der Erzählerin mitten in Berlin der Damawand, der mächtige Berg Teherans. Die phantastische Metapher wirkt wie ein Bild für die Durchdringung der beiden Kulturen:
    "Dort, auf dem Wasser, steht er. Groß, still und unbezwingbar. Der Damawand. Der Berg. Die Krone Teherans. Er steht auf dem Wasser, wächst aus ihm heraus zu seinen fast sechstausend Metern Höhe, breitet sich rechts und links über die Ufer der Spree, legt sich auf Straßen und Häuser, und sein weißbedecktes Haupt leuchtet strahlender als die Berliner Abendsonne."
    Sudabeh Mohafez erklärt dazu: "Das ist ein schönes Bild, Durchdringung dieser beiden Kulturen also sagten Sie jetzt, ich würde immer sagen beider Lebenswelten, Lebenserfahrungen, die ja für mich vom ersten Tag meines Lebens an existierten, als binationaler und bikultureller Mensch, also diese Untrennbarkeit des einen vom anderen spielt in meiner, ich sag mal, Standortbestimmung eine Rolle. Und ich komme halt aus dieser Erfahrung, dass die iranische Kultur, die persische Kultur, die iranische Lebenswelt und die deutsche Kultur, die bundesrepublikanische Welt für mich immer in eins gefallen sind, und ich kann die gar nicht getrennt empfinden. Und diese Geschichte über den Damawand, der plötzlich auftaucht, immer wieder kommt und geht, wie es ihm beliebt, bringt das eben in ein Bild."
    In der Erzählung "Fort in die Welt" will das kleine Mädchen aus seiner orientalischen Welt im großen, aber starren Haus aufbrechen, in dem es kaum atmen kann und der Bruder mit dem Fußball eine wertvolle Lampe zerdeppert und tausend blaue Scherben glitzern. Die Frau, vermutlich die deutsche Mutter, setzt sie wieder zusammen, so dass der Vater den Betrug nicht bemerkt. Doch die bedrückende Atmosphäre bleibt. In distanzierender Aufsicht schaut die Erzählerin in eine leicht märchenhafte Konstellation, die nur scheinbar Gewalt und Unterdrückung überdecken kann.
    Und in der Eröffnungsgeschichte "Der alte König" geht es um eine prägende Hörerinnerung: Auf dem Foto mit der Autorin als Dreijährige hört die Erzählerin noch das fremde 'Oilitleh', den Gruß eines persischen Freunds an die Mutter. Das Kind spielt mit diesem seltsamen Klang, macht daraus ein kleines Lied, doch es spürt, etwas ist falsch daran. Abends erzählt der Vater vom 'alten König' aus Deutschland, der mit 'Heil Hitler' begrüßt wurde, und das Mädchen fragt: 'Warum darf ich denn nicht von dem König singen?' 'Weil es ein schlechter König war.'
    Geprägt durch Frauenhausarbeit
    Sudabeh Mohafez: "Das sind beides schöne Beispiele für Geschichten, in denen einfach aufblitzt, das Dinge, die ganz im Kleinen und Privaten passieren, durchaus große politische Zusammenhänge und Gegebenheiten widerspiegeln, und insofern privat und alltäglich Ansatzpunkte für politische Bewusstheit zu erlangen und auch Ansatzpunkte für politisches Handeln zu entwickeln."
    Viele Erzählungen spielen in Häusern und oft haben diese einen Bereich, der fremd bleibt, verboten ist oder mit Schuld verbunden – Blaubart lässt grüßen. Symptomatisch für die schwierige Suche nach einem Ort steht der Text Über die Schwelle. Eine Frau geht zum letzten Mal durch die Wohnung, bevor sie auszieht. Ihr Mann residierte in den meisten Zimmern und war offenbar gewalttätig:
    'Geh raus', hatte er dann einfach gesagt, und sie hatte sofort getan, was er verlangte, hatte die Tür offen stehen lassen, damit er sich nicht eingeschlossen fühlen musste, und war ins Gästezimmer gegangen. Es war unpersönlich eingerichtet. Ein billiges Bett, das unter einer rückengefährdenden Federkernmatratze quietschte …. Ein schmaler, hässlicher Schrank aus Fabians Jugendzeit. Ein Spiegel. Wie ein Raum in einer billigen Pension, in der man höchstens für eine Nacht blieb. Dies war ihr Ort gewesen. Das Zimmer und der schmale Altbaubalkon davor, auf den sich eine gläserne Flügeltür öffnete.
    Am liebsten würde sie den Balkon mitnehmen mitsamt dem Flieder davor, doch nimmt sie nur die Prozessakten mit. In feinsinniger Dramaturgie durchlebt sie während ihres letzten Ganges die gemeinsame Zeit und den Schrecken, dass der Mann die Kinder zugesprochen bekam. Hier klingt die Erfahrung mit der Anti-Gewalt-Arbeit an, möglicherweise spiegeln sich Aspekte der Autorin in der Erzählerin.
    Sudabeh Mohafez: "Das ist, glaub' ich, schwer zu sagen für die Schreibenden selbst, ich würde aber sagen ja – und zwar im Begleiten der Figuren auf dem Weg zurück ins Glück. Da spiegelt sich was, also dieser Weg aus 'ner schwierigeren Lebenssituation in eine zurück, in der Glück wieder etwas Lebbares wird, ist was, was mich durch die Frauenhausarbeit sehr geprägt hat und was ich für ein hohes Gut halte. Und darum dreht es sich in den Geschichten viel weniger um die Erfahrung der Gewalt selber, als um die Ermöglichung eines Wegs zurück ins Glück."
    Universelle Erfahrung von Heimat in der Liebe
    In drei Teile gliedert sich die Suche nach einem Ort oder einer Heimat, in der ein besseres Leben möglich ist. Die Figuren befinden sich im Umbruch und müssen mit dem Liebesverlust auf vielen Ebenen umgehen. Es sind die dunklen Geschichten im mittleren Teil Vom Überleben, die die helleren überschatten. Erst im dritten Teil, der von der Rückkehr in die Liebe erzählt, gibt es Hoffnungen und Aufbrüche in eine Zukunft mit blauen Sternen und vorsichtigen Perspektiven.
    Wie in der Liebesgeschichte zu einem Dachdecker. Die Anziehung entwickelt sich unmittelbar zwischen der Frau, die allein im Haus mit Garten lebt, und dem Dachdecker. Sie lieben sich, sie gehen in die Natur, sie brauchen nicht viele Worte. Einmal spricht er von seiner Frau und dass sie ein gutes Team seien. Da ahnt sie, dass er nicht mehr kommt. Seine Abwesenheit spürt sie bis in den Traum und bekämpft sie den Herbst und Winter lang. Und als sie gefragt wird 'Kein neuer Mann?', sagt sie 'Doch, der ist bei seinen Kindern'. Am Ende des Jahres steht der Geliebte einfach wieder in der Tür, mit seinen Kindern, und sagt: 'Schuhe ausziehen!'
    Sudabeh Mohafez komponiert ihre Texte mit Sorgfalt, und sie korrespondieren miteinander. Die Autorin meint dazu: "Also ich denke, dass alle Aspekte eines zusammenhängenden Werks ihren Teil zum Endprodukt beitragen, sozusagen zu der literarischen Skulptur, die dann da steht."
    Besonders in der langen Erzählung "Übers Südkreuz und zurück" werden die großen sozialen und kulturellen Gegensätze deutlich. Im Mittelpunkt steht die arme Nahid, Mutter vieler Kinder und erneut schwanger. Sie putzt bei Deutschen in einer Teheraner Luxusvilla, bis sie vor die Tür gesetzt wird. Nun macht sie sich frühmorgens auf übers Südkreuz und 'entführt' den kleinen Sohn der Deutschen, um ihn vor dem Missbrauch durch den Vater zu schützen und die Mutter zum Verlassen des Mannes zu bewegen. So naiv und unüberlegt ihre Aktion ist, so deutlich wird ihre moralische Unerschütterlichkeit, was die eigene Lebenssituation in Dreck und Armut überdeckt, vielleicht gar überstrahlt und transzendiert. In dieser Mischung aus Blick für Realitäten mit klarem ethischen Anspruch und einem Silberstreifen am Horizont, steckt die feinsinnig existenzielle, auch spirituelle Kraft von Sudabeh Mohafez Erzählkunst.
    Die Zuschreibung auf dem Buchumschlag 'Stimme des Friedens' ist ein besonders wertvolles Prädikat für die Eindringlichkeit dieser literarischen Suchbewegung, die nicht nur topografisch zwischen dem Nahen Osten und Europa stattfindet, sondern die universelle Erfahrung von Heimat in der Liebe gestaltet. "Behalte den Flug im Gedächtnis" ist eine Reise mit Allgemeingültigkeit und Langzeitwirkung, und obendrein ein wunderschön gemachtes Buch.
    Sudabeh Mohafez: "Behalte den Flug im Gedächtnis" - Erzählungen
    edition AZUR, 127 Seiten, 17,90 Euro