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Süssmuth: ''Das Zuwanderungsgesetz wird mit skandalösen Begleitumständen wieder auf die lange Bank geschoben''

    Ensminger: Der Druck auf den Bundespräsidenten Johannes Rau ist hoch. Er muss entscheiden, ob das Zuwanderungsgesetz in Kraft tritt oder nicht. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Bundespräsident genauso kaltschnäuzig die Verfassung bricht wie der Bundesratspräsident", so der Unionskanzlerkandidat Edmund Stoiber. SPD-Generalsekretär Franz Müntefering daraufhin: "Es sei eine Ungeheuerlichkeit, wie Stoiber versuche, den Bundespräsidenten zu nötigen". Schlagabtausch war also angesagt nach der Entscheidung des sozialdemokratischen Bundesratspräsidenten Klaus Wowereit, der ja am vergangenen Freitag bei der Abstimmung das Ja von Brandenburgs Regierungschef Manfred Stolpe zum Zuwanderungsgesetz als Zustimmung gewertet hatte, obwohl Stolpes Koalitionspartner Schönbohm zuvor seine Ablehnung deutlich gemacht hatte. Nach wie vor also geht es um die Frage, ob das verfassungskonform war. Allerdings dass die Diskussion darüber das Thema Zuwanderung an sich nun so zudeckt, das stößt bei manchem Politiker auf viel Unmut, so auch bei dem früheren SPD-Chef Hans-Jochen Vogel.

    O-Ton Vogel: Also ich muss mal vorweg sagen, dass ich ein bisschen betroffen bin, welchen Stellenwert diese Streitigkeiten inzwischen angenommen haben. Dass es um Millionen von Menschen geht, dass es um die Zuwanderer geht, die bei uns leben, dass es um die Frage geht, wer in Zukunft bei uns aus humanitären Gründen mit Zuflucht rechnen kann, dies ist alles seit mehreren Tagen völlig bei Seite geräumt und statt dessen werden Details in einer Art und Weise und mit einer Sprache erörtert, dass ich mich als einer, der ja auch eine Zeit lang in der Politik war, nur wundern kann. Der eine sagt Verfassungsbruch, der andere sagt dieses. Es gibt ja überhaupt nur noch Superlative in dieser Sache. Also ich bin sehr verwundert!

    Ensminger: Herr Vogel ist sehr verwundert und am Telefon ist nun die CDU-Politikerin Rita Süssmuth, ehemalige Bundestagspräsidentin und Leiterin der Zuwanderungskommission der Bundesregierung. Schönen guten Morgen Frau Süssmuth!

    Süssmuth: Guten Morgen!

    Ensminger: Herr Vogel saß ja mit Ihnen in der Kommission. Spricht er Ihnen aus dem Herzen?

    Süssmuth: Ich kann das nur unterstreichen was er sagt, denn auf der Strecke bleiben die Betroffenen, übrigens die Interessen der Zugewanderten wie die Interessen der Deutschen. Erneut haben wir eine Situation, wo nicht etwas geregelt, sondern mit skandalösen Begleitumständen wieder auf die lange Bank geschoben wird.

    Ensminger: Auf die lange Bank geschoben heißt Sie fürchten, dass es nicht dazu kommt, dass zum Ersten des kommenden Jahres das Zuwanderungsgesetz in Kraft tritt?

    Süssmuth: Das wäre jetzt Kaffeesatz lesen und ich bin davon überzeugt: der Bundespräsident wird nach gründlicher Beratung seine Entscheidung treffen. Aber ich füge doch noch einmal hinzu: Wer das Verfahren im Bundesrat am vergangenen Freitag mitverfolgt hat, der kann zumindest so viel sagen, dass keine der Seiten nun vor überraschenden Situationen mit ihren Entscheidungen gestanden hat und alle auf unterschiedliche Szenarien sehr wohl vorbereitet waren.

    Ensminger: Da sprechen Sie etwas an, was auch unsere Nachrichten zur Zeit melden, nämlich dass der saarländische Ministerpräsident Peter Müller einem Rundfunkbericht nach eingeräumt haben soll, dass diese Empörung der Union bei der Zuwanderungsabstimmung im Bundesrat gar nicht spontan war. Wenn das so stimmt, dann zeigt sich Politik als Inszenierung. Was ist denn davon zu halten?

    Süssmuth: Ich sage, Politik hat immer Inszenierungszeichen. Die Frage ist nur, welche Glaubwürdigkeit sie vor den Menschen behält. Ich kann nur wiederholen, was andere vor mir gesagt haben: Es gilt hier, eine schwierige Sache zu regeln. Es gilt vor allen Dingen, den ständigen Horrordaten entgegenzutreten, denn es geht hier ja um mehr als um die Frage, ob das Gesetz zurecht zu Stande gekommen ist. Das mögen bei unterschiedlicher Rechtsauffassung die Experten und die zuständigen Institutionen prüfen. Aber lassen Sie mich noch einmal sagen: Das einzige was wir tun können, die wir uns mit den Dingen beschäftigt haben, und was auch die Politik zu tun hat ist, über die Tatsachen aufzuklären. Es werden den Menschen Horrorzahlen nahe gebracht und die Wirklichkeit wird demgegenüber völlig außen vor gelassen. Wenn Sie gestatten sage ich es einmal an drei Zahlen: In den letzten fünf Jahren sind dauerhaft 298.000 Menschen in unser Land zugewandert. Das heißt jährlich im Schnitt 60.000. Das Kindernachzugsalter: Wenn sie es von 16 auf 14 senken, sind es 3.000 Kinder. Wenn sie von 14 auf 12 senken, sind es noch mal 3.000 Kinder, bei denen Eltern Kinder zurückschicken und zurückholen. Bei den geschlechtsspezifischen Verfolgungen: Nehmen wir gleich wieder den Fall der Steinigung einer jungen Frau in Nigeria. Es waren 670 Fälle im letzten Jahr, wo entweder Frauen ausgepeitscht, gesteinigt, gefoltert, gequält wurden. Warum reden wir nicht über diese Tatbestände und vor allen Dingen über die Integration.

    Ensminger: Sie haben eben die Zuwanderung der Kinder angesprochen, das Zuwanderungsalter. Das war ja ein langer Streit. Sahen Sie denn zum Schluss im Gesetz noch tatsächlich so viele gravierende Unterschiede zwischen dem, was vorlag, und dem, was die Union haben wollte, die diesen Aufruhr, den es dann gab, auch rechtfertigen würden?

    Süssmuth: Ich sage immer noch: wir hätten uns einigen können. Aber man kann nicht in einem Gesetz beim alten bleiben. Wenn es beim Anwerbestopp plus modifizierter Greencard bleiben sollte, dann hilft auch ein Vermittlungsausschuss nicht, denn es geht darum, Begrenzungsmaßnahmen durch kontrollierte, jährlich angegeben gesteuerte Zahlen zu erbringen, den humanitären Verpflichtungen gerecht zu werden. Ein Vermittlungsausschuss, der nicht acht Punkte, sondern den Charakter des Gesetzes grundlegend ändern soll, der macht keinen Sinn. Dann muss man sagen, das Gesetz ist gescheitert!

    Ensminger: Also hätte die Union zustimmen müssen?

    Süssmuth: Jede Partei, jede Fraktion muss das verantworten, aber wir waren jedenfalls im Juli/August vergangenen Jahres, als die Vorschläge vorlagen, und mit allen Veränderungen im Gesetz liegen wir so dicht beieinander wie möglich. Wenn wir uns aber ständig sagen, die einen öffnen alle Schleusen und die anderen begrenzen, dann ist kein Zusammenkommen möglich, denn dieses vorliegende Gesetz ist ein Begrenzungsgesetz, was zugleich sagt, an welchen Stellen wir im Interesse unseres eigenen Landes, um Arbeitsplätze zu erhalten oder zu schaffen, begrenzte, sehr begrenzte Zuwanderung zulassen.

    Ensminger: Also ist eigentlich die Entscheidung von Klaus Wowereit richtig gewesen? Der hat das auch damit begründet, dass er sagt, das Gesetz musste jetzt kommen?

    Süssmuth: Das Gesetz musste jetzt kommen. Das ist schon längst überfällig. Aber die andere Frage ist, ob der Bundesratsvorsitzende - das ist ja das, was ihm vorgeworfen wird - eine Entscheidung getroffen hat, die gegen das Grundgesetz verstößt, gegen den Artikel 51. Das ist zu klären. Dass wir dieses Gesetz dringend brauchen und unsere Probleme nur erhöhen ohne Gesetz, das steht für mich außer Frage.

    Ensminger: Jetzt ist das Kind ja in den Brunnen gefallen. Das heißt dieser Eklat im Bundesrat ist passiert. Was wäre aber denn jetzt der richtige Schritt, um vielleicht den Schaden wieder gut zu machen, den das Zuwanderungsgesetz an sich in der Öffentlichkeit in der Diskussion jetzt auch genommen hat?

    Süssmuth: Zunächst geht es mal darum, dass hier Botschaften an die Menschen gekommen sind, die uns auch für die Folgezeit Probleme machen, dass wir nämlich in der Abwehr der Ausländer wieder unsere Töne verschärft haben, dass sie hier in die sozialen Sicherungssysteme einwandern. Wenn sie nicht arbeiten dürfen, wandern sie in die sozialen Sicherungssysteme ein. Wenn wir sie nicht integrieren, haben wir höhere Kosten und höhere Probleme, so dass es jetzt wirklich darauf ankommt zu sagen, wir wollen das gemeinsam, und aufzuklären als Botschaft an die hier lebenden Ausländer, an die hier lebenden Menschen, ihnen die Ängste und Sorgen zu nehmen, dass hier Politikerinnen und Politiker unverantwortlich mit ihrer Situation umgehen, was ja nicht der Fall ist. Ich hoffe - das sage ich Ihnen auch -, dass sehr bald eine Entscheidung fällt über die Rechtmäßigkeit dieses Gesetzes, damit dann entsprechend gehandelt werden kann.

    Ensminger: Was passiert, wenn die Entscheidung nicht bald fällt?

    Süssmuth: Ich denke unser Land nimmt erheblichen Schaden. Das geht nach innen und nach außen. Denn in einem Land, in dem man diese Dinge nicht regeln kann, in dem Blockaden auftreten, in dem in dieser Weise über Ausländer gesprochen wird, wird sich auch die Attraktivität des Landes nicht erhöhen. Was mir aber noch viel wichtiger ist: wie gestalten wir eigentlich unser friedliches Miteinander, die Integration und auch die Adresse an die Menschen, die nämlich eine von Deutschland ist? Wie gehen wir miteinander um? Denn die Menschen haben sich weit besser gegenüber den Zuwanderern in den meisten Fällen verhalten, als wir es im Augenblick mit unseren gesetzlichen Regelungen tun.

    Ensminger: Was senden wir denn für Signale, wenn wir mit diesem Zuwanderungsgesetz tatsächlich vorm Bundesverfassungsgericht landen?

    Süssmuth: Wenn dieses Gesetz vorm Bundesverfassungsgericht landet, dann senden wir das Signal, dass wir in Deutschland nicht fähig sind, ein Gesetz mit den notwendigen Mehrheiten zum Wohle unseres Landes zu regeln.

    Ensminger: Vielen Dank! - So weit Rita Süssmuth von der CDU, ehemalige Bundestagspräsidentin und Leiterin der Zuwanderungskommission der Bundesregierung.

    Link: Interview als RealAudio