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Suizid im Alter

Friedbert Meurer: Im Durchschnitt fast 80 Jahre alt werden die Deutschen, die Frauen etwas älter als wir Männer, jeder aber von uns, ob Mann oder Frau, träumt davon, seinen oder ihren Lebensabend, möglichst gesund und vital erleben zu dürfen, damit man Reisen oder Hobbies nachholen kann, für die man ja während des Berufs einfach keine oder zu wenig Zeit hat. Aber der Wunsch von einem erfüllten dritten Lebensabschnitt ist das eine, die Realität oft eine andere. Viele pflegebedürftige Ältere seien suizidgefährdet oder begingen Selbstmord aus Angst, ins Altersheim zu kommen. Peter Klostermann will das erforscht haben, er ist Soziologe am Institut für Rechtsmedizin der Berliner Charité. Guten Morgen.

Moderation: Friedbert Meurer | 14.09.2004
    Peter Klostermann: Ich grüße Sie, Herr Meurer.

    Meurer: Habe ich Sie mit diesen Sätzen richtig wiedergegeben, pflegebedürftige Ältere sind besonders selbstmordgefährdet?

    Klostermann: Ja, das ist eigentlich schon der wesentliche Punkt, denn die Krankheit im Alter, vor allen Dingen, wenn es um schwere Erkrankungen geht, die die Mobilität von älteren Menschen einschränken, ist ein großes Problem für diesen Personenkreis.

    Meurer: Wie sind Sie bei Ihren Untersuchungen vorgegangen?

    Klostermann: Wir haben zunächst einmal uns die Fälle aus unserem eigenen Obduktionsgut aus den Jahren 1995 bis 2003 und haben dann anhand der Aktenlage und den wenigen Einzelgesprächen, anhand von Abschiedsbriefen und unserer eigenen Untersuchungsergebnisse, versucht, so etwas, wie den Hintergrund, der einem Suizid vorausgeht, näher zu erforschen oder klar darzustellen.

    Meurer: Haben Sie auch mit den Angehörigen gesprochen?

    Klostermann: Ja, teilweise, obwohl es ein großes Problem ist, weil Angehörige nach so einem Suizid sich sehr schnell zurückziehen und im Endeffekt hat man den Eindruck, dass sie so darunter leiden, dass sie sich selber Schuldvorwürfe machen, dass sie es hätten verhindern können.

    Meurer: Sie haben etwa 130 Selbstmordfälle untersucht. Wie viele Fälle davon sind Selbstmorde, weil die Betroffenen Angst hatten, ins Altersheim zu kommen?

    Klostermann: Direkt: die wenigsten Fälle natürlich. Überwiegend spielen hier die schweren Erkrankungen, die Einschränkungen der Mobilität die größte Rolle, aber indirekt lässt sich schon herauslesen, dass gerade bei den Schwererkrankten, was daher verwundert, dass die größtenteils zu Hause leben und versuchen über die Runden zu kommen, die aber eigentlich einer professionellen Hilfe bedürfen an die dieser Personenkreis aber nicht herankommt. Die Ressourcen, die uns eigentlich zur Verfügung stehen, erreichen praktisch den Betroffenen in den seltensten Fällen.

    Meurer: Ist die These, dass besonders schwer Pflegebedürfteige an Selbstmord denken, etwas gewagt, wenn Sie nur so wenige Fälle kennen?

    Klostermann: Das ist mir auch aus anderen Studien und Untersuchungen aus dem angloamerikanischen Raum bekannt, dass das der Fall ist. Das ist aber nicht der einzige Grund, sondern wir haben es auch natürlich mit den Altersdepressionen zu tun, auch ein Riesenproblem, das letztendlich für diesen Personenkreis auch nicht so stark im Vordergrund steht, sondern nur in ganz seltenen Fällen gelingt es, ältere Menschen auch einer adäquaten Behandlung zuzuführen, obwohl wir gerade im Bereich der Altersdepression natürlich Möglichkeiten haben zwischenzeitlich, aber das ist eine Form der Behandlung, die praktisch für diesen Personenkreis kaum in Erscheinung tritt.

    Meurer: Vor was haben ältere Menschen Angst, wenn im Raum steht, sie müssen ins Pflegeheim?

    Klostermann: Das sind ganz unterschiedliche Gründe. Auf der einen Seite oft eine völlig falsche Vorstellung von Pflegeheimen generell, denn eines kann man schon sagen: die Pflegeheime sind natürlich besser als ihr Ruf. Wenn allerdings, es gibt ja Untersuchungen, die sich mit der Einstellung von Pflegern und Pflegerinnen in Heimen, wenn da über 60 Prozent sagen, sie könnten sich nicht vorstellen, im Alter in einem Pflegeheim zu sein, dann können Sie sich ja ungefähr vorstellen, wo die Gründe liegen könnten.

    Meurer: Und wo?

    Klostermann: Einmal dass sie das Gefühl haben, sie werden dort nicht adäquat versorgt oder werden ins Pflegeheim abgeschoben. Aber es ist so ein wesentlicher Punkt, dieses sich selbst überlassen sein. Gar nicht mal so sehr, dass sie keine Verbindung mehr zu ihren Kindern. Es sind unterschiedliche Gründe, die ältere Leute davon abhalten, sich direkt um einen Pflegeheimplatz bemühen.

    Meurer: Sie wollen lieber zu Hause bleiben und die Angehörigen tun sich natürlich fast immer sehr schwer damit, pflegebedürftige Ältere ins Pflegeheim abzugeben. Muss deren schlechtes Gewissen mit Ihrer Studie jetzt noch größer werden?

    Klostermann: Nicht unbedingt. Für viele Angehörige wäre es natürlich auch eine Entlastung, weil sie selber ja auch über hochaltige Menschen sprechen, da können wir davon ausgehen, dass die Kinder diese Betroffenen in einer älteren Altersgruppe sind.

    Meurer: Aber die müssen ja Angst haben, dass ihre Eltern Selbstmord begehen.

    Klostermann: Nicht unbedingt. Es ist sowieso ein Phänomen, dass dieser Personenkreis eigentlich doch regelmäßigen Kontakt zu Ärzten und Angehörigen hat und dass das Thema Suizid in der Luft hängt. Es wird aber nicht ausgesprochen, weder beim Arzt noch bei den Angehörigen oder sie verdrängen dieses Thema auch. Das ist auch ein großes Problem, dass es überhaupt nicht in die Diskussion mit reinkommt, das Krankheitsbild als solches ist ja Suizidgefahr, wird dort auch immer ausgeblendet. Deswegen können sich manche Angehörigen auch nicht vorstellen, dass sie sagen, das hätte ich nie gedacht, dass mein Vater oder meine Mutter durch einen Suizid aus dem Leben scheidet.

    Meurer: Was raten Sie Angehörigen? Möglichst viel mit den Älteren reden?

    Klostermann: Ja, aber an sich auch mit den Ärzten kurzschließen, bei denen die Betroffenen in Behandlung sind, das heißt also Aufklärung durch den Arzt, weil der einen viel näheren Zugang zum Betroffenen hat aufgrund seiner Vorerkrankung, da wäre es viel sinnvoller, dass der Arzt so eine Thematik anspricht, wenn er weiß, dass derjenige zum Beispiel an einer schweren Tumorerkrankung leidet, starke chronische Schmerzen hat, mit der Lebenssituation so eigentlich gar nicht zurechtkommen kann und da fehlt es auch an Aufklärung durch den niedergelassenen Arzt.