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Supraleitung bei Raumtemperatur
Der heilige Gral der Festkörperphysik

Wer Supraleiter nutzen will, der muss sie heute noch kühlen, typischerweise auf -200 Grad Celsius. Jetzt präsentieren US-Amerikaner erstmals ein Material, das bei Raumtemperatur verlustfrei elektrischen Strom leitet. Leider hat auch dieser Triumph einen Haken, doch ein Fortschritt ist es allemal.

Von Frank Grotelüschen | 15.10.2020
Supraleiter-Labor an der Universität von Rochester, USA
"Derzeit geht durch Verluste in den Stromleitungen viel verloren. In den USA sind es 200 Millionen Megawattstunden, das sind Einbußen von 20 Milliarden Dollar" (Adam Fenster)
Als Ranga Dias, Physiker an der Universität Rochester in den USA, das erste Mal die Messkurve erblickte, traute er der Sache noch nicht so recht. Plötzlich war der elektrische Widerstand seiner Probe auf null gesunken. An sich ein typisches Verhalten für einen Supraleiter: Unterhalb einer bestimmten Temperatur verschwindet der Widerstand, der Strom kann verlustfrei fließen. Das Verblüffende an Dias‘ Experiment war die Temperatur, bei der es passierte – 15 Grad Celsius, also praktisch bei Raumtemperatur. Zum Vergleich: Supraleiter müssen bislang, damit sie funktionieren, mindestens auf minus 200 Grad gekühlt werden.
Ein Problem, das über 100 Jahre alt ist
"Einen Supraleiter zu entdecken, der bei Raumtemperatur funktioniert, ist so etwas wie der heilige Gral der Festkörperphysik. Es ist ein Problem, das über 100 Jahre alt ist. Manchmal haben wir schon gedacht: Oh, das ist ja gar nicht möglich. In diesem Sinne ist es eine fundamentale Entdeckung."
Schematischer Aufbau zur Herstellung eines Supraleiters bei Hochdruck
Unter Hochdruck zeigt der schwefelhaltige Materialmix supraleitende Eigenschaften - bei Zimmertemperatur. (Michael Osadciw)
Wie hat das Team von Ranga Dias das geschafft? Ausgangspunkt war ein Materialmix aus Kohlenstoff, Schwefel und Wasserstoff. Eine winzige Probe davon füllte das Team in einen winzigen Diamantstempel, um das Material buchstäblich unter Hochdruck zu setzen – 4 Gigapascal, 40.000-facher Atmosphärendruck.
Unter Hochdruck
"Dann leuchten wir mit einem grünen Laser in die Probe, um eine chemische Reaktion auszulösen. Nach einiger Zeit entstehen Kristalle. Und das ist das magische Material. Wir nennen es kohlenstoffhaltigen Schwefelwasserstoff."
Danach zogen die Physiker die Daumenschrauben weiter an, bis auf den 270.000-fachen Atmosphärendruck – und stellten fest, dass die Kristalle bereits bei 15 Grad supraleitend wurden, ein Weltrekord. Um sicherzugehen, vermaßen sie auch noch die magnetischen Eigenschaften des neuen Supraleiters.
"Das war eine weitere Bestätigung, dass es sich um einen Supraleiter handelt. Damit haben wir alle wesentlichen Messungen gemacht, um das zu beweisen."
Nun sind Experimente bei Hochdruck überaus schwierig. Ihre Ergebnisse haben in der Vergangenheit immer wieder für erbitterte Fachdiskussionen gesorgt. Doch diesmal scheint alles sauber. "Stimmt wahrscheinlich", kommentiert Mikhail Eremets vom Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz das neue Resultat. Und das will was heißen: Eremets hatte den alten Weltrekord gehalten, aufgestellt im letzten Jahr – einen Supraleiter, der seinen Widerstand bei -23 Grad Celsius verliert, ebenfalls unter Hochdruck. Dass der neue Supraleiter bislang nur bei extremem Druck funktioniert, ist natürlich ein Manko, sagt Ranga Dias.
Von einem Extrem ins andere
"Da kann man sagen: OK, man begibt sich von einem Extrem ins andere: Zwar klappt es jetzt mit der Raumtemperatur, dafür muss man diese extremen Drücke in Kauf nehmen. Aber zumindest wissen wir jetzt, dass ein Raumtemperatur-Supraleiter möglich ist. Und sobald wir den Mechanismus dahinter verstehen, können wir vielleicht auch ein Material entwickeln, das bei Umgebungsdruck funktioniert."
Und das, meint Ranga Dias, würde lukrative Anwendungen versprechen, zum Beispiel für Magnetschwebebahnen, supraleitende Quantencomputer und die Magnetresonanz-Tomographie. Und natürlich für das Stromnetz der Zukunft, ein Milliardenmarkt.
"Derzeit geht durch Verluste in den Stromleitungen viel verloren. In den USA sind es 200 Millionen Megawattstunden, das sind Einbußen von 20 Milliarden Dollar. Stellen Sie sich vor, Sie könnten die heutigen Leitungen durch supraleitende Kabel ersetzen. Dann ließe sich der Strom völlig verlustfrei transportieren. Das würde viel Geld sparen und das Stromnetz deutlich effizienter machen."