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Sure 9 Vers 71
Männer und Frauen machen gemeinsam Politik

Das Bild einer idealen Solidargemeinschaft - im Islam sind die Fundamente für eine solche Gestaltung der Gesellschaft gelegt worden. Das ist zumindest die Auffassung einiger zeitgenössischer Koran-Gelehrter.

Von Jun.-Prof. Dr. Muna Tatari, Universität Paderborn | 30.12.2016
    "Die gläubigen Männer und die gläubigen Frauen sind einer des anderen Freund. Sie gebieten das Gute und verbieten das Böse und verrichten das Gebet und zahlen die Armenabgabe und gehorchen Gott und seinem Gesandten. Sie sind es, derer Gott sich erbarmen wird. Wahrlich, Gott ist mächtig und weise."
    Dieser Vers entwirft das Bild einer idealen Solidargemeinschaft. Ihre Basis ist Freundschaft. Der arabische Begriff für Freund geht auf die Wortwurzel "waliya" zurück, die unter anderem folgende Bedeutungen umfasst: unmittelbar sein, benachbart sein, Freund sein, jemandem helfen und: Vertrauen schenken.
    Die Sendereihe Koran erklärt als Multimediapräsentation
    Ein "wâlî" ist demnach ein Freund, Unterstützter und Helfer, also eine Person, die den Menschen, um den es geht, kennt und ihm beziehungsweise ihr quasi den Rücken freihalten kann. Freundschaft zwischen Menschen kann nicht verordnet werden, sondern nur zwischen Menschen wachsen, die vertrauensstiftende Erfahrungen gemacht haben. "Al-Wâlî", der Freund, ist auch einer der 99 Schönsten Namen Gottes.
    Der arabische Begriff für Gläubige ist "muʾmin" und leitet sich von dem Wort "amuna" ab. Dieses Wort umschließt die Bedeutung: sich sicher fühlen, vertrauen und bestätigen. Der davon abgeleitete Glaubensbegriff "‘îmân" bezeichnet mithin Glauben aufgrund von Erfahrungen und Gewissheit.
    Muna Tatari neben einem Regal mit arabischen Büchern. 
    Muna Tatari ist Junior-Professorin für Islamische Systematische Theologie an der Universität Paderborn. (priv.)
    "Al-Muʾmin" ist ebenfalls einer der 99 Schönsten Namen Gottes. Er beschreibt Gott als jemanden, der sowohl vertrauenswürdig ist als auch auf das Gute im Menschen vertraut, im Wissen um dessen Ambivalenz.
    Im Vers heißt es weiter, dass auf Gott vertrauende Männer und Frauen in dieser Art von Freundschaft miteinander verbunden sind. Zusammen gebieten sie das Gute und verbieten das Böse.
    Während die klassische Exegese dies vor allem auf die gottesdienstlichen Handlungen bezog, gehen zeitgenössische Ansätze auf die wörtliche Bedeutung der Formulierung ein: Männer und Frauen machen den Einsatz für das Gute zu ihrer Angelegenheit und wehren gemeinsam den Einfluss des Bösen ab.
    In diesem Sinne lässt sich die Formulierung: "sie verrichten das Gebet und zahlen die Armenabgabe" auch über die Erfüllung der individuellen religiösen Verpflichtung hinaus verstehen: Männer und Frauen verrichten das Gebet, das heißt, sie schaffen Raum für Frömmigkeit und Spiritualität. Und: sie setzen sich für gerechtere wirtschaftliche und soziale Verhältnisse ein.Letzteres weist auch auf die Partizipation beider Geschlechter an der Gestaltung von Gemeinschaft hin. Ergo: Männer und Frauen machen gemeinsam Politik.
    Und, so geht der Vers weiter, sie gehorchen Gott und seinem Gesandten. Der koranische Gehorsams-Begriff meint keinen blinden Gehorsam. Im Gegenteil. Als Gegenbegriff zu "Zwang" meint er: Der Mensch stimmt Gottes Plan und Wunsch für die Schöpfung zu - und zwar aus Einsicht, Fähigkeit und Freiwilligkeit.
    Gläubigen, die sich so verhalten, verspricht Gott seine Barmherzigkeit, die noch über eine allgemeine alles und alle versorgende Barmherzigkeit hinausgeht. Entsprechend der Wortbedeutung von "Barmherzigkeit" sagt Gott den auf ihn vertrauenden Männern und Frauen seine Milde, seine Zärtlichkeit und seinen umsorgenden Schutz zu.
    Muslime, denen der Inhalt ihrer Heiligen Schrift wichtig ist, bemühen sich mit ihrer Praxis, von der immer wieder neu erfassten Wahrheit dieses Verses Zeugnis abzulegen.
    Bei der Audioversion handelt es sich um eine aus Gründen der Sendezeit leicht gekürzte Fassung dieses Textes.