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Susan Taubes: "Nach Amerika und zurück im Sarg"
Eine Grenzgängerin zwischen Leben und Tod

Die Philosophin und Schriftstellerin Susan Taubes führte ein rastloses Leben zwischen New York, Paris und Jerusalem, zwischen einem zunehmend unglücklichen Eheleben und ihrer Existenz als Intellektuelle und Autorin. Ihr letzter Roman zeugt von diesem Kampf – und ist doch viel mehr als ein autobiografischer Text.

Von Angela Gutzeit | 28.10.2021
Susan Taubes: "Nach Amerika und zurück im Sarg"
"Ein beklemmender wie großartigen Roman", urteilt Angela Gutzeit über Susan Taubes "Nach Amerika und zurück im Sarg" (Taubes Estate / Matthes und Seitz Verlag )
Es war am 6. November 1969: Am Atlantikstrand von East Hampton bei New York wurde die Leiche von Susan Taubes angespült. Die Philosophin und Schriftstellerin hatte sich das Leben genommen. Wenige Tage zuvor war ihr Buch "Divorcing" bei Random House erschienen – ihr einziger zu Lebzeiten publizierter Roman. In diesem Buch geht es um die Lebensgeschichte einer aus Ungarn in die USA immigrierten Autorin, namens Sophie Blind. Die Besonderheit: Erzählt wird aus der Perspektive einer Toten oder – mit diesen Varianten wird im Roman immer wieder gespielt - einer Grenzgängerin zwischen Leben und Tod.
"Ja, ich bin tot. Schon als ich ankam wusste ich, dass ich tot bin, aber ich wollte es als Erste sagen."
Vieles deckt sich in diesem Roman mit den realen Daten und Ereignissen im Leben der Susan Taubes: Die Herkunft aus einer ungarisch-jüdischen Familie in Budapest, die Scheidung der Eltern, 1939 die Immigration des Kindes in die Vereinigten Staaten mit dem Vater, einem Sigmund Freud verpflichteten Psychoanalytiker. Dazu das Scheitern ihrer eigenen Ehe mit dem Religionsphilosophen Jacob Taubes. Letzteren muss man wohl, wenn auch überzeichnet, in der Figur des Ezra Blind vermuten. Insbesondere im ersten Kapitel des fünfteiligen Romans wird er als ein herrsch- und sexsüchtiger Despot vorgeführt:
"Er erzählte ihr, was andere Frauen aus Verzweiflung täten, wie tief sie sinken, in welche Abgründe von Obszönität und Perversion; wie gern sie sich demütigen, herabwürdigen ließen, darum bettelten, dass man sie zertrample. Sie sei im Grunde leider nicht masochistisch veranlagt, seufzte er. Bei ihr wären Prügel nur rein zweckmäßig, kein erotisches Erlebnis wie bei einer anderen Frau, die er kenne, die auf allen vieren herumkröche und ihn anwinsele, dass er sie auspeitsche, die sogar seine Scheiße fressen würde…"

Der falsche Titel

Das Ehedrama der Taubes, der Selbstmord der Autorin, der nun angesichts ihres letzten Romans mit seiner durchgängigen Todesthematik wie ein Freitod mit Ankündigung wirkte, dazu der Titel "Divorcing", im Deutschen "Scheiden tut weh" - wen wundert es da, dass dieses Buch als autobiografischer Eheroman der promovierten Intellektuellen Susan Taubes rezipiert und damit in seiner Bedeutung minimiert und verkannt wurde? Die Neuausgabe, nun nach dem ursprünglichen Wunsch der Autorin betitelt mit "Nach Amerika und zurück im Sarg", kann jetzt zum Glück in einem anderen Licht erscheinen. Entscheidenden Anteil daran hat nicht zuletzt die Literaturwissenschaftlerin Christina Pareigis, die in ihrer Eigenschaft als Nachlassbetreuerin im vergangenen Jahr eine sehr kundige und lesenswerte "Intellektuelle Biografie" Susan Taubes vorlegte.
Man solle sich hüten, so Pareigis, diesen Text zu autobiografisch zu nehmen. Und in der Tat: Taubes Protagonistin, die gleich zu Beginn des Romans von ihrem Unfalltod in Paris erzählt, ist eine seltsam unzuverlässige Erzählerin, die immer wieder nahelegt, sie selbst könnte die Verfasserin dieses Buches sein. Dabei befindet sie sich mal im Traum, mal in einer vermeintlichen Realität. Ständig wechseln die Zeit- und Bewusstseinsebenen wie auch die Erzählperspektiven. Sophie Blind kämpft um Orientierung und Bewusstwerdung, einer Bewusstwerdung, die nach der Logik dieses Textes nicht zu haben ist, so lange man sich dem Leben verpflichtet sieht.
"Der Kampf findet in der Zeit und gegen die Zeit statt, so viel ist gewiss. Das Ziel ist weniger klar. Die Start- und Ziellinien ziehen. Einen Kurs bestimmen. Aus dem Morast der Erinnerung und der Zersplitterung der Gegenwart etwas bergen – aber was?"

Zwischen Traum und Wirklichkeit

Geborgen werden Fragmente eines beschädigten Lebens. Sophie Blind sieht sich umstellt von einem Figuren-Ensemble, das sie zu Lebzeiten und nun auch noch als Tote bedrängen: der Ehemann, Gelehrte und Rabbiner Ezra Blind, der sie weiter in seiner Gewalt haben will. Ivan, der Geliebte, dessen realer Existenz sie sich nie sicher sein kann. Die Mutter Kamilla, die ihr Kind nie liebte. Der Vater und Psychoanalytiker Rudolf Landsmann, der ihr stets das Gefühl vermittelte, "als wisse er etwas, das man selbst nicht wusste, nur dass dieses Wissen schrecklich war", wie es Text heißt. Alles Varianten der Auslöschung, die sich in surrealen, halluzinatorischen wie auch parodistischen Szenen Bahn brechen. Mal liegt Sophie Blind im Leichenschauhaus und soll einem Gerichtsprozess unterzogen werden. Während man über sie und mit ihr spricht, wird ihr Körper in Einzelteile zerlegt. Mal sieht sie sich am Meeresboden, mal in einem abstürzenden Flugzeug. "Wirst du denn nie annehmen können, dass du eine Fiktion bist?" fragt Ezra Blind, von dem Sophie sich verzweifelt versucht zu befreien.
In den weiteren Teilen des Buches weichen die Traumszenen und flirrenden Bewusstseinszustände eher realistischen Schilderungen. Erzählt wird von der Geschichte Ungarns, von der frühen Kindheit in Buda im Kreis einer teilweise jüdisch-orthodoxen Familie, von der erzwungenen Emigration während der Nazizeit und vom rastlosen Reisen zwischen den Kontinenten.
Kenntlich wird nun, um welchen Schmerzpunkt diese fünf Kapitel des Romans eigentlich kreisen. Sie habe das Boot nie verlassen, auf dem sie 1939 in den USA angekommen sei, heißt es im Roman.

So beklemmend wie großartig

"Die erste Überquerung mit dem Schiff nach Amerika legte einen Ozean von Minen und schwärmenden U-Booten zwischen sie und ihre Kindheit in Budapest, eine Seereise, ein Weltkrieg, ein anderes Land, eine andere Sprache - Entfernungen, die sich nicht in Meilen oder Jahren messen lassen - (…)."
Die Todeslager der Nazis in Europa seien ihr näher und wirklicher als die Drugstores in Amerika, so an anderer Stelle. Vor diesem Hintergrund heißt es Zeugnis ablegen, nach der Wahrheit und nach einem Zusammenhalt in all dieser Zerrissenheit, Vernichtung und Ortlosigkeit zu suchen.
Das, so legt es Susan Taubes nahe, sei – zumindest als Versuch - nur im Buch, im Schreiben noch möglich. Nicht in der Religion, nicht im Leben. Hinterlassen hat Susan Taubes nicht nur diesen beklemmenden wie großartigen Roman, sondern ein ganzes Konvolut von erzählenden Texten, Notizheften, Tagebüchern, Briefen. Es lohnt sich unbedingt, die vielen Facetten dieser bedeutenden Philosophin und Schriftstellerin auch weiterhin zu erkunden.
Susan Taubes: "Nach Amerika und zurück im Sarg", Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Nadine Miller
Verlag Matthes & Seitz Berlin, Berlin 2021
372 Seiten, 22 Euro
Christina Pareigis: "Susan Taubes. Eine intellektuelle Biographie"
Wallstein Verlag, Göttingen 2020
472 Seiten, 29 Euro