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Susanne Fritz: "Wie kommt der Krieg ins Kind"
Wie ein Trauma über Generationen überlebt

In ihrem Buch "Wie kommt der Krieg ins Kind" berichtet Susanne Fritz vom Schicksal ihrer Mutter, die mit 14 Jahren in ein polnisches Arbeitslager kam. Über die schlimmen Erlebnisse dort schwieg sie ein Leben lang - und gab das Trauma damit an ihre Tochter weiter.

Von Melanie Weidemüller | 12.04.2018
    Buchcover Susanne Fritz: Wie kommt der Krieg ins Kind und im Hintergrund die Autorin
    Mit gerade mal 14 Jahren wurde die Mutter der Autorin Susanne Fritz in ein Arbeitslager verschleppt (Buchcover: Wallstein Verlag / Hintergrund: Deutschlandradio/Stefan Fischer)
    2015 veröffentlichte die Journalistin Susanne Fritz in der Zeitschrift "Lettre" unter dem Titel "Fingerabdruck" einen biografischen Essay, in dem sie von ihrer deutsch-polnischen Familiengeschichte erzählt. Ihre Mutter, erfahren wir dort, war vierzehn Jahre alt, als sie im Frühjahr 1945 auf der Flucht von russischen Truppen aufgegriffen, verhaftet und in das polnische Arbeitslager Potulice verschleppt wird; erst vier Jahre nach Kriegsende kommt sie frei. Ein tragisches Vertriebenen-Schicksal – nur würde Susanne Fritz diese abstrakte Worthülse nie gebrauchen.
    Die 1964 im Schwarzwald geborene Autorin, Regisseurin und Bühnenkünstlerin ist keine allwissende Biografin, keine Geschichtserklärerin, vielmehr eine hochreflektierte, skrupulöse, sich an das persönliche Erleben haltende Erzählerin. Eine Fährtensucherin und Spurenleserin, die die prekären Bedingungen ihres Schreibens offenlegt und mit journalistischer Akribie und großem Einfühlungsvermögen die Abgründe ihrer Familiengeschichte und der eigenen Psyche erkundet. Gibt es eine Sprache für das Unbeschreibliche, jenen Tabu-Bereich, in dem die Mutter ihre Erlebnisse verschloss, den sie panisch verteidigte? Hat sie als Tochter ein Recht, das Verschwiegene ans Licht zu heben?
    Fingerabdruck als Ausgangspunkt
    Aus dem 2015, einige Jahre nach dem Tod der Mutter veröffentlichten Essay ist nun ein ganzes Buch geworden. "Wie kommt der Krieg ins Kind" , so der Titel, nimmt abermals seinen Ausgangspunkt beim Sinnlich-Konkreten: Dem Fingerabdruck der Mutter auf ihrer Gefangenen-Akte, die Susanne Fritz im polnischen Staatsarchiv in Bromberg aufspürte.
    "Er sagt, ja, es ist wahr. Meine Mutter war hier, und sie ist es noch: Verkörpert und verewigt in dieser schlichten, rohen Spur ihres jungen Körpers, der Fingerkuppe ihres linken Zeigefingers. Ich lege meine Hand so vorsichtig wie möglich neben ihren Abdruck, als könnte eine bloße Luftbewegung ihn vertreiben oder beschädigen, als störte ich, machte ihm Angst. Die Zeit, gut siebzig Jahre, hat den Stacheldraht, der um meine Mutter gezogen war, nicht verrotten lassen. Auch die Mauern, die sie gefangen hielten, sind noch intakt. Die Kälte, die Angst, den Hunger, ihre gehasste Glatze berühre ich in diesem tintenblauen Fleck. Auch die Willkür ist in ihm lebendig, die tägliche Gewalt und das Rätsel ihrer Anwesenheit an diesem Ort."
    "Wie kommt der Krieg ins Kind" ist ein sehr persönliches Buch, gleichwohl ein ungemein lehrreiches und politisch brisantes. Susanne Fritz verschränkt persönliche familiäre Erfahrungen über drei Genrationen und zwei Weltkriege mit der komplizierten Geschichte deutsch-polnischer Beziehungen, zieht historische Dokumente und Zeitzeugen heran, analysiert Fotos, bereist Schauplätze und konsultiert Historiker.
    Die Familie mütterlicherseits stammte aus der Kleinstadt Schwersenz im Landkreis Posen, wo schon der Urgroßvater am Marktplatz eine gut laufende Bäckerei betrieb. Sie gehörte zur deutschen Minderheit, die in den Wirren der Zeitläufte und Machtverhältnisse Uniformen, Namen und Seiten wechselt. Aus Not, Opportunismus oder Überzeugung? Das können auch Susanne Fritz Recherchen nicht endgültig klären. Im Zentrum stehen die Großeltern, die die Autorin nie persönlich kennengelernt hatte: Georg Mattulke, seine Frau Elisabeth und die Kinder, darunter ihre 1931 geborene Mutter Ingrid.
    "Ich betrachte Georgs Welt im Kaleidoskop, bei jeder Drehung entsteht aus denselben Partikeln ein neues Bild. Ohne sich selbst von der Stelle zu rühren, erwacht Georg in einer anderen Welt.
 Als er die Uniform der Königlich Preußischen Armee ablegt, behalten andere sie an: Mit rotweißer Armbinde wird sie zum Waffenrock der polnischen Unabhängigkeitsbewegung, die sich zum Großpolnischen Aufstand weitet."
    Wechselvolle Geschichte der Stadt Schwersenz
    Anfang des Jahrhunderts gehört Schwersenz zum Deutschen Reich, nach dem Vertrag von Versailles 1919 zur Zweiten Polnischen Republik. Im Dritten Reich wird die Kleinstadt von den Nazis besetzt, "rassisch gesäubert" und in "Schwaningen" umbenannt, 1945 von der Roten Armee erobert und fällt schließlich zurück an Polen. Wechselnde Machtverhältnisse, Revanchismus, Nationalismus und Rassenideologie – aus dem einstigen Schtetl und einer über Jahrzehnte multikulturellen Koexistenz wird schließlich ein Ort der Verdrängung und Vernichtung. Wie dachte und handelte in solchen Zeiten Großvater Georg Mattulke, der Bäcker mit polnischen angestellten, der NSDAP-Mitglied wurde und ab 1939 die Uniform eines Oberwachtmeisters trug? War er nur Mitwisser oder sogar, wie der Onkel zu erinnern meint, an einem Kommando zur Judenerschießung beteiligt?
    "Die Niedergeschlagenheit ist die häusliche Form der schweren Schuld, die Georg nach Ausführung des Befehls auf dem Exekutionsplatz zurücklässt. Geredet wurde darüber nicht, doch vieles gewusst. Das Schweigegebot des Polizisten setzt sich fort im Frage- und Erinnerungstabu seiner Kinder, drückt sich aus in einer Erzählweise, die das Nebulöse nicht verlässt, richtet sich gegen den Wissensdrang der Kindeskinder, die es ausleuchten, mehr erfahren wollen, hält auch die Kindeskinder untereinander in Schach, am Bild der Toten nicht zu rütteln, ihre Geister ruhen zu lassen.
    Susanne Fritz begeht nicht die Torheit, über Schuld und Unschuld zu richten in für uns Nachgeborene unvorstellbaren Verhältnissen. Aber sie begnügt sich auch nicht mit verharmlosenden Floskeln, Relativierungen und Ausweichmanövern. Sie will verstehen, was ihre Großeltern und die Mutter verschwiegen, wer sie waren, wie alles so kommen konnte. Endlich Erklärungen dafür finden, warum die Welt ihrer Kindheit von einer Atmosphäre der Angst und Tabus geprägt war, die zum Teil ihrer selbst wurden.
    "Langsam begriff ich. Der Krieg war nicht zu Ende. Der Irrsinn vergangener Tage wütete in unserem Haus."
    Nein, stimmungsaufhellend ist dieses Buch gewiss nicht, auch wenn der Schreibstil von Susanne Fritz zuweilen ironisch blitzt. Sie schildert bis in die konkreten Details die Folgen körperlicher und seelischer Gewalt, von Prügelstrafen bis hin zur unvorstellbar perfiden Grausamkeit der Vernichtungsmaschinerie des NS-Regimes, die im besetzten Polen erprobt wurde und dann im deutschen Kern-Reich zum Einsatz kam.
    Wir erfahren vom Lager-Alltag und Leid der verschleppten 14-jährigen Mutter, nachdem sich zu Kriegsende die Machtverhältnisse umkehrten und die zuvor von den deutschen Besatzern gequälten Polen und Russen auf Rache sannen. Ein Eintrag in die berüchtigte "Deutsche Volksliste" macht das Mädchen nun zur Täterin, die es als Arbeitssklavin zu bestrafen gilt. Die historischen Fakten sind nicht neu, auch nicht der literarische Stoff, schreiben doch die von Sabine Bode als "Kriegsenkel" bezeichneten Kinder der Kriegskinder fleißig an den Geschichten ihrer Mütter, Väter, Großmütter und Großväter und bringen zunehmend mehr Licht in das Weltkriegsgräuel.
    Transgenerationelle Weitergabe der Kriegstraumata
    Das Bemerkenswerte an Susanne Fritz’ neuem Buch "Wie kommt der Krieg ins Kind" aber ist – neben der akribischen Recherche und ihrem Sprachtalent – die besondere Perspektive, die seit den Bestsellern von Sabine Bode immer mehr ins Blickfeld der heute 45- bis 60jährigen Kriegsenkel gerät: Der Fokus liegt hier nicht mehr auf dem bloßen Erinnern und Aufarbeiten, sondern auf dem Fortwirken traumatischer Erfahrung über die Generationen hinweg. Psychologen sprechen von "transgenerationeller Weitergabe", Wissenschaftler und Biologen erforschen in der noch jungen Disziplin der "transgenerationellen Epigenetik", ob Traumata tatsächlich dauerhaft Zellen und Keimzellen verändern und Traumata somit genetisch vererbbar sind – als Angsterkrankung, Depression oder körperliches Leiden. Damit weist ihr Buch über sein historisches Thema hinaus in die Zukunft.
    Auch die aktuellen Flucht- und Kriegserfahrungen weltweit könnten nicht nur eine traumatisierte Generation hinterlassen, sondern sich dauerhaft in Millionen Körper und Seelen einschreiben. Kein schöner Gedanke. Enden wir besser mit einer ausdrücklichen Lese-Empfehlung und Worten von Susanne Fritz, nachdenklich ein Passbild ihrer neunjährigen Mutter betrachtend, das sie in den Akten fand:
    "Ein Kind schaut mich an. Ein Kind, eingesperrt in ein Passbild, lächelt. Es lächelt alle ohne Unterschied an, wer mit welcher Absicht auch immer es betrachtet."
    Susanne Fritz: "Wie kommt der Krieg ins Kind"
    Wallstein Verlag, Göttingen 2018. 268 Seiten, 20 Euro.