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Sven Giegold (Grüne)
"Der Rat greift ins Selbstbestimmungsrecht des Europaparlaments ein"

Der Europaparlamentarier der Grünen, Sven Giegold, hält es für übergriffig, dass die Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat auch über den Posten des Parlamentspräsidenten verhandeln. So führe eine höhere Wahlbeteiligung bei der Europawahl nun zu einem Verlust an Demokratie, sagte er im Dlf.

Sven Giegold im Gespräch mit Jasper Barenberg |
Der Grüne Europaabgeordnete und Kandidat für die Europawahl, Sven Giegold, von Bündnis 90/Die Grünen, spricht während der 43. Bundesdelegiertenkonferenz in Leipzig.
Sven Giegold war Spitzenkandidat der Grünen für die Europawahl 2019 (dpa / Jan Woitas)
Jasper Barenberg: Fünf Wochen und zwei Sondergipfel waren nicht genug, aber auch eine zähe Nacht und eine Verlängerung in Brüssel hat nichts daran geändert. Es gibt im Kreis der europäischen Staats- und Regierungschefs viele Vorschläge über die Nachfolge von Jean-Claude Juncker an der Spitze der mächtigen EU-Kommission und über die anderen Spitzenposten, aber es gibt eben keine Einigung. Auch nicht auf den Vorschlag, den sozialdemokratischen Spitzenkandidaten Frans Timmermans als Zweitplatzierten zum Kommissionschef vorzuschlagen. Stattdessen ist die Lage verfahren. Heute ab elf Uhr müssen die Beratungen weitergehen. Im Interview mit dem ZDF macht der konservative Spitzenkandidat Manfred Weber inzwischen klar, dass er um die Widerstände gegen seine Person weiß, aber auch, dass er an seinem Anspruch festhält.
O-Ton Manfred Weber: "Europaweit ist meine Parteienfamilie die größte Fraktion, die größte Partei. Kompromiss steht im Mittelpunkt, aber wir müssen das Wahlergebnis respektieren. Das ist meine Botschaft und ich hoffe, dass es morgen auch bei den Staats- und Regierungschefs ankommt. Der Vertrag ist doch kristallklar: Das Wahlergebnis muss entsprechend berücksichtigt werden, wenn es um die Verteilung der wichtigen einflussreichen Funktionen Europas geht. Deswegen sollte jeder, der sich um so eine Spitzenfunktion bewirbt, sich vorher den Menschen in der Wahl zeigen."
Barenberg: Die Haltung des CSU-Politikers Manfred Weber. – Die Zeit drängt jetzt ohnehin, auch weil das Europäische Parlament sich heute konstituiert und morgen schon einen neuen Präsidenten oder eine neue Präsidentin wählen will. – Am Telefon ist Sven Giegold, einer der beiden Spitzenkandidaten der Grünen bei der Europawahl. Schönen guten Morgen, Herr Giegold.
Sven Giegold: Ja! Guten Morgen, Herr Barenberg.
Barenberg: Herr Giegold, wer hinterlässt eigentlich gerade den schlechteren Eindruck, der Rat der Staats- und Regierungschefs, oder das Parlament?
Giegold: Das finde ich völlig eindeutig. Das ist in diesem Fall der Rat. Er tagt hinter verschlossenen Türen und führt Argumente ins Feld, die aus meiner Sicht völlig unzulässig sind – zum Beispiel gegen Herrn Timmermans, dass er sich zu sehr für Rechtsstaatlichkeit eingesetzt hat. Er hat sich dort deutlich geäußert. Er ist nicht mal überall vorgegangen in seiner Zeit in der Kommission, wo das nötig gewesen wäre, etwa in Malta. Aber dass er in Polen und Ungarn deutliche Maßnahmen ergriffen hat und auch bei Rumänien deutliche Worte gefunden hat, das war richtig und das kann ja nicht gegen einen möglichen Chef der EU-Kommission ins Feld geführt werden. Das Europaparlament dagegen hat inhaltlich verhandelt. Sie haben auf grünes Drängen hin zusammen mit den anderen Parteien da über Inhalte verhandelt, um die es doch eigentlich gehen muss bei der Besetzung der Spitzenposten. Hier werden nur Personen gehandelt, aber nicht Programme, und aus guten Gründen reden wir zuerst über Inhalte, Klimaschutz und sozialen Zusammenhalt in Europa, und danach über das Personalpaket.
"Nein, das ist kein Scheitern"
Barenberg: Was die Argumente taugen, darüber können wir gleich noch reden. Inhalte hängen ja bekanntlich auch immer mit den Personen zusammen. Aber muss man nicht unter dem Strich auch sagen, das Parlament ist seiner Verantwortung nicht gerecht geworden, denn schließlich hat es ja auch keine Mehrheit für einen der Spitzenkandidaten zusammen bekommen als Signal an die Staats- und Regierungschefs, an dieser Person, an dieser Persönlichkeit kommt ihr nicht vorbei bei euren Beratungen.
Giegold: Zunächst mal ist die Reihenfolge verdreht. In Deutschland, wenn wir in Bremen über einige Wochen verhandeln und dort eine Koalition zusammenbringen, dann ist das ganz normal. Wenn wir im Europaparlament die großen Fragen europäischer Politik – und Europa steht wahrhaft vor großen Herausforderungen -, wenn wir die innerhalb von einigen Wochen nicht vollständig lösen können, wobei die Verhandlungen weit fortgeschritten sind, wir aber zum Beispiel beim Klimaschutz noch nicht die starken Zugeständnisse aller beteiligten Parteifamilien haben, die wir brauchen, dann ist das ein Scheitern. Nein, das ist kein Scheitern, sondern die Verhandlungen im Parlament laufen, sie laufen auch anständig unter den verschiedenen Partnern, und daraus erst können die notwendigen Namen folgen.
Barenberg: Herr Giegold! Entschuldigung, wenn ich da zwischengehe. Aber die Termine sind Ihnen doch bekannt. Die Programme der Parteifamilien lagen auf dem Tisch. Die Europawahl ist gelaufen. Die Spitzenkandidatinnen und Kandidaten waren nominiert und Ihnen ist klar, heute oder morgen sollte der Parlamentspräsident gewählt werden, die Parlamentspräsidentin als Teil eines großen Paketes, um das es ja am Ende immer geht. Und dann sagen Sie jetzt, die Reihenfolge ist verkehrt – als Grund, warum Sie nicht zu Potte gekommen sind im Parlament?
Giegold: Ich kann Ihnen nur sagen, die Verhandlungen laufen in fünf Arbeitsgruppen. Die laufen sehr vernünftig. Eine Arbeitsgruppe ist mit der Arbeit fertig. Die übergreifenden Themen, wie das Funktionieren der Demokratie im Parlament, die Veränderungen dort für mehr Transparenz sind abgeschlossen und es gibt noch eine sehr begrenzte Zahl inhaltlicher Fragen. Dort bin ich mir sicher, wir wären zueinander gekommen, wenn wir nicht diesen starken Übergriff des Rates gesehen hätten. Parallel zu dem ganzen Verfahren im Parlament wurde ja von vornherein mit einem Sondergipfel abends, zwei Tage nach der Wahl, im Rat ein paralleles Spielfeld eröffnet.
Das geht jetzt sogar so weit, dass in die Selbstbestimmungsrechte des Europaparlaments eingegriffen wird, indem der Rat in einem Personalpaket bestimmen will, aus welcher Parteifamilie und sogar welche Person Präsident des Parlamentes wird. Das würde bedeuten, dass statt des versprochenen Spitzenkandidaten-Verfahrens, was mehr Demokratie in Europa bringt, eine höhere Wahlbeteiligung in Europa, zu einem Verlust an demokratischen Rechten führt. Es muss doch umgekehrt sein: Ein Zugewinn an demokratischem Vertrauen durch die Wählerinnen und Wähler muss zu einem Mehr an demokratischen Rechten des Europaparlaments führen und nicht zu weniger, was wir jetzt durch den Rat erleben.
"Ska Keller ist eine sehr starke Europäerin"
Barenberg: Nun ist die Europäische Union ein vielschichtiges Projekt, ein kompliziertes System von Geben und Nehmen. Das ist Ihnen doch auch klar, oder bestreiten Sie, dass der Rat der Regierungschefs ebenso demokratisch legitimiert ist und ein Mitspracherecht hat wie das Parlament, und dass beide quasi aufeinander angewiesen sind?
Giegold: Nein, überhaupt nicht. Das wird auch auf absehbare Zeit so sein. Die Nationalstaaten spielen eine wichtige Rolle. Das kann man nicht bestreiten. Aber klar ist auch: Das Europaparlament bestimmt wie jedes andere Parlament auf der Welt seinen Präsidenten, seine Präsidentin selbst. Es ist ein Übergriff, dass hier mit zu verhandeln. Das ist auch der Grund, warum wir mit Ska Keller nun einen eigenen Vorschlag machen für die Präsidentschaft des Parlaments. Das ist eine sehr starke Europäerin, die dem ganzen europäischen Gemeinwohl dort ein Gesicht geben würde. Das halten wir im Rahmen dieser ganzen Vereinbarung für einen sehr guten Vorschlag.
Barenberg: Weil Sie schon die Vergleiche zu anderen Regierungsbildungen bemüht haben – Die Grünen stellen im nächsten Europäischen Parlament die viertstärkste Fraktion und Sie sagen, Ska Keller hat einen gut unterfütterten Anspruch auf diesen Spitzenjob als Parlamentspräsidentin.
Giegold: Na ja! Es werden ja in Zukunft fünf mindestens relevante Personen hier benannt. Wenn wir mit zehn Prozent aus der Europawahl auch als einer der Gewinner hervorgegangen sind, so ist es normal, dass dort auch eine der Positionen, eine relevante Position hier entsprechend bei uns landen wird. Es wäre ja komisch, wenn eine neue Kommission gebildet wird, die auf eine Mehrheit im Europaparlament angewiesen ist – wir haben ja dort auch viele Abgeordnete, die überhaupt nicht die Intention haben, konstruktiv am Bauen Europas mitzuwirken -, es wäre komisch, wenn dort alle Parlamentsfamilien beteiligt sind bei der Vergabe der relevanten Positionen und wir nicht. Das wäre ganz normal, dass aus einem Anteil an den proeuropäischen Wählerinnen und Wählern auch ein Anteil an den Positionen folgt. Das hat der Rat aber nicht drauf.
"Beide sind legitime Kandidaten"
Barenberg: Eben haben Sie ja beklagt, Herr Giegold, dass der Rat übergriffig ist gegenüber dem Parlament. Jetzt erwähnen Sie selber, dass es um insgesamt fünf Spitzenjobs geht, und sagen, da haben Sie auch ein Wörtchen mitzureden, beispielsweise wenn es um den Präsidenten des Rates geht, den Vorsitzenden, die Vorsitzende der Versammlung der Staats- und Regierungschefs. Den Übergriff gönnen Sie sich dann schon?
Giegold: Nein, das ist gar nicht der Punkt. Ich habe ja gar nicht den Anspruch erhoben, dass wir Grünen jetzt mitreden, wer Ratspräsident wird.
Barenberg: Welche fünf Persönlichkeiten oder Posten meinten Sie denn gerade, als Sie sie erwähnt haben?
Giegold: Natürlich ist das eine der Positionen, die in dem Gesamtpaket verhandelt werden. Aber es ist nicht normal, dass mitgezählt wird, man würde einen neuen Kommissionchef mitwählen, aber an keiner Stelle – verfolgen Sie die Debatte – wird irgendwie mit einberechnet, dass daraus natürlich auch ein Anteil an den Positionen folgt, die die Positionen, die man gemeinsam inhaltlich regeln will, dann umsetzen müssen. Nein, das wäre in jeder nationalen Demokratie völlig normal und es ist auch hier normal.
Der entscheidende Punkt ist aber meiner Meinung nach ein anderer. Die Parteifamilien, deren Staatschefs derzeit verhandeln über die Vergabe der Positionen, haben vorher – bis auf der bedauerlichen Ausnahme der Liberalen – europaweit das Spitzenkandidaten-Verfahren versprochen. Wir Grünen haben das immer unterstützt und haben uns deshalb auch nicht gegen einen der Spitzenkandidaten festgelegt – weder gegen Herrn Weber, noch gegen Herrn Timmermans. Beide sind legitime Kandidaten. Aber jetzt wird das nicht geliefert und das ist der eigentliche Casus Knacktus hier. Wir brauchen eine Verfahrensklarheit mit transnationalen Listen für die Zukunft und mit einem verbindlichen Spitzenkandidaten-Verfahren, damit dieses Verhandeln derzeit, das nach den Wahlen den Bürgerinnen und Bürgern die Klarheit nimmt über das Ergebnis ihrer Wahlentscheidung, damit das durch Verfahrensklarheit ersetzt wird.
"Polen und Ungarn führen hier praktisch in die Debatte"
Barenberg: Nach dieser Logik, Herr Giegold, müssten Sie ja eigentlich den Anspruch von Manfred Weber unterstützen. Schließlich repräsentiert er die stärkste Parteienfamilie im Europäischen Parlament und die stärkste Fraktion – mit Abstand.
Giegold: Herr Weber ist auf jeden Fall derjenige, der zuerst versuchen kann, eine Mehrheit im Parlament zu finden. Wir sehen das ja auch in Bremen jetzt zum Beispiel. Dort war es auch so, dass jetzt die zweitgrößte Partei es geschafft hat, eine Mehrheit zu finden. Es ist nicht immer die stärkste Partei, die gleichzeitig dann am Schluss den wichtigsten Posten besetzen kann. Aber er hat den ersten Zug und wir haben deshalb ja auch mit Christdemokraten, mit Sozialdemokraten, mit Liberalen zusammen über ein zukünftiges Programm der Kommission verhandelt. Das ist genau der Punkt. Die Spitzenkandidaten sind eigentlich die natürlichen Kandidaten, und dass dort jemand so frühzeitig ausgeschlossen wurde von Liberalen und Sozialisten, fanden wir Grünen immer falsch.
Barenberg: Um noch mal auf die Chancen für Frans Timmermans zurückzukommen, den Spitzenkandidaten der Sozialdemokraten und Zweitplatzierten. Hat Angela Merkel nicht recht, wenn sie sagt, man kann Timmermans schlechterdings nicht gegen den Widerstand eines so großen und bedeutenden Landes in der Europäischen Union durchsetzen, wie beispielsweise Polen, wie beispielsweise Ungarn?
Giegold: Nach der Logik käme ja bei einem Kandidatenverfahren immer nur der zum Zuge, der vorher klarmacht, dass man in keiner Weise gegen die Interessen der Mitgliedsländer vorgeht. Das ist aber nun mal die Aufgabe der Europäischen Kommission, das europäische Recht als Hüterin der Verträge auch gegen Einzelstaaten durchzusetzen. Gott sei Dank tut die EU-Kommission das. In Deutschland – wir haben zum Beispiel 30 umweltbezogene Vertragsverletzungsverfahren. Polen und Ungarn sind unzufrieden, weil die EU-Kommission europäisches Recht im Bereich der Rechtsstaatlichkeit durchgesetzt hat und Herrn Timmermans dafür verantwortlich machen. Das ist, ehrlich gesagt, ein Ausweis der Qualifikation, nicht ein Gegenargument. Deshalb finde ich das kein überzeugendes Argument in diesem Falle, dass Polen und Ungarn hier praktisch in die Debatte führen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.