
Mit ihrem Roman "Das letzte Land" kehrt Svenja Leiber dorthin zurück, wo bereits ihr erstes Buch, der im Jahr 2005 erschienene Erzählband "Büchsenlicht" spielt: in die wortkargen norddeutschen Dörfer, deren Enge lehmschwer auf die Menschen drückt und aus denen es kaum ein Entkommen zu geben scheint. Während "Büchsenlicht" allerdings im Heute angesiedelt ist, lässt Leiber die Geschichte ihres neuen Romans vor gut einhundert Jahren einsetzen.
"Ich musste weiter weggehen, um einmal die ganze Vorgeschichte von 'Büchsenlicht' noch einmal neu aufzurollen und zu schauen, wie es dazu kam. Also wie es zu den Zuständen, dem Jetzt-Zustand, der in 'Büchsenlicht' beschrieben ist, wie es dazu gekommen ist tatsächlich historisch."
Svenja Leiber erzählt in "Das letzte Land" die Lebensgeschichte von Ruven Preuk, einem Jungen aus einfachen dörflichen Verhältnissen, der über eine außergewöhnliche musikalische Begabung verfügt. Und sie tut dies in einer Sprache, die auf fast irritierende Weise zugleich rau und spröde und dabei doch so sinnlich und melodiös ist, wie die Musik, die Ruven spielt, und wie die Töne, die er immerzu um sich herum hören kann und die so gar nicht zu der prosaischen Landschaft zu passen scheinen.
"Deutsch, protestantisch und stumm vor Hitze"
"Ruven Preuk steht an einem Augusttag 1911 abseits vom Dorf und horcht. Er zählt den Takt, den das Licht und die Pappeln ihm schlagen, hell, dunkel, hell. Rundherum brüten die Äcker, deutsch, protestantisch und stumm vor Hitze. Die Pause im reifen Hafer – und mitten in diese Stille hinein ein Lala und Lalei, das da nicht hingehört, erst fern, dann immer näher. Ruven legt den Kopf zur Seite und schließt die Augen. Dann zuckt er mit den Fingern, die Rechte folgt dem Takt, dem Spiel von Licht und Schatten, die Linke dem Gesang."
Als Ruven eine Geige erhält und ihm – trotz der Vorbehalte des Vaters – ermöglicht wird, Unterricht zu bekommen, an Wettbewerben teilzunehmen, als er Gönner findet, die seine Begabung fördern wollen, hat es zunächst den Anschein, als würde Svenja Leiber eine jener Aufbruchsgeschichten erzählen, in der einem Kind dank seines Talents die Flucht aus seinen beengten Verhältnissen gelingt. Als würde der Junge sich mit seiner Geige aus seinem Schicksal herausspielen können. Indes: Bei Leiber will ihm das nicht gelingen. Immer wieder stößt Ruven an Grenzen, an äußere, und auch an seine inneren. Womöglich ist das 20. Jahrhundert ganz einfach nicht mehr die Zeit für einen Aufstieg in klassischer Bilderbuch-Bildungsroman-Manier.
"Man muss in den Bauch atmen, denkt Ruven, während er seine Finger trocken wischt. Er blickt auf die geputzten Schuhe, während er das Treppchen zur Bühne nimmt. Die Zuhörer sitzen noch halb im Applauswind des Vorgängers, ein Favorit. Der polierte Flügel ist weit geöffnet. Nicht dass die Decke da runterkommt, so ein Steinway hat sein Klangvolumen denkt Ruven. Die Noten tanzen ihm kurz vor den Augen. Der Heimweg findet im Dunkeln statt. Der Funke ist nicht übergesprungen. Erster, zweiter und dritter Preis sind vergeben, und nur die bereits gedruckten Urkunden verrieten die Jury."
"Ich würde schon sagen, dass Ruven, wenn die Bedingungen anders gewesen wären, weiter gekommen wäre. Und trotzdem will ich auch sagen, dass es nicht nur die historischen Gegebenheiten waren, die ihn in seiner Karriere oder seinem Werdegang bremsen, sondern tatsächlich auch seine Herkunft, seine Herkunft aus dem Dorf."
Virtuosität und Menschlichkeit
Seine schlechten Voraussetzungen mögen ihren Anteil daran haben, dass Ruven keine große Karriere machen wird. Vielleicht fehlt ihm zudem auch das letzte Quäntchen Ehrgeiz. Und natürlich reißt der Zweite Weltkrieg, in den Ruven als Soldat muss und in dem er beinahe sein Gehör und einen Arm einbüßt, eine Zäsur in sein Leben und seine Musik, die kaum zu kitten ist. Svenja Leiber aber geht es nicht um eine Offenlegung der Gründe für Ruvens Scheitern. Womöglich geht es ihr noch nicht einmal um den Befund des Scheiterns. Während sie ihren Protagonisten durch die Jahrzehnte begleitet, lotet sie vielmehr das fragile Verhältnis von großer Kunst und einem gelungenen Leben, von Virtuosität und Menschlichkeit aus.
Ruvens Tochter Marie wird im Zuge dessen zu seiner Komplementärfigur insofern, als an ihrem Schicksal das menschliche Versagen von Ruven deutlich wird. Nach dem Tod von Maries Mutter kann Ruven sich nicht dazu durchringen, sich um Marie zu kümmern. Stattdessen gibt er, angestachelt von seiner neuen, intriganten Frau, das Kind in ein Heim in der Hoffnung, zumindest im Kieler Landesorchester noch eine Art kleiner Karriere zu machen. Die brutalen Züchtigungen, die seelischen Demütigungen, denen Marie im Heim ausgeliefert ist, streicht er aus seinem Bewusstsein. Über Jahre scheint Marie für ihn nicht mehr zu existieren. Hätte man diese Egozentrik, die man bei Ruven mit Schaudern zu Kenntnis nimmt, ähnlich schlimm empfunden, wenn er als Geigenvirtuose zu Berühmtheit gelangt wäre?
"Für mich ist diese Tochterfigur eine ganz wesentliche Figur, weil ich neben der Kunst und neben der Beschäftigung mit der Kunst – in diesem Fall natürlich der Musik – die zweite Seite gesucht habe, die für mich eigentlich auch Basis der Kunst ist, nämlich die Liebesfähigkeit oder auch die ganze Aufmerksamkeit, die eigentlich gebraucht wird zum Kunstschaffen, und aber auch zum Versorgen oder Großziehen von Kindern. Und dass die Marie eigentlich für mich die Figur ist, die tatsächlich auch das eigentliche Scheitern von Ruven versinnbildlicht oder darstellt."
Keine Verurteilung, aber ein Urteil
Auch wenn Leiber ihren Protagonisten nicht explizit verurteilt, dann steckt ihr Urteil doch in der Komposition des Romans: Im letzten Drittel von "Das letzte Land" wendet sich Leiber von Ruven ab. Stattdessen rückt Maries Leben in den Mittelpunkt, und Leiber begleitet die junge Frau, die endlich dem Heim entkommen ist, bei ihrem entbehrungsreichen Aufbau eines eigenes Bauernhofs und der Gründung einer Familie. Wenn Ruven als alter, gebrochener Mann schließlich von der Tochter auf ihren Hof geholt wird, wo er zwei Zimmer bewohnen kann, dann hat das etwas zutiefst Trauriges. Nicht nur weil Maries Verzeihen die Vergangenheit nicht ungeschehen macht, sondern weil Ruven auch wieder dort landet, von wo er immer fliehen wollte. Wenn er hin und wieder die Geige zur Hand nimmt, vertreibt er die Enkel mit seinem Spiel. Hilflos und haltlos, bar jeder Orientierung, steht dieser Mann in der Welt und weiß um all das, was er versäumt hat.
"'Ich habe aufzuräumen, Marie', sagt Ruven leise. ‚Ich habe so viel vergessen.' Er lächelte schwach. ‚Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.'
‚Lass uns nicht von diesen Dingen sprechen', sagte Marie schnell. ‚Ich hab viel zu tun.'
Seit Monaten sucht Ruven also nach den Geschichten. Die Klunkenhöker taucht auf, Joseph, Sophie und der Dachs. Wie sie alle aufmarschieren. Ruven steht in der bevölkerten Küche. Der weiße Tisch, der Fußboden mit grauen Kacheln, davor die Rauchgestalten, die immer farbiger werden, als kehrten die Töne und die Farben heim."
‚Lass uns nicht von diesen Dingen sprechen', sagte Marie schnell. ‚Ich hab viel zu tun.'
Seit Monaten sucht Ruven also nach den Geschichten. Die Klunkenhöker taucht auf, Joseph, Sophie und der Dachs. Wie sie alle aufmarschieren. Ruven steht in der bevölkerten Küche. Der weiße Tisch, der Fußboden mit grauen Kacheln, davor die Rauchgestalten, die immer farbiger werden, als kehrten die Töne und die Farben heim."
Historische Verheerungen
Aber die Töne kehren nicht mehr zurück. Ein einziges Mal wird Ruven noch aktiv. Er sucht die Konfrontation mit Fritz Dordel, Widersacher seit Kindertagen, der später ein führender Nazi geworden ist und nun selber auf dem Sterbebett liegt. Ruven ist überzeugt, dass seine große Liebe Rahel von Dordel ins KZ und in den Tod geschickt worden ist. Was Ruven nicht weiß: Dordel hat sie entkommen lassen, verschaffte ihr sogar eine neue Identität. Rahel überlebte die Nazi-Zeit. Sie stirbt, als alte Frau – fataler Weise genau in dem Moment, als Ruven mit Dordel abrechnen will.
Svenja Leiber hat einen Roman über einen Mann geschrieben, der sich an jeder Wegbiegung des Lebens falsch entscheidet. Oder zumindest seine Pfade stets ein wenig abseits des Wegbaren setzt. Der ebenso viel Schuld auf sich geladen hat, wie ihm Unrecht zugefügt worden ist. Svenja Leiber gelingt, was ihrer Figur versagt bleibt: Sie spricht nicht schuldig, sondern zeigt einen Menschen im Geflecht seiner Mitmenschen und der historischen Verheerungen des 20. Jahrhunderts. Sie erzählt sein Scheitern, sein Stolpern, sie lässt ihn den Halt verlieren, aber niemals seine Würde.
Svenja Leiber: Das letzte Land.
Suhrkamp Verlag, 2014, 310 S., 19,95 Euro
Suhrkamp Verlag, 2014, 310 S., 19,95 Euro