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Sybille Schenker: "Rotkäppchen"
Kongeniale Märchensprache

Märchenmotive sind plakativ und hintergründig zugleich. Genauso funktionieren auch die Scherenschnitte von Sybille Schenker. Nun hat sich die Illustratorin des "Rotkäppchens" angenommen. Mit viel Respekt trifft sie den Grimmschen Ton kongenial.

Von Ina Nefzer | 20.12.2014
    Wenn eine Geschichte mit "Es war einmal" anfängt und mit einer "kleinen süßen Dirn" weitergeht, deren Großmutter ihr ein Käppchen aus rotem Samt schenkte, das ihr so gut stand, dass sie nichts anderes mehr tragen wollte – weiß jedes Kind, dass von "Rotkäppchen" die Rede ist. Und hat zugleich ein charakteristisches Bild vor Augen. Lassen doch schon die ersten Zeilen des altbekannten Märchens den Zuhörer rot sehen. Herzensrot. Man soll Rotkäppchen ansehen, dass es ein liebes und ein geliebtes Mädchen ist.
    Denn Märchen erzählen in Bildern: Wer böse ist, sieht böse aus. Wer gut ist, herzallerliebst. Man weiß sofort, mit wem man es zu tun hat. Solche ästhetisch-naiven Motive, die ihre Bedeutsamkeit durchscheinen lassen, faszinierten Sybille Schenker, als sie in New York an ihrem Master in Illustration bastelte:
    "Was mich an Märchen reizt, ist, dass die Geschichten so viel Raum lassen. Sie lassen mir unglaublich viel Raum für Bilder. Und sie lassen dem Betrachter unglaublich viel Raum, um das aus dem Märchen zu holen, wofür sie – glaube ich – schon immer erzählt wurden. Die Motive, die dahinter stehen. Das ist auch das, was mir sofort passiert als Illustratorin. Ich les solch einen Text und es entstehen Bilder, es entsteht manchmal eine kleine Welt, die ich umsetzen möchte."
    Ihre ganz eigene Bildsprache hat Schenker anhand ihrer Abschlussarbeit – Illustrationen zum Märchen „Hänsel und Gretel" - entwickelt. Darin arbeitet sie mit vielen verschiedenen Papieren, die sie ausschneidet und in Collagen neu zusammensetzt, und mit Scherenschnitt-Motiven:
    "Als ich die Grimm-Märchen auserkoren hab, um daraus was zu machen, war sofort der Scherenschnitt in meinem Kopf. Es muss eine Kindheitserinnerung sein. Bilder, die mir im Gedächtnis geblieben sind, wenn ich an Märchen denke. Und so war es sofort da und hat für mich den perfekten Weg gezeigt, um zu kommunizieren, was ich dahinter sehe, weil es geht für mich darum: Was steht hinter dem Text?
    Großer Erfolg mit "Hänsel und Gretel"
    Nachdem Schenkers Interpretationen zu "Hänsel und Gretel" glücklicherweise in Michael Neugebauer einen Verleger fanden, der sie 2011 mit großem Erfolg veröffentlichte, erscheint nun ihre zweite Märchenillustration: "Rotkäppchen". Waren es im Erstling Transparentpapiere zwischen den festen Buchseiten, die der Geschichte Durchblicke und damit eine zusätzliche räumliche und zeitliche Dimension eröffneten, sind es nun richtige Scherenschnitte:
    "Anders als im ersten Buch, haben wir hier tatsächlich mit Schnitten gearbeitet. Das ist in dem Fall Lasercut. Also, ich schneide die mit der Hand und bereite die so auf, dass es später im Lasercut geschnitten werden kann. Hier sieht man noch ein bisschen durch: da ist das kleine Mädchen und die will jetzt losziehen in den Wald und sie findet Blumen ganz schön, doch dahinter lauert schon was."
    Es ist, klar - der Wolf. Und so erblickt der Betrachter bereits auf der ersten Seite, was kommen wird: Rotkäppchen läuft los in ein Abenteuer.
    Dreht man den ersten Scherenschnitt um, folgt keineswegs wieder eine durchbrochene, sondern eine feste Papierseite. Darauf ist die Wolfsfigur nun richtig, als klassisch schwarze Silhouette vor hellem Hintergrund zu sehen. Als Teil eines schwarzen Rahmens, zu dem auch Rotkäppchen als Rückenfigur gehört. Beide Scherenschnitt-Motive rahmen eine Zeichnung ein, auf der – ganz grafisch - Wald und Bäume gezeichnet sind, denn Rotkäppchen ist auf dem Weg zur Großmutter. Scherenschnitt-Rahmen und Zeichnung wurden übereinandergelegt und abfotografiert, um dem Betrachter auch hier eine Art Durchsicht zu eröffnen:
    "Wenn ich rein gestalterisch denke, brauche ich diesem schwarzen Rahmen, damit das Papier nicht auseinander fällt. Es haben viele Seiten diesen Rahmen, das ist wie eine Filmkulisse, wie es im Scherenschnitt ja auch ist. Ich hab was davor und ich kann durchschauen."
    "Ich blättere um - und er hat sie gefressen"
    Märchenmotive sind plakativ und zugleich transparent, hintergründig. Genauso funktionieren Sybille Schenkers Scherenschnitte. Dabei nutzt sie die Technik nicht nur klassisch – wie die große Lotte Reininger mit Silhouetten vor hellem Hintergrund -, sondern schneidet – bei dunklem Hintergrund – auch die beleuchteten Stellen heraus und unterlegt sie – digital - einfarbig oder mit buntem, gemustertem Papier. Denn Farben spielen die zweite Geige in Schenkers Bildorchester. Damit kreiert sie zwei Stimmungen: eine dunkle und eine helle. Das zeigt sich schon beim schwarzen Cover, in das der Titelzug geschnitten ist, rot hinterlegt mit weißen kleinen Pünktchen:
    "Für mich war es wichtig, von diesem schwarzen Cover schon mal eine Durchsicht zu haben auf etwas Buntes, um zu sagen: 'es ist alles ein bisschen düster, die Situation ist schwierig, aber der Lichtblick ist auch da!"
    "Und dadurch, dass für mich Rotkäppchen so ein fröhlicher Charakter ist, so ein bisschen naiv und fröhlich und bunt, musste da Farbe mit rein. Und hab mir dann eine Farbpalette gesucht."
    Schwarz steht klar für Bedrohung und wird im Fortgang der Geschichte immer raumgreifender, bis es Platz machen muss für das Helle. Dessen Farbpalette besteht aus verspieltem Türkis, zartem Lila, einem Dunkelrot - warm und kräftig, dass es neben den kräftigen Farben Hellrot und Schwarz nicht untergeht -, einem Wiesengrün und maisfarbenem Gelb für das Happy End.
    Den grausamen Höhepunkt der Mär – wenn der Wolf Rotkäppchen frisst – löst Schenker bildnerisch souverän: auf der Doppelseite steht Rotkäppchen – ganz bestürzt - links im Bild. Rechts – als ausgeschnittener schwarzer Scherenschnitt vor rotem Grund – der Wolf mit aufgerissenem Maul: "Der Scherenschnitt erlaubt, dass ich sagen kann: Hier hab ich den Wolf, die Bedrohung unter dem roten Papier. Ich schlag um und er hat sie gefressen."
    Weil die Rückseite des Scherenschnitts den Blick auf die Beine des vorseitigen Rotkäppchens freigibt. Die Erzählweise in Märchen, das hat der großen Märchen-Forscher Max Lüthi so formuliert, ist flächig, reduziert und abstrakt. Dinge und Handlungen werden nur benannt, Figuren sind ohne Innenwelt und Körperlichkeit, Ort und Zeit unbestimmt. Alles ist so abstrakt, dass es sich auf vielfältige Weise auslegen lässt. Viele Künstler versuchen daher, Märchen kontrapunktisch zu illustrieren: realistisch, expressiv lebendig oder idyllisch.
    Doch die Scherenschneiderin Sybille Schenker will Märchen nicht komplettieren. Sie hat künstlerische Wege gesucht und gefunden, die ursprüngliche Erzählweise, den Grundton der Märchen abzubilden, denn: "Es ist genauso einfach, wie es aussieht. Und damit ist alles möglich!"
    Ihre Bilder sind reduziert und doch gegenständlich, flächig und doch transparent, abstrakt und doch ausdrucksstark. Voller Respekt vor der alten Gattung Märchen und doch originell und eigenständig. Mit ihren Scherenschnitten trifft sie den Ton - haargenau. Denn Sybille Schenker spricht sie, die Märchensprache.
    Brüder Grimm/ Sybille Schenker (Illu.): Rotkäppchen, minedition, 2014.