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Syrien
"Barbarische Zustände"

Martin Glasenapp von der Hilfsorganisation "Medico" beschreibt die humanitäre Lage in Syrien als barbarisch. Jeden Tag sterben dort 120 Menschen, sagte er im Deutschlandfunk, auch wegen der schlechten Gesundheitsversorgung. Eine Perspektive für ein Kriegsende sieht er nicht. Die Menschen seien von der internationalen Gemeinschaft enttäuscht.

Martin Glasenapp im Gespräch mit Christine Heuer | 11.03.2014
    Helfer des Roten Halbmonds evakuieren in Syrien weitere Menschen aus der vom Bürgerkrieg stark betroffenen Stadt Homs Zwei Männer tragen eine Bahre in einen Rettungswagen.
    Helfer des Roten Halbmonds evakuieren in Syrien weitere Menschen aus der vom Bürgerkrieg stark betroffenen Stadt Homs (picture alliance / dpa / Str)
    Christine Heuer: Gestern war es genau vor drei Jahren, da wurden die ersten Bürgerproteste gegen das Assad-Regime vom syrischen Militär niedergeschlagen. Seitdem sind Millionen Menschen geflüchtet und viele, viele Tausende sind gestorben. Im Februar berichtete die UNO von Folterungen an Kindern und Jugendlichen durch die Armee und von Kindersoldaten, die die Opposition zum bewaffneten Kampf zwingt. Den Jahrestag gestern haben zwei Hilfsorganisationen, nämlich Amnesty International und Save the Children, zum Anlass genommen, um wieder einmal auf die Not der in syrischen Städten wie Aleppo eingekesselten Menschen aufmerksam zu machen. Martin Glasenapp von "Medico International" ist einer der wenigen westlichen Augenzeugen. Er reist immer wieder nach Syrien und wir haben ihn zum Interview eingeladen, damit Sie seine Eindrücke aus dem Bürgerkrieg aus erster Hand hören können. Guten Morgen, Herr Glasenapp.
    Martin Glasenapp: Guten Morgen!
    Heuer: Wo in Syrien waren Sie zuletzt?
    Glasenapp: Ich war zuletzt in den Gebieten entlang der türkischen Grenze, im nördlichen Teil, in den kurdischen Gebieten von Syrien.
    "Todesrate von 120 Leuten pro Tag"
    Heuer: Was ist der stärkste Eindruck, den Sie von dort mitgenommen haben?
    Glasenapp: Der stärkste Eindruck dort ist eine sehr große Angst vor radikal-religiösen bewaffneten Gruppen. Man muss wissen: Die kurdischen Gebiete in Syrien haben eine etwas andere Situation. Es gibt da eine Unabhängigkeitsbewegung oder eine Autonomiebewegung. Es gibt einen Zusammenschluss von mehreren kurdischen Parteien und gemessen an den Bürgerkriegsschrecken in Zentralsyrien ist das noch eine relativ ruhige Region. Aber sobald man in die arabischen Gebiete fährt, kriegt man schon eine Ahnung davon, was in Aleppo oder was in den Vorstädten von Damaskus passiert. Man sieht sehr viele bewaffnete Gruppen, man sieht eine große Unsicherheit, man sieht Zerstörung. Und niemand weiß eigentlich genau, wie es weitergeht, zudem es immer wieder auch die Gefahr von Luftangriffen ist, und das ist ja auch in Damaskus, gestern auch in Aleppo passiert, diese schrecklichen Benzinbomben beziehungsweise Fassbomben, die abgeworfen werden, die ganze Stadtviertel zerstören. Wir haben zurzeit eine Todesrate von ungefähr 120 Leuten pro Tag, und das passiert schleichend jeden Tag, und das geht weiter, und niemand weiß genau, wie das enden soll.
    Heuer: Das ist die eine Seite dieses Konflikts, die Gewalt. Die andere Seite ist die Lage der Zivilisten inmitten dieser Situation.
    Glasenapp: Ja.
    Krankenhäuser: Keine Blutkonserven, keine Betäubungsmittel
    Heuer: Die jüngsten Berichte, die handeln von unhaltbaren Zuständen zum Beispiel in Krankenhäusern, etwa in Aleppo. Wie muss man sich die Situation von Patienten und Ärzten in diesen Kliniken vorstellen?
    Glasenapp: Man muss die sich vorstellen, dass sie in einer völligen Belagerungssituation leben. Das bedeutet, man ist in Stadtvierteln gefangen, tatsächlich gefangen, die von der Armee umstellt sind, die von der Armee bombardiert werden. Und dort gibt es notdürftig eingerichtete Krankenhäuser oder Krankenstationen, muss man, glaube ich, mittlerweile sagen, wo es keine Betäubungsmittel gibt, wo es keine Blutkonserven gibt, wo es keine Verbände gibt, also wo das Notwendigste fehlt und wo die wenigen Ärzte, die dort noch verblieben sind - die meisten sind ja geflüchtet aus dem Land und vor allem aus diesen Gegenden geflüchtet - die können nur noch amputieren, die können nur noch versuchen, die Leute ruhig zu stellen. Diese Berichte, die Sie erwähnt haben, sind wirklich Schreckensberichte, wo Patienten darum bitten, niedergeschlagen zu werden, förmlich k.o. geschlagen zu werden, um operiert werden zu können, weil sie die Schmerzen nicht aushalten und weil Betäubungsmittel fehlen.
    Heuer: Vor allem Kinder leiden unter diesem medizinischen Ausnahmezustand. Woran liegt das und woran mangelt es den Kindern vor allem?
    Glasenapp: Die Kinder sind natürlich immer die Schwächsten. Es mangelt an ganz vielem. Es mangelt an Impfkampagnen. Man muss ja auch wissen: Syrien war eigentlich, was den Gesundheitsstatus angeht, ein sehr gut ausgebildetes Land. Es gab eine sehr gute Gesundheitsversorgung. Die ist völlig zusammengebrochen. Wir haben nur noch einen Bruchteil der Krankenhäuser und Gesundheitsstationen, die funktionieren. Die Wege der Versorgung funktionieren nicht mehr. Die Produktion von Gesundheitsdingen ist zusammengebrochen. Und was die Kinder angeht: Die Kinder sind natürlich besonders gefährdet durch die Luftangriffe, durch die psychische Situation, aber auch gerade in diesen Gegenden, von denen wir gerade sprechen, also die, die eingeschlossen sind von der Armee, durch Hunger und Auszehrung. Wir haben ein Schulprojekt inmitten von Damaskus, 20 Minuten vom Präsidentenpalast von Assad entfernt, wo die Kinder tatsächlich nicht mehr zur Schule gehen können, weil sie im Schulunterricht ohnmächtig werden vor Hunger, weil seit einem Jahr keine Lebensmittel mehr in diese Gebiete gelassen werden.
    Heuer: In Aleppo - das ist ein Teil der Berichte von gestern - wären nötig 2500 Ärzte. Es gibt aber nur 36.
    Glasenapp: Ja.
    "Sehr barbarische Zustände zurzeit"
    Heuer: Was konkret bedeutet das für Kinder und ihre medizinische Behandlung in einer solchen eingeschlossenen Stadt?
    Glasenapp: Das bedeutet, dass in den Gegenden, um die es hier geht - und die Zahl ist auch doppeldeutig, das muss man auch ehrlicherweise sagen. Diese Zahl von 35 bezieht sich auf die Gebiete, in denen die Opposition präsent ist. Das bezieht sich natürlich nicht auf die Militärkrankenhäuser des Regimes, die nach wie vor funktionieren und wo es auch eine einigermaßen gute Versorgung gibt, soweit wir das wissen. Aber was die Kinder anbetrifft: Es gibt praktisch außer die unmittelbarsten Dinge, die ein Arzt machen kann, indem er mal eine Schmerztablette verschreibt, mal einen Verband wechselt, wenn es denn noch Verband gibt - es gibt praktisch nichts mehr, was die Leute tun können, und das sorgt bei den Ärzten für eine unglaubliche Frustration. Und das führt bei Kindern gerade dazu, dass es sehr viele Amputationen gibt, wenn es Verletzungen gibt, dass es keine Behandlungsmöglichkeiten mehr gibt, dass eigentlich alles das, wo wir sagen würden, das ist der Mindeststandard in einer solchen Situation, nicht mehr gegeben ist, und das sind schon sehr barbarische Zustände zurzeit.
    Heuer: Heute gibt es eine neue Stellungnahme der UNO. Darin heißt es, syrische Kinder oder sehr viele syrische Kinder sind traumatisiert. Natürlich, das lässt sich denken. Was für eine Generation wächst da heran?
    Glasenapp: Das sagen uns unsere Partner aus Syrien auch immer. Die sagen, gerade was die Jungs angeht, die ungefähr 14, 15, 16 sind, die gehen alle, so sie denn in oppositionellen Gegenden sind, zu irgendwelchen Milizen. Die radikalisieren sich, die werden sehr religiös. Wir werden eine Generation von bewaffneten jungen Männern haben in den nächsten Jahren nach diesem Konflikt, wenn er denn irgendwann endet, wo ein neuer Konflikt vorprogrammiert ist. Man sieht das ja auch in Libyen, wie das zurzeit passiert. Und was die Kinder angeht, die kleineren Kinder angeht: Wir haben eine völlig traumatisierte Generation, die nicht nur zwei Jahre Bildung verloren hat in den Gegenden, wo die Schulen nicht mehr funktionieren, sondern die zum Teil auch im Flüchtlingslager aufwachsen. Es sind immerhin zweieinhalb Millionen Syrer und Syrerinnen außerhalb Syriens mittlerweile in Flüchtlingslagern und sechs Millionen sind im Land auf der Flucht. Das heißt, wir haben wirklich eine Kriegsgeneration, die heranwächst und die sich jenseits ihrer traumatischen Gewalterfahrungen auch in einer möglichen neuen syrischen Zukunft orientieren muss, weil das Syrien, in dem sie aufgewachsen sind, existiert nicht mehr, und es gibt praktisch zurzeit gar keine Perspektive, dass dieser Krieg aufhört.
    "Große, große Enttäuschung über die internationale Gemeinschaft"
    Heuer: Wie gehen die Menschen mit dieser Situation um? Es gab ja zuletzt viel Syrien-Diplomatie mit, um es mal so zu sagen, gemischten Erfolgen. Hoffen die Syrer noch auf Hilfe von außen?
    Glasenapp: Das ist eine gute Frage. Ich glaube, die Leute sind zutiefst depressiv und sie sind zutiefst deprimiert. Es gibt einmal eine wirklich - und das hören wir immer wieder, das höre ich auch, wenn ich dort bin - große, große Enttäuschung über die internationale Gemeinschaft, eine große Enttäuschung, dass es überhaupt keine Form von politischer Intervention in diesem Konflikt gegeben hat. Es gibt eine große Angst davor, dass das, was als eine demokratische Revolution begann vor drei Jahren, in einem Albtraum, in einem völligen Albtraum endet, und es gibt natürlich diese traumatischen Erfahrungen, die Syrer und Syrerinnen aus ihren Nachbarstaaten haben. Wir hatten einen 15-jährigen Bürgerkrieg im Libanon und einen Bürgerkrieg im Irak, der immer noch andauert, und es gab große Fluchtbewegungen, und Syrien war bis dahin immer ein Land, was relativ ruhig war, und jetzt haben wir diese Erfahrungen dort, und die Leute erwarten nichts eigentlich und gleichzeitig hoffen sie zutiefst, dass dieser Konflikt, dass dieser Bürgerkrieg endlich aufhört, und es gibt da sogar Stimmen, die mittlerweile uns sagen: Ja, wir wollen dieses Regime loswerden, aber wir haben auch mittlerweile Angst vor radikalen Milizen, die fast noch schlimmer sind als das, was wir 40 Jahre erdulden mussten.
    Heuer: Martin Glasenapp von der Hilfsorganisation "Medico International". Danke für das Gespräch, Herr Glasenapp.
    Glasenapp: Bitte schön.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.