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Syrien - Mosaik aus ethnischen und religiösen Gruppen

Syrien ist ein Mosaik: Es leben dort von Arabern bis Tscherkessen, von Sunniten, Schiiten über Ismailiten bis hin zu fast zwei Dutzend christlichen Gemeinden. Die Protestbewegung, die politische Freiheiten forderte, organisiert sich jedoch zunehmend nach religiöser und ethnischer Zugehörigkeit.

Von Karin Leukefeld |
    Safana Bakhle singt die Sopranstimme im Kammerchor der Oper von Damaskus. Eines ihrer Lieblingslieder ist das Lied über Jerusalem, die Stadt des Friedens. Auch wenn es ein sehr trauriges Lied sei.

    Friede sei der Leitfaden des Liedes, in dem islamischen und christlichen Hymnen miteinander verwoben sind. Das Lied zeige symbolisch, wie die Araber mit ihren vielen Religionsgruppen und Glaubensrichtungen friedlich zusammenlebten. Jerusalem sei für alle ein geheiligter Ort, der doch leider so viel Gewalt erlebe. Dabei sehnten sich alle Menschen nach Frieden.

    Das Lied "Jerusalem, Stadt des Friedens" wurde durch die libanesische Sängerin Fairuz bekannt. Für den Chor der Damaszener Oper wurde es als A-cappella-Stück neu arrangiert, sagt Bisher Issa. Auch er gehört zum Ensemble des Kammerchors.

    "Irgendwie beschreibt das Lied auch die Situation in Damaskus, mit seinen Religionen. Ob in Jerusalem, Amman, Beirut oder Damaskus überall kann man die Kirchenglocken und das Adhan der Moschee hören, den Ruf des Muezzin zum Gebet. Hier in der Altstadt von Damaskus gibt es so viele Kirchen: Lateinisch Katholische, Griechisch-Katholische, Griechisch-Orthodoxe, Chaldäer, Assyrer, Armenier, Protestenten und überall dazwischen gibt es Moscheen. Alle ihre Gebete sind zu hören, das ist unsere Zivilisation. So leben wir hier zusammen."

    Auch die jüdische Kultur und Religion gehört zum Alltag in der Damaszener Altstadt. Daran erinnerte kürzlich die populäre Fernsehserie "Tale’e al Fidda", in der das Zusammenleben der Religionen und Volksgruppen in Damaskus während des Ersten Weltkrieges dargestellt wird. Einige Szenen wurden in der Damaszener Altstadt gefilmt, sagt Regisseur Seif al-Din Sibaii. Für die Szenen in der Synagoge habe er keine Schauspieler gebraucht, syrische Juden hätten dort gebetet. Sie leben sehr zurückgezogen und der 30-jährige Bisher kann sich nicht erinnern, jemals einem Juden in Damaskus begegnet zu sein.

    "Also, ich habe nie einen Juden hier gesehen. Sie lebten früher in der Altstadt, aber vor 30 Jahren haben die meisten Syrien verlassen. Mein Großvater könnte sich wohl noch an sie erinnern, aber er lebt nicht mehr. Und ich weiß wohl, dass meine Großmutter eine jüdische Nachbarin hatte, als sie damals in der Altstadt lebten. Aber heute …"

    Nach der Gründung des Staates Israel 1948 folgten viele Juden dem Aufruf, in Israel zu siedeln. Sie verließen ihre Heimat im Libanon, Irak, Iran, in der Türkei und Syrien. In Damaskus stehen noch heute viele ihrer Häuser und Geschäfte leer, für den Fall, dass sie eines Tages zurückkehren möchten. Die Entscheidung Israels, einen jüdischen Staat zu gründen, hat nicht nur zu politischen Spannungen in der arabischen Welt geführt, sagt Ahmed Badr Al-Din Hassoun, der Großmufti von Syrien. Auch das Zusammenleben der Religionsgruppen hat sich verändert.

    "Israel hat sich als jüdischer religiöser Staat etabliert, also meinen andere, warum sollen wir nicht einen maronitischen Staat errichten? Oder einen sunnitischen oder einen schiitischen Staat? Diese Idee eines religiösen Staates greift um sich, doch leider versteht man in Europa nicht, welche Gefahr das bedeutet."

    Hassoun befürwortet einen säkularen Staat, wie er in Syrien seit 1946 besteht, dem Ende der französischen Kolonialzeit. Vor wenigen Wochen, Anfang Oktober wurde der Sohn des Großmuftis von unbekannten Tätern getötet, mit ihm starb einer seiner Universitätsprofessoren. Hassoun versteht die Tat als Warnung religiöser Hardliner, doch er weigert sich, deren Vorstellungen von einem Religionsstaat zu folgen. Er sei der Mufti aller Syrer, ganz gleich ob Christ, Muslim oder Jude. Die Trennung von Kirche und Staat sichere die Religionsvielfalt in Syrien. Ein Religionsstaat hingegen vertreibe andere Religionen.

    "Niemand darf mit Religion und Politik spielen. Die Religion ist eine Sache zwischen dem Menschen und Gott. Die Politik aber ist eine Sache der Menschen"

    Von Arabern bis Tscherkessen, von Sunniten, Schiiten über Ismailiten bis hin zu fast zwei Dutzend christlichen Gemeinden – Syrien ist ein Mosaik aus Religions- und Volksgruppen. Der säkulare Staat garantiert allen die Religionsfreiheit, Gotteshäuser und Feiertage werden respektiert. Obwohl 85 Prozent der Bevölkerung sunnitische Muslime sind, ist der Islam nicht Staatsreligion. Die Verbindung von Religion und Politik allerdings ist streng untersagt. Die Protestbewegung, die anfangs politische Freiheiten, Respekt und wirtschaftliche Teilhabe forderte, organisiert sich jedoch zunehmend nach religiöser und ethnischer Zugehörigkeit. In Homs, einer Hochburg der sunnitischen Muslim Bruderschaft, gibt es Einwohnern zufolge Kämpfe zwischen Sunniten und Alewiten. Den Alewiten wird vorgeworfen, das Regime von Präsident Assad zu unterstützen, der auch Alawit ist. Viele christliche Familien aus Homs haben sich in die Dörfer des Umlandes zurückgezogen.

    In der Altstadt von Damaskus scheint das syrische Mosaik von all dem unberührt. Christliche und muslimische Händler warten gemeinsam auf Kundschaft, Touristen bleiben aus. Auf der Geraden Straße liegt die Galerie von Ghassan Khoury, der vor Monaten sein letztes Bild verkauft hat. Mit Sorge beobachtet er die Entwicklung in seiner Heimat. Die Gewalt, die vielen Toten. Die Isolation des Landes ist für alle eine zusätzliche Last, sagt er. Politisch und wirtschaftlich. Wie das muslimische Opferfest vor wenigen Wochen, wird auch das bevorstehende Weihnachtsfest wohl kein Fest der Freude sein.

    "Natürlich warten wir auf das Fest, zu Hause wird gebacken und die Weihnachtsdekoration ausgepackt. Doch ich glaube nicht, dass es wie sonst groß gefeiert wird. Schon zu Ostern haben wir auf die Straßenprozessionen verzichtet, weil die Situation einfach nicht zum Feiern ist. Wir werden Weihnachten zu Hause, im Kreis der Familie sein. Freunde werden sich besuchen, vielleicht wird es in Räumen der Kirchen kleinere Feste geben."

    Zu Weihnachten besuchen ihn seine muslimischen Freunde, erzählt Ghassan Khoury. So wie sie als Christen den Muslimen zu deren Feiertagen gratulieren. Weihnachten sei ein Fest des Friedens, der die Menschen das ganze Jahr bewegen sollte. Doch wird Syrien durch Krieg von innen und außen zerteilt, werde es für niemanden ein Weihnachtsfest geben.