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Syrien
Wenzel Michalski: "Die Türkei schießt auf Flüchtlinge"

Human Rights Watch erhebt schwere Vorwürfe gegen die Türkei: Nach Erkenntnissen der Menschenrechtsorganisation haben türkische Sicherheitskräfte Flüchtlinge auf syrischem Boden beschossen. HRW-Deutschlanddirektor Wenzel Michalski sagte im DLF, die Menschen hätten sich auf der Flucht vor der IS-Terrormiliz zur Grenze retten wollen.

Wenzel Michalski im Gespräch mit Martin Zagatta | 16.04.2016
    Michalski lächelnd in einer Talkshow im Fernsehen.
    Wenzel Michalski, Direktor des deutschen Büros der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. (imago/Müller-Stauffenberg)
    Michalski verweist auf Telefongespräche seiner Organisation mit Flüchtlingsvertretern in Syrien. Demnach wurde ein Camp der Menschen von der IS-Terrormiliz gestürmt. Die Flüchtlinge hätten sich daraufhin zur türkischen Grenze retten wollen, sagte Michalski im DLF. Doch dort seien sie beschossen und wieder zurück in die Arme des IS getrieben worden.
    Michalski sagte, die Türkei wolle in Syrien eine sichere Zone für die Flüchtling errichten, sei aber nicht in der Lage, die Menschen dort zu schützen. Die Flüchtlinge gerieten zwischen die Fronten der verschiedenen Rebellengruppen.
    Der Menschenrechtler verlangte, die EU müsse ihr Abkommen mit der Türkei so lange aussetzen, bis es im Einklang mit der Genfer Flüchtlingskonvention stehe. Er warf der Bundesregierung vor, wegen des Deals mit Ankara jegliche Kritik an der Türkei zu ignorieren. Dies zeige auch der Kotau im Fall Böhmermann.

    Das Interview in voller Länge:
    Martin Zagatta: Friedensverhandlungen in Genf, aber im Norden Syriens wird offenbar heftig weitergekämpft. Zehntausende sollen auf der Flucht sein in der Provinz Aleppo, auf der Flucht vor der Terrormiliz Islamischer Staat. Nach Augenzeugenberichten versuchen viele, die Grenze zur Türkei zu erreichen, ihr Leben zu retten mit einer Flucht in die Türkei, die sie aber nicht ins Land lassen will. Und die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch wirft den türkischen Sicherheitskräften jetzt sogar vor, auf die Flüchtlinge zu schießen. Wenzel Michalski ist der Deutschlanddirektor von Human Rights Watch, wir erreichen ihn gerade auf Lesbos in Griechenland. Guten Morgen, Herr Michalski!
    Wenzel Michalski: Guten Morgen!
    Zagatta: Woher haben Sie diese Informationen, dass die Türken auf Flüchtlinge schießen? Wie verlässlich sind diese Informationen?
    Michalski: Meine Kollegen stehen in Kontakt mit den Flüchtlingen, telefonisch, und sprechen mit denen immer wieder. Und diese Berichte wurden uns bestätigt von selbst ernannten oder auch gewählten Vorständen der Flüchtlinge in diesen vielen Flüchtlingslagern, die es auf syrischem Boden an der türkischen Grenze gibt, und auch von Leuten selber, die das erlebt haben, also Leute, auf die geschossen worden ist.
    Zagatta: Und das sind definitiv die türkischen Sicherheitskräfte?
    "Kritik an dem EU-Türkei-Deal wird gerade völlig ignoriert"
    Michalski: Ja, nach Aussagen dieser Menschen haben türkische Sicherheitskräfte von einem Berg herab auf die Flüchtlinge geschossen, die vor der ISIS geflohen sind. Die ISIS hatten gerade deren Lager gestürmt, die sind von denen weggerannt. Man muss sich vorstellen, das ist sehr nah an der türkischen Grenze, allerdings ist dort eine Mauer. Die Türken bauen eine, ja, Berliner Mauer, die sogar raketengeschützt ist. Und da haben sie schon an der 900 Kilometer langen Grenze 300 Kilometer vermauert, und an dieser Mauer sind sie angelangt, und vom Berg herab haben türkische Grenzpolizisten auf die Flüchtlinge geschossen, vor ihre Füße, sodass sie wieder zurück in die Arme der ISIS rennen mussten.
    Zagatta: Die ISIS, sagen Sie, also diese Terrororganisation, die sich Islamischer Staat nennt, die soll Flüchtlingslager auch angegriffen haben. Ist das der Hintergrund für diese Fluchtbewegungen im Moment, dass die Menschen auch versuchen, in die Türkei zu kommen, diese Mauer vielleicht zu überwinden?
    Michalski: Ja, der Hintergrund ist, dass die Flüchtlinge dort in Syrien zwischen die Fronten geraten. Und zwar zwischen die Fronten zwischen ISIS und anderen Rebellengruppen, die gegen die ISIS kämpfen. In Nordaleppo und im Norden Aleppos sind die Kämpfe wieder aufgeflammt, die Menschen fliehen zu Zehntausenden aus dieser Region Richtung Türkei. Dort gibt es ungefähr zehn Camps, in denen sie irgendwie notdürftig auch vom türkischen Roten Kreuz unterstützt werden. Aber immer wieder geraten diese Camps zwischen die Fronten und es wird in diesen Camps sogar geschossen. Manche werden von ISIS erobert und davor fliehen diese Menschen natürlich, sehr verständlich.
    Zagatta: Die müssen ja da, was Sie da erzählen, in einer ganz verzweifelten Lage sein, diese Flüchtlinge dort. Nach Ihrer Mitteilung jetzt, dass selbst türkische Sicherheitskräfte da auf Flüchtlinge schießen, hat sich bei Ihnen da die Bundesregierung oder Politiker aus dem Regierungslager bei Ihnen gemeldet? Denn man steht ja da, was die Flüchtlingspolitik angeht, in engem Kontakt mit der Türkei.
    Michalski: Ja, aber alles, was Kritik an dem EU-Türkei-Deal betrifft und da eben dann auch Kritik an der Türkei, das wird jetzt gerade völlig ignoriert von der Bundesregierung, das wird totgeschwiegen. Das ist ein lautes Schweigen, was uns da entgegenschlägt. Die Causa Böhmermann, die diskutiert wird gerade, zeigt das ja auch, was für ein Kotau die Bundesregierung da hinlegt vor der türkischen Regierung, damit dieser Türkei-Deal bloß nicht platzt. Man muss diese Situation für die Flüchtlinge dort aber in dem Land, in Syrien, an der türkischen Grenze im Zusammenhang mit diesem Deal sehen. Denn es zeigt, dass die Türkei kein sicheres Herkunftsland ist. Die Türkei möchte in Syrien eine sogenannte sichere Zone errichten, Unterstützung hat sie schon bekommen von der EU, die haben gesagt, sie werden der Türkei dabei helfen. Aber man sieht jetzt, dass eben die Türkei überhaupt nicht in der Lage ist, die Flüchtlinge dort in Syrien zu schützen, sondern die müssen einfach … Das ist ja pervers, die flüchten vor der ISIS, die ISIS, die der Westen bekämpft, und werden aber nicht in die Türkei reingelassen. Das ist eine völlig verdrehte Situation.
    "Was die Türkei tut, ist ein eklatanter Verstoß gegen internationales Recht"
    Zagatta: Herr Michalski, als die AfD von Waffengebrauch, von Schüssen auf Flüchtlinge geredet hat, da war die Empörung groß. Verstehe ich Sie jetzt richtig, dass man dem Partner Türkei genau das jetzt aber durchgehen lässt? Also, die Türken können oder sollen … oder können da die Drecksarbeit machen?
    Michalski: Es sieht ganz so aus. Also, ich hoffe mal, nicht! Und wir werden alles dafür tun und diese Geschichte natürlich auch an die große Glocke hängen und auch im Auswärtigen Amt und im Kanzleramt darüber sprechen. Aber bisher ist wie gesagt da lauter Schweigen im Walde und niemand kümmert sich darum, während auf syrischer Seite von Türken auf Flüchtlinge geschossen wird.
    Zagatta: Was erwarten Sie da jetzt von der Bundesregierung?
    Michalski: Wir erwarten, dass dieser Handel mit der Türkei erst mal stillgelegt wird, damit man sich hinsetzt und sich genau überlegt, wie man entsprechend der Genfer Konvention und der Europäischen Konvention und der internationalen Menschenrechte die Lage wieder in den Griff bekommt, und dann eine Lösung findet, die sich entsprechend der Menschenrechte klar, eindeutig für die Flüchtlinge entscheidet.
    Zagatta: Hat ein Land das Recht, seine Grenzen abzuriegeln, wie es die Türkei im Moment macht? Oder verstößt das gegen internationales Recht?
    Michalski: Nein, ein Land hat im Prinzip schon das Recht, seine Grenzen abzuriegeln. Aber wenn Menschen in Not sind und sie rüberfliehen wollen, weil sie sonst zu Tode geraten oder gefangen genommen werden oder gefoltert werden, dann verstößt das gegen internationales Recht. Also, das, was die Türkei dort tut, ist ein eklatanter Verstoß gegen internationales Recht und muss sofort aufhören.
    Zagatta: Wenzel Michalski, der Deutschlanddirektor von Human Rights Watch. Herr Michalski, ich bedanke mich ganz herzlich für das Gespräch!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.