Freitag, 19. April 2024

Archiv

Szilárd Borbély "Berlin Hamlet. Gedichte"
Eine erbarmungslose Welt

Der internationale Durchbruch gelang dem ungarischen Schriftsteller Szilárd Borbély mit dem Roman "Die Mittellosen". Aber er schrieb auch Gedichte von enormer sprachlicher Intensität. Seine Suche nach einer Sprache ist die Suche nach einem Ort, von dem aus sich die Welt im Miteinander denken ließe.

Von Marie Luise Knott | 25.02.2020
Szilárd Borbély: "Berlin Hamlet". Gedichte Zu sehen ist die Siegessäule und das Buchcover
Inmitten der Schrecken die menschliche Fähigkeit zur Sprache verteidigen (imago stock & people)
Welch verstörende Schönheit - denkt man beim Lesen der Werke von Szilárd Borbély. Der autobiographische Roman "Die Mittellosen", auf Deutsch 2015 erschienen, zeichnet das beklemmende Porträt einer Familie auf dem Dorf im Nordosten Ungarns aus der Sicht eines 11-jährigen Jungen: eine von Armut, Ausgrenzung, Niedertracht und Erbarmungslosigkeit geprägte Welt, in karger Prosa und mit unerhörtem Scharfblick grandios erzählt. Durch die sehnsüchtigen Augen des Kindes hindurch erlebt man eine grausame Welt, etwa eine, in der Erwachsene sich ausdenken, es sei hilfreich, neben schlafenden Kindern Katzen zu erschlagen, um den Kleinen die Träume auszutreiben. Die "Mittellosen" ist einer der großen Romane unserer Zeit.
In dem Gedichtband "Berlin Hamlet" nun sorgen die enorme sprachliche Intensität und Unerschrockenheit, mit denen der Autor die Fantasmen von Gegenwart und Vergangenheit befragt, für eine ähnliche, doch gänzlich andere Verstörung. Szilárd Borbély, selbst auch ein Übersetzer aus dem Deutschen (darunter so verschiedener Autoren wie Franz Kafka und Monika Rinck), galt als einer der großen jüngeren ungarischen Stimmen. Seine Gedichtbände wurden vielfach ausgezeichnet und in zahlreiche Sprachen übersetzt. "Diese Lyrik hat Epoche gemacht", so urteilte Peter Nadas. 2014 nahm sich Borbély das Leben und so bleiben wir ohne die Werke, die er noch hätte schreiben können. Längst ist er kein Geheimtipp mehr und so lesen wir umso begieriger das, was da ist.
Eine Nähe zu Kafka
Um inmitten der Schrecken der Zeit die menschliche Fähigkeit zur Sprache zu verteidigen, suchte Borbély im Schreiben nach neuen Ausdrucksformen. Er wäscht die Sprache aus, ja, er entfärbt sie in dem Versuch, Terror, Schmerz, Wahn und Angst in Schach zu halten. Seine Sprache ist frei von schmückendem Beiwerk, ganz auf das Vorhandene – und auf das Vorhandensein des Nichtvorhandenen - konzentriert, ja: kondensiert. In seinem Prosatext Kafkas Sohn hatte Borbély erzählt, wie er als Jugendlicher Kafkas Prozess las. Wie kaum einer wusste Kafka, so las man bei Borbély, um die verheerenden Folgen von "traurigen Erfahrungen" und "fortwährenden Befürchtungen". Wie konnte es trotz alledem gelingen, als Mensch unter Menschen zu leben? Von solchen Fragen ist auch Borbélys Werk tief geprägt.
"Grau wird die Haut. Und faltig
Und bei Berührung steif
Wie Tuch. Und etwas fehlt
Doch findest du nicht
Das eine Wort zu flüstern ihm ins Ohr.
Das eine Wort also, welches, so Kafka, die Welt "ins Reine, Wahre, Unveränderliche" heben kann.
Fordere das Unmögliche."
Der jetzt bei Suhrkamp erschienene Gedichtband Berlin Hamlet besteht aus zwei Teilen. Im ersten, titelgebenden Teil des Buches flaniert ein lyrisches Ich durch Berlin und lässt sich dabei in entschwundene Zeiten treiben, in eine Vergangenheit, die wie es bei Walter Benjamin hieß, umso bannender sein kann, als sie nicht die eigene, private Vergangenheit ist. Berlin Hamlet ist eine poetische Collage. Eingestreut in Aufzeichnungen mit Titeln wie Westkreuz, Wannsee, Invalidenstraße oder Hermannplatz finden sich Gedichte mit der Überschrift "Briefe" - darin Zitate aus Kafkas Briefen an Felice, wo es heißt:
"Sobald der Krieg zu Ende ist, heiraten wir und ich ziehe nach Berlin".
Befragung unserer Existenz
Daneben finden sich im Buch unter der Überschrift "Allegorien" Assoziationen unter anderem zur berühmten Hamlet-Inszenierung aus dem Berlin des Jahres 1936, in der Gustav Gründgens damals – auf der Kippe zur nationalsozialistischen Ungunst, wie es heißt – großartig brillierte.
Dazwischen stößt der Autor in Kreuzberg auf eine längst verblichene Wandparole: "SEI EIN REALIST! FORDERE DAS UNMÖGLICHE!" steht dort. Ein poetisches Relikt des Pariser Mai 1968.
Borbélys Gedichte befragen unsere Existenz und denken das Leben vom Fehlen her. Vom Fehlen des erlösenden Wortes, von der Ahnung, dass da noch etwas anderes ist – sein muss – als das, was ist:
"Was ist es, das in uns nicht Körper ist?", fragt eine Zeile und fängt ganz nebenbei das Paradox unserer Moderne ein: Gibt es tatsächlich nur Materie? Man kann das Menschsein schließlich nicht auf den Körper reduzieren, auf das körperliche Auf-der-Welt-Sein. Aber: Wie kommt man diesem Ich, das Nicht-Körper-ist, auf eine Spur? Welchen Schutzraum kann man in der Sprache schaffen, um diesen Fragen etwas näher zu kommen?
Manchmal stammelt Borbély:
"Von der Angst müsste ich noch erzählen (...) Was wäre, wenn. Was wäre, wenn nichts mehr wäre? Nicht mehr all das, was ich jetzt mache, tun müssen. Die Dinge, die ich nicht tun kann. Auf einmal würde es enden. Ich möchte, dass es endet. (....) Wenn ich abreiste. Dann vielleicht."
Rückgriff auf tradionelle Formen
Die Suche nach einer Sprache ist die Suche nach einem Ort, von dem aus sich reden ließe. Offensichtlich kann die Angst auch durch Ortswechsel nicht beendet werden, denn im Berliner Tiergarten sind die Bäume von den gleichen schwarzen Vögeln übersät wie dort, wo er herkommt. Der Himmel ist eine graue, reglose Zwischendecke. Ein Dahinter kommt nicht in Sicht.
"Eine offene Kiste ist Gottes Sein, voller
Spielzeug. Zuweilen sitzen Kinder um sie herum,
wühlen in ihr. Jedes Spielzeug ist ein
Rätsel. Gott sitzt unter ihnen und
beobachtet sie. Er ist selbst ein Kind, das
in ihr wühlt. Wenn er etwas findet,
freut er sich darüber. Er wendet es in seinen kleinen
Händen hin und her. Dann wirft er es zurück."
Eine gespenstische Szene, leicht erzählt. Alle Kinder sind wie Gott und Gott ist wie sie: er spielt. So taucht plötzlich hinter der Todesgewissheit die Möglichkeit auf, dass das Leben etwas im Sinn haben könnte. Rhythmus und Klang unterstützen dies.
"Das 'Ich' verbrennt nicht im Krematorium", heißt es einmal.
Und tatsächlich sind seine Gedichte durchwoben von Vergangenem, das nicht vergeht.
Der zweite Teil des Suhrkamp-Bandes - überschrieben "Leichenprunk" - den Borbély seinen Eltern widmete, ist ein Trauerbrevier. Es besteht aus drei Sequenzen, einer zur Karwoche, einer zu Amor und Psyche und zuletzt einer mit dem Titel "Chassidische Sequenzen". Borbély war Dozent für Alte Ungarische Literatur in Debrecen. In "Leichenprunk" greift er offensichtlich auf verloren geglaubte Traditionen zurück, nicht zuletzt auf barocke und mittelalterliche Formen und Bilder. Holocaust und Vanitas-Gedanken durchwirken auch das Gedicht "Stern des Tränenmeers". Hier die ersten zwei Strophen:
"Hirten kommen durch die Nacht.
Mit gesenktem Kopfe wach,
hungrig im Waggon für Vieh,
Jesus unter ihnen.
Sterne auf jeder Stirne dort,
Sterne auf jeder Brust,
Sterne oben am Himmelszelt,
an der Gesetze Ort."
Der Mord an den Eltern
Borbélys Schreiben ist aus Hadern gemacht. Es rückt die Wörter und Rhythmen aus ihren gewohnten Zusammenhängen und macht sie so wieder erlebbar. Die Übersetzerin Heike Fläming hat diese Textur grandios ins Deutsche übertragen. Im Anhang des Bandes findet sich, streng in der Form eines Protokolls notiert, die Geschichte des Überfalls auf seine Eltern: Weihnachten 2000 wurden seine Eltern in ihrer Wohnung in einem Dorf Ostungarns überfallen und ausgeraubt. Die Einbrecher ermordeten seine Mutter. Sein Vater, gezeichnet von dem brutalen Überfall, starb sechs Jahre später nach Aufenthalten in der Psychiatrie.
Borbely beschreibt den späteren Gerichts-Prozess und empört sich über das öffentliche Desinteresse an der brutalen Mordtat. Daneben notiert er Erinnerungen an seine Mutter 'Ilona'. Erinnerungen aus der Zeit, als sie so jung war wie er jetzt. Und er noch ganz klein war. Dazwischen beschreibt er den Körper der Toten. Immer wieder der Körper. "Es war, als sollte die Scham ihn überleben", heißt es einmal bei Kafka, die Scham nämlich, dass dies die Weltordnung sei. Borbélys Texte stellen sich der Scham, leise, subversiv – und epochemachend in der ungarischen Dichtung.
Szilárd Borbély:"Berlin Hamlet. Gedichte"
Aus dem Ungarischen von Heike Fleming
Suhrkamp Verlag, Berlin
208 Seiten, 24 Euro.