Donnerstag, 28. März 2024

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Tabus im Bilderbuch
Alles ist erlaubt. Oder?

Als 1989 das Bilderbuch "Vom kleinen Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat" erschien, war das ein Tabubruch - über das "Ausscheiden" sprach man nicht. Heute ist im Bilderbuch scheinbar alles möglich, Geschlechtsteile, Krieg, Tod. Aber gibt es wirklich keine Tabus mehr?

Von Christine Knödler | 21.09.2019
3 Buchcover von Bilderbüchern, die sich mit Tabus beschäfftigen
Drei Bilderbücher, die sich mit Tabus beschäfftigen ((C) Klett Kinderbuch u. Beltz&Gelberg)
Auf den ersten Blick scheint die Sache klar: Tabus im Bilderbuch gibt es heute so gut wie nicht mehr. Sterben und Tod, Krieg, Flucht, Gewalt kommen genauso vor wie unterschiedliche Liebeskonzepte, sexuelle Orientierungen, Familienkonstellationen in allen Farben oder Genderfragen, mal mehr, mal weniger rosarot-hellblau.
Vormalige Tabus, wie die bei Kindern so beliebte Kackophonie, gehören heute zum guten Ton. Aber nicht mal der kleine Maulwurf hätte sich vermutlich träumen lassen, dass einmal Pimmel doppelseitig in Reih und Glied stehen und im Zuge der ausgleichenden Gerechtigkeit auch weibliche Geschlechtsteile explizit gezeigt werden. Ist aber so. Haben Tabus in unserer säkularen Gesellschaft also ausgedient? Jörg Bernardy, Autor und Philosoph, sagt:
"Irgendwo ist er inflationär, der Tabu-Begriff. Er wird zu oft verwendet. Andererseits ist er aber auch aus der Mode gekommen. Ein richtiges Tabu? Daran glauben wir gar nicht mehr. In der ursprünglichen Bedeutung ist das Tabu an eine Bedingungslosigkeit gebunden. Das heißt: Es gibt bedingungslos Gutes und bedingungslos Schlechtes. Und das Heilige gilt es zu schützen. Und dafür waren eigentlich ursprünglich Tabus da. Bei uns bedeutet Tabu auch immer: Das kann man auch brechen."
Größere Tabu-Dichte
Es ist alles erlaubt. Bis auf das, was verboten ist. Denn es gibt sie, die Einschränkungen, die Vorsichtsmaßnahmen, die Anpassungen. Gerade Illustrator*innen und Autor*innen können ein Lied davon singen: Die Tabu-Dichte ist größer geworden. Weil der Markt es so will? Weil die Leser*innen es so wollen – in dem Fall die Erwachsenen? Eine, die sich mit Toleranz- und Schmerzgrenzen auskennt, ist Eleonore Gregori. Sie leitet die PIXI-Redaktion im Carlsen Verlag und ist verantwortlich für jene Mini-Bücher, die für viele Kinder der Einstieg ins Bilderbuch sind. Eltern vertrauen der Marke. Gibt es da Tabus?
"Selbstverständlich! Viele Tabus! Gesellschaftliche Tabus, gesellschaftlich tabuisierte Themen kommen bei PIXI erstmal gar nicht vor. Die Tabus, die mich beschäftigen in der Programmarbeit, sind aber andere, nämlich: Können Inhalte im Text und vor allen Dingen in den Bildern Kinder erschrecken, Kinder nachdrücklich dermaßen beeindrucken, dass ihnen Angstbilder bleiben?"
Pirat "Billy Schwarzbart" von Rüdiger Paulsen, illustriert von Vitali Konstantinov, darf zwar mit dem Säbel rasseln und mit der Armprothese winken, aber Blut fließt keins, Piraten können auch nett sein, so richtig gefährlich wird es nicht.
"Eine ganz andere Kategorie von Tabus: Gefährden wir Kinder mit dem, was wir ihnen zeigen? Wir wissen um den Vorbildcharakter der Bilder, um den Nachahmungseffekt, und wenn Geschichten dazu einladen, etwa, wenn sie im Alltagszusammenhang spielen, und da Dinge gezeigt werden, die Kinder nachmachen können und sie dann gefährden, dann wäre das ein Tabu."
Angst vor der Angst
Die Angst der Erwachsenen vor der Angst der Kinder ist eine der größten Ängste im Bilderbuch. Auch die Angst vor Gefahr treibt Eltern um, macht Verlage vorsichtig und bremst in der Folge Autor*innen und Zeichner*innen aus. Die Illustratorin Anke Kuhl hält dagegen. Ihre Bilderbücher "Lola rast und andere schreckliche Geschichten" oder "Alle Kinder. Das ABC der Schadenfreude" feiern das böse Kind, Sachbücher wie "Klär mich auf", "Klär mich weiter auf" und "Das Liebesleben der Tiere" nehmen es mit Tabus auf. Sie sagt:
"Zu meinen, die Kindheit sei ein Zeitraum, der frei von Schatten und dunklen Seiten und schlechten Gefühlen sein muss, das liegt mir total fern. Das ist für mich auch nichts Positives. Ich finde es so wichtig im menschlichen Leben, dass man in der Lage ist, sein volles Gefühlsspektrum zu leben und damit umzugehen. Und das ist was, das ich Kindern mitgeben möchte. Und nicht, dass sie das Gefühl haben: Angst ist tabu und es gibt Dinge, mit denen darf ich mich gar nicht auseinandersetzen. Weil: Das geht ja nicht im Leben. Man kann den Sachen nicht aus dem Weg gehen."
Schutzbedürfnis trifft auf Autonomie-Ideal. Der Schonraum widerspricht dem Freiraum der Fantasie und der Emotionen. Kontrolle und Unvorhersehbares schließen einander aus. Dabei ist der Schutz durch Tabus nur eine Seite der aktuellen Debatte. Die andere ergibt sich aus dem wachsenden Anspruch auf Sensibilisierung.
Denn die Gesellschaft ist vielschichtiger geworden. Verschiedene Gruppen treten selbstbewusst auf hinsichtlich der jeweils eigenen Erwartung an Bilderbücher und deren Rezeption. Sie fordern wahlweise mehr Diversität, Integration, Inklusion, Gender- und andere Gerechtigkeiten. So haben der Inklusionsaktivist Raúl Krauthausen und die Journalistin Suse Bauer zusammen mit anderen Aktivist*innen 2018 das "KIMI-Siegel für Vielfalt in Kinder- und Jugendbüchern" ins Leben gerufen. Das Ziel: "zu sensibilisieren, aufzuklären, Empathie zu erzeugen und in den Dialog zu führen". Autor Jörg Bernardy stellt fest:
"Man kann’s vielleicht sogar ein neues Tabu nennen. Plötzlich ist die Forderung da: Hey, es gibt eine gleichberechtigte Welt, in der wir leben wollen, es gibt soziale Wirklichkeiten, die wir diskriminieren und ausschließen, bitte, passe deinen künstlerischen Entwurf auch ein wenig an. Das wird dann manchmal so interpretiert, als dürfe man mittlerweile bestimmte Dinge nicht mehr tun oder als müsse man einen Kriterien-Katalog erfüllen."
Lange Liste der Vielfalts-Kriterien
Zumindest ist die Liste der Vielfalts-Kriterien lang, anhand derer Neuerscheinungen für das KIMI-Siegel auf den Prüfstand gestellt werden. People of Color, Menschen mit Behinderungen, mit Trauma-, Flucht- oder Armutserfahrung sollen im Bilderbuch nicht länger Randgruppen bleiben. Verschiedene Kulturen, Herkunft, Geschlecht und Geschlechterrollen, Umweltbewusstsein, Konsumverhalten, Wertevielfalt, Sprachvielfalt sind nur einige der weiteren Kriterien. Das KIMI-Siegel will Gesellschaft verändern. Es hat aber auch das Zeug zu neuer Bevormundung. Denn die Tabus der Gegenwart resultieren aus den Weltbildern, die transportiert werden sollen. Sie ergeben sich aus den Bildern von Normalität, die Kindern mitgegeben oder die genau vermieden werden sollen.
Läuft das noch unter Aufklärung oder ist das schon Manipulation? Wo endet die Utopie, wo beginnt die Propaganda? Sticht Politische Korrektheit Kunst? Was zählt mehr: Qualität oder Anliegen? Kehrt die Pädagogik ins Bilderbuch zurück? Es ist eine alte Debatte, die da neu befeuert wird. Sie stellt die Frage nach dem eigenen Selbstverständnis. Hilft ein Forderungs-Katalog weiter? Franz Lettner, Chefredakteur von "1001 Buch. Das Magazin für Kinder- und Jugendliteratur", beantwortet die Frage so:
"Im Bezug auf Literatur ist das natürlich schwierig, weil alles, was Regeln sind, was man einbringen will, was normativ ist im Bezug auf Literatur, nimmt der Literatur natürlich etwas weg. Den Freiraum, den sie hat, und das, was Literatur zentral auszeichnet ist, eine Geschichte zu erzählen, mit bestimmten Figuren, mit einer Psychologie, mit einer Dramaturgie, in einem bestimmten Medium für ein bestimmtes Publikum – das sind für mich zumindest die Rahmenbedingungen, in denen Literatur stattfindet und alles andere ist jedenfalls zweitrangig. Für mich ist es zweitrangig."
Bekannte und beliebte Beeinträchtigungen
Noch druckfrisch ist "Alle behindert! 25 spannende und bekannte Beeinträchtigungen in Wort und Bild" von Horst Klein und Monika Osberghaus. Der Untertitel des Sach-Bilderbuchs für Kinder ab fünf Jahren hieß ursprünglich: "25 bekannte und beliebte Beeinträchtigungen kurz und knapp erklärt". Das war wohl doch zu forsch. Verletzt werden soll niemand. Mutig und an der Zeit ist das Buch auch so.
Das Tabu "Das kann man doch so nicht machen" wird schon auf dem Cover gebrochen, wenn ein Kind ruft: "Ey! B-b-b-biste behindert? Wir schon!" Und ein anderes: "Glotz nicht so! Schau rein!" Im Buch sorgen Kategorien wie "Wo kommt das her? Geht das wieder weg? Vorteile" für unverblümte Annäherung. Anna hat das Downsyndrom, Max ist Spastiker, das sind die "bekannten Beeintächtigungen". Die "spannenden" sind die, die sonst in diesem Kontext nicht vorkommen. "Mitläufer" zum Beispiel oder "Tussi". Auf der letzten Seite können Kinder einen Steckbrief ausfüllen: "Welche Behinderung hast DU denn? Raus mit der Sprache!"
Horst Klein und Monika Osberghaus fordern und fördern also eine involvierte Auseinandersetzung. Die neue Formel: In der Präsentation unerschrocken-respektlos, in der Haltung respektvoll, in der Umsetzung anspruchsvoll. Und vielleicht ist das ja ein neuer Weg im Umgang mit Tabu und Tabubruch im Bilderbuch. Denn das brauchen Kunst und Kinder: frischen Wind. Immer.
Wilfried von Bredow/Anke Kuhl: "Lola rast und andere schreckliche Geschichten"
Klett Kinderbuch Verlag, Leipzig. 32 Seiten, 13,95 Euro. Ab 4 Jahren
Katharina von der Gathen/Anke Kuhl: "Klär mich auf. 101 echte Kinderfragen rund um ein aufregendes Thema"
Klett Kinderbuch Verlag, Leipzig. 208 Seiten, 15 Euro. Ab 8 Jahren
Katharina von der Gathen/Anke Kuhl: "Das Liebesleben der Tiere"
Klett Kinderbuch Verlag, Leipzig. 144 Seiten, 18 Euro. Ab 8 Jahren
Katharina von der Gathen/Anke Kuhl: "Klär mich weiter auf. Noch mehr echte Kinderfragen zu einem aufregenden Thema"
Klett Kinderbuch Verlag, Leipzig. 216 Seiten, 15 Euro. Ab 10 Jahren
Horst Klein/Monika Osberghaus: "Alle behindert! 25 spannende und bekannte Beeinträchtigungen in Wort und Bild"
Klett Kinderbuch Verlag, Leipzig. 40 Seiten, 14 Euro. Ab 5 Jahren
Rüdiger Paulsen/Vitali Konstantinov: "Billy Schwarzbart"
Carlsen Verlag, Hamburg. 24 Seiten, 0,99 Euro. Ab 3 Jahren
Martin Schmitz-Kuhl/Anke Kuhl: "Alle Kinder. Ein ABC der Schadenfreude"
Klett Kinderbuch Verlag, Leipzig. 64 Seiten, 15 Euro. Ab 5 Jahren