Dienstag, 19. März 2024

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Tag der Muttersprache
"Deutschpflicht auf dem Schulhof ist Unsinn"

Forscher gehen davon aus, dass in Deutschland rund 100 Sprachen in den Schulen gesprochen werden. Dieser kulturellen Vielfalt steht aber auch die Diskussion gegenüber, ob es eine Deutschpflicht auf dem Schulhof geben sollte. Das würde Kinder unnötig einschränken, sagte die Germanistin Heike Wiese im Dlf.

Heike Wiese im Gespräch mit Kate Maleike | 21.02.2020
Schulkinder spielen in Berlin auf dem Schulhof der Paul-Klee-Grundschule.
Schulkinder spielen in Berlin auf dem Schulhof der Paul-Klee-Grundschule. (picture alliance / dpa / Robert Schlesinger)
Heike Wiese: Ich freue mich, dass Sprache wichtig ist, dass wir über Sprache überhaupt nachdenken. Und ich würde mich freuen, wenn der Tag "Tag der Muttersprachen" heißen würde, im Plural, denn Muttersprache gibt es nun mal nicht nur in der Einzahl, die meisten Menschen wachsen mit mehreren Sprachen auf.
Maleike: Damit sind wir schon mittendrin in dem, was Sie demnächst im Duden-Verlag als Streitschrift zusammen mit zwei anderen Autorinnen auf den Weg bringen werden. Die Streitschrift heißt "Deutschpflicht auf dem Schulhof?", und es geht im Grunde um ein Plädoyer für die Mehrsprachigkeit. Warum haben Sie sich ausgerechnet dieses ja doch so heiß diskutierte Thema ausgesucht?
Wiese: Das Thema haben wir ausgesucht, genau weil es heiß diskutiert wird und wir einfach noch mal stärker sprachwissenschaftliche Sachargumente in die Diskussion bringen wollen. Diese Diskussion – ob es eine Deutschpflicht auf dem Schulhof geben soll, muss, kann, ob das überhaupt möglich ist, ob es sinnvoll ist –, die wird ja oft sehr emotional geführt. Mir war es einfach wichtig, mal aus wissenschaftlicher Sicht zu sagen, was sind eigentlich die Sachargumente gegen eine Deutschpflicht auf dem Schulhof, denn es gibt im Prinzip sehr viele Argumente dagegen, sehr viele Gründe, warum das Unsinn ist.
Was sind eigentlich "gute Deutschkenntnisse"?
Maleike: Dann sagen Sie uns doch diese Sachargumente mal, denn natürlich wird diese Diskussion auch sehr politisch geführt. Das wissen wir aus dem letzten Sommer, wo es eben die Forderung gab, dass Kinder, die keine guten Deutschkenntnisse haben, nicht in die Grundschulen dürfen.
Wiese: Ja, vielleicht sollte man sich erst mal überlegen, was man meint mit Kindern, die keine guten Deutschkenntnisse haben. Es gibt sicher Kinder, die noch nicht viel Deutsch können, weil sie zum Beispiel letzte Woche erst nach Deutschland zugewandert sind – das, denke ich, ist völlig unstrittig. Wenn man sich die Debatte anguckt, dann hat man aber oft das Gefühl, es geht gar nicht so sehr um Kinder, die wirklich noch Deutsch erwerben müssen, sondern Kinder, die schon in Deutschland geboren und aufgewachsen sind und natürlich immer dem Deutschen dann auch ausgesetzt waren, immer mit dem Deutschen auch aufgewachsen sind – ob die Familie jetzt zusätzlich noch andere Sprachen spricht oder nur das Deutsche kennt. Was wir in der Schule und auch sonst in der Gesellschaft häufig sozusagen so als die allein wichtige Sprache ansehen, ist nicht unbedingt das Deutsche insgesamt, sondern eine ganz bestimmte Version des Deutschen, nämlich das Standarddeutsche. Das ist sehr nah am Sprachgebrauch der Mittelschicht, und Mittelschichtkinder werden dann wahrgenommen als Kinder, die gut Deutsch können. Kinder aus anderen sozialen Schichten, die vielleicht dialektisch sprechen, ganz anders umgangssprachlich noch geprägt sind oder eben auch zusätzlich noch andere Sprachen in der Familie sprechen, werden dann oft wahrgenommen als welche, die schlecht Deutsch sprechen. Das ist natürlich Unsinn.
"Mittelschichtsdeutsch" privilegiert Mittelschichtskinder
Maleike: Aber was ist falsch daran zu sagen, ein gutes Deutsch, also das, was wir gerade hier definiert haben, ist das Ziel für alle?
Wiese: Das, was wir als gutes Deutsch und als Ziel für alle definieren, ist das Deutsch der Mittelschicht. Wenn wir das so wollen, sollten wir das auch ehrlich sagen, also wenn wir sagen, das Ziel ist, dass alle Mittelschichtsdeutsch sprechen. Dieses Deutsch ist übrigens nicht besser oder schlechter als andere Varianten des Deutschen. Berlinisch oder Standarddeutsch nehmen sich nichts an Güte, sondern das sind einfach unterschiedliche Versionen des Deutschen. Wenn wir wollen, dass alle so sprechen wie die Mittelschicht, dann heißt das natürlich, dass Mittelschichtskinder noch stärker privilegiert sind, als sie sowieso schon durch andere Bereiche es sind. Und genau das passiert ja im Moment. In Deutschland hängt es ja sehr stark davon ab, aus welcher sozialen Schicht man kommt, wie die Bildungschancen sind.
Auf dem Schulhof wird anders gesprochen als im Unterricht
Maleike: Also sind Sie gegen eine Deutschpflicht auf dem Schulhof?
Wiese: Deutschpflicht auf dem Schulhof ist Unsinn. Sagen wir mal so: Wenn es darum geht, dass Kinder besser oder mehr Deutsch lernen, dann hilft die Deutschpflicht auf dem Schulhof nicht, weil wir natürlich auf dem Schulhof ganz anders sprechen, als dann im Unterricht verlangt wird. Und das ist auch gut so, das ist eine Frage der Kompetenz, dass ich mit meinen Freunden auf dem Schulhof nicht genauso spreche, wie ich zum Beispiel im Deutschaufsatz schreiben würde. Das macht niemand von uns. Wenn ich mich abends beim Bier mit Freunden hinsetze und so spreche wie ich jetzt im Radiointerview, dann gucken die mich seltsam an. Das ist keine Frage der Kompetenz, sondern das wäre genau Inkompetenz. Das heißt, das Deutsch auf dem Schulhof ist so oder so nicht das, was dann später verlangt wird.
Warum zusätzliche kulturelle Kompetenz verleugnen?
Der zweite Punkt ist: Warum schränke ich Kinder unnötig ein? Kinder, die ein viel breiteres Repertoire haben, die zum Beispiel neben dem Deutschen noch Kurdisch sprechen oder Englisch sprechen in der Familie oder Russisch, warum sage ich denen, ihr müsst so tun, als ob ihr diese Kompetenz nicht habt, ihr müsst verleugnen, was ihr alles noch an zusätzlichem kulturellem Erbe aus der Familie mitbringt zum Beispiel, und nur Deutsch sprechen. Stellen wir uns das mal in der Musik vor. Wenn wir eine musikorientierte Schule hätten, in der ganz stark klassische Geige gelehrt wird, und dann kriegen wir mit, dass die Kinder auf dem Schulhof unter anderem auch Bluegrass auf ihren Geigen spielen – würden wir denen das verbieten? Dann kriegen wir mit, dass die auf dem Schulhof nicht nur Geige spielen, sondern auch Querflöte. Würden wir sagen, o Gott, die, die zu Hause auch noch Querflöte spielen, die können natürlich nicht gut Geige, das sind die Querflötenspieler, die zählen für uns gar nicht als Geigenspieler. Das wär völliger Unsinn. Genauso großer Unsinn ist zu sagen, jemand, der zu Hause noch Russisch, Kurdisch, Englisch, Griechisch spricht, ist für uns kein echter Sprecher des Deutschen.
Personalmangel führt zum Lernziel "still sitzen"
Maleike: Damit sind wir wieder bei Ihrem Plädoyer der Mehrsprachigkeit. Also wenn das deutsche Bildungssystem sozusagen diese Potenziale, die Sie gerade beschrieben haben, besser nutzen und, ich sag mal, systematisch auch fördern sollte, wie können wir das denn dann anstellen? Haben wir zum Beispiel die Lehrkräfte und Kita-Kräfte dafür, die diese Potenziale auch heben können?
Wiese: Wir haben in Deutschland viele engagierte und gute Erzieherinnen, Erzieher, Lehrerinnen, Lehrer, aber nicht genügend. An der Ausbildung wird gespart, am Personal wird gespart, der Personalschlüssel in Kindergärten ist unterirdisch. Wir brauchen eine vernünftige Ausbildung für Lehrende, für Erziehende, die auch berücksichtigt, dass da auch ganz viel mit Sprache passiert bei Kindern, wenn sie aufwachsen. Und wir brauchen zum Beispiel auch Schulen, in denen es für die Kinder möglich ist, viel zu sprechen. Das klingt trivial, aber wenn Sie sich die Realität in deutschen Klassenzimmern angucken, dann haben wir das Gefühl, ab der ersten Klasse ist das eigentlich Lernziel, zu lernen, still zu sitzen und still zu sein – möglichst wenig bewegen, möglichst wenig sprechen. Das ist in großen Gruppen einfach nötig, wenn wir wenig Lehrpersonal haben. Wenn Kinder aber nicht sprechen können, dann lernen sie natürlich auch nicht besonders gut, mit Sprache umzugehen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.