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Tagebücher 1811 bis 1816
Gefühle und Gedanken eines Hamburger Juristen

56 Jahre lang, von 1792 bis 1848, hat Ferdinand Beneke, ein Hamburger Jurist, ein Tagebuch geführt. Es beschreibt die Gedanken und Gefühle des Hamburger Juristen und damit das Gefühl der damaligen Zeit. Nun legt das Herausgeberteam die dritte Abteilung vor, die Jahre 1811 bis 1816 - und gibt damit Einblicke in die napoleonische Besetzung Deutschlands.

Von Peter Kapern | 13.06.2016
    Das Völkerschlachtdenkmal in Leipzig bei einer Lichtinstallation 2013.
    Das Völkerschlachtdenkmal in Leipzig bei einer Lichtinstallation 2013. (dpa / picture alliance / Jan Woitas)
    Nein, dieser erste Januar 1811 ist kein guter Tag für Ferdinand Beneke. Ein Tag, der miserabel beginnt:
    "Ein Uhr nach Mitternacht wecken mich schon wieder französische Trompeten!"
    Und der in den folgenden Stunden nicht besser wird:
    "Zwischen vier und fünf Uhr morgens französische Trommeln."
    Ferdinand Beneke wird in dieser Nacht gleich mehrfach ...
    "...geweckt aus der Freyheit Traum. Kalt und fremd hauset im alten Hause der neue Herr."
    Das alte Haus – die Hansestadt Hamburg – seit fünf Jahren besetzt von Napoleons Truppen. Aber weil der Wirtschaftskrieg gegen England, die Kontinentalsperre, nicht gelingen will, greift Napoleon zum Mittel der Annexion. Von diesem ersten Januar 1811 an ist Norddeutschland – und damit auch Hamburg - Teil des französischen Kaiserreichs. Es ist das vorläufige Ende der hanseatischen Republik. Ferdinand Beneke hat 56 Jahre lang ein Tagebuch geführt.
    "An jedem Abend vertraue ich, ehe ich zu Bette gehe, bey der letzten traulichen Pfeiffe, diesem geduldigen Empfänger die Leiden und Freuden des verlebten Tages."
    In den ersten Jahrgängen haben wir ihn als Anhänger der Aufklärung und der Französischen Revolution kennengelernt. Soll ich Jacobiner werden oder Freimaurer, fragt er sich. In Halle studiert er Jura, entwickelt sich zum überzeugten Republikaner, der den Aufstieg des Generals Buonaparte durchaus mit Sympathie verfolgt. Beneke fragt sich, wo er als Republikaner in dieser Welt seinen Platz finden kann, erwägt gar die Auswanderung nach Amerika, um schließlich Hamburg als Heimat zu wählen. Die Freie Hansestadt, die einem wie ihm noch am ehesten in Deutschland die nötige Luft zum Atmen lässt.
    Mit Entsetzen verfolgt Beneke, wie so viele andere Fortschrittliche, den Weg des französischen Generals über das Konsulat bis zur Kaiserkrönung. Jetzt ist der Korse für ihn ein Teufel, er wirft ihm Verrat an der gesamten Menschheit vor. Und ausgerechnet dieser Teufel annektiert am ersten Januar 1811 Benekes Zuflucht, die Hansestadt Hamburg. In seinem Tagebuch hält er fest, wie um ihn herum die Wendehälse sich mit den neuen Herren gutstellen, wie andere verarmen, weil sie sich nicht arrangieren wollen. Was soll er tun? Den Eid auf Napoleon schwören, damit er weiter als Jurist in Hamburg arbeiten kann? In die innere Emigration gehen?
    "Wenn ich hier bleibe, stille lebend für mich, ungefähr, wie Christen unter Türken leben, so glaube ich, daran nicht Unrecht zu tun, denn ich war eher hier, war eher hier Bürger, Hausvater und Gatte, als Napoleon sich unsers Staats bemächtigte."
    Beneke bleibt, stellt sich auf wirtschaftlich harte Zeiten ein und streicht die Ausgaben seines Haushalts zusammen.
    "Abgeschafft sind das Abendessen, der Wein (bis auf eine geringe vorläufige Ausnahme) und in der Regel alles jetzt gleich schon Entbehrliche."
    Beschreibung vieler Details der damaligen Zeit
    Beneke notiert, wie die Eingliederung Hamburgs in das Empire vonstatten geht, berichtet vom Chaos in der Rechtsprechung, weil zunächst mal niemand weiß, welches Recht anzuwenden ist: das Hamburger? Das französische? Dann, Mitte 1811, ein Stich mitten ins Herz des Republikaners Ferdinand Beneke. Nach einem mittäglichen Gewitter macht er sich auf ins Rathaus:
    "Im Rathhause sah es seltsam aus. Auf jenem Platze, wo sonst bey Bürgerversammlungen die Bürgermeister, und ihnen gegenüber die Oberalten saßen, war jetzt, ganz à la francois vermahlt und dekoriert, eine Bühne mit einer Art Hochaltar."
    Der allerdings ganz profanen Dingen diente: nämlich der Ziehung der täglichen Lottozahlen. Das hatten die Besatzer aus dem Zentrum der Hamburger Republik gemacht. Beneke spürt blankes Entsetzen:
    "Mir fielen alle Götzengestalten aus der Bilderbibel ein. Also setzt man uns an die Stelle unsres redlich und väterlich regierenden Senats ein goldnes Kalb!"
    Benekes Tagebuch wird schmallippiger, politisch zurückhaltender, weil er fürchtet, es könnte ihm zum Verhängnis werden. Die Besatzer lassen die Häuser kritischer Geister regelmäßig durchsuchen. Dennoch spiegelt das Tagebuch natürlich die epochalen Ereignisse der nächsten Jahre.
    Napoleons Feldzug nach Russland, die Vernichtung der französischen Truppen. Und schließlich jenes Ereignis des Jahres 1813, von dem Beneke allerdings erst mit Verspätung erfährt: die Völkerschlacht bei Leipzig.
    "Ich schweige von der Begeisterung, die mich ergriff."
    Notiert Beneke am 23. Oktober:
    "Von der unbeschreiblichen Entwicklung aller meiner Freuden, und meines ganzen Glücks in dieses Eine, lang Erharrte, nun Erfüllte! Ja, nun flammt meine Hoffnung hoch empor, nun darf ich glücklichen Ausgang für wahrscheinlich halten."
    Lebensstil und Lebensgefühl
    Benekes Tagebuch geht in seiner Bedeutung weit über die einer regionalgeschichtlichen Quelle hinaus. Wir lernen seinen Lebensstil und sein Lebensgefühl kennen, von den täglichen Spaziergängen bis hin zu seiner engen Einbindung in die gebildeten Stände der Hansestadt. Und wir werden Zeuge, wie Beneke über die Jahre hinweg den Weg vom Kind der Aufklärung bis hin zum national gesinnten Frühromantiker zurücklegt. Eine Entwicklung, so Frank Hatje, der Herausgeber der Beneke-Tagebücher, die so typisch für diese Zeit war:
    "Beneke ist vollkommen Zeitgeist in der Hinsicht. Man liest in seinen Tagebüchern Passagen, die von Novalis, von Friedrich Schlegel, von E. T. A. Hoffmann, von Schleiermacher stammen könnten, ohne dass er die Schriften gekannt haben kann, weil die Schriften zum Teil deutlich später geschrieben sind oder überhaupt nicht publiziert wurden. Das ist verblüffend, festzustellen, in welchem Maße Beneke dem Zeitgeist entspricht, er inhaliert ihn geradezu."
    Frank Hatje beschreibt in einem glänzenden Begleitessay diese innere Wandlung Ferdinand Benekes. Wie er, als Anhänger der Aufklärung, die ausschließliche Orientierung auf die eigene Vernunft als letztlich nur halbe Aufklärung empfindet, der die emotionale Komponente fehlt. Die fügen dann das frühromantische Natur- und Glaubenserlebnis hinzu. Und noch etwas ergreift Besitz von Beneke in diesen Jahren: das Nachdenken über Deutschland, das Grübeln darüber, warum Napoleons Franzosen so mühelos die deutschen Staaten niederwerfen konnten.
    "Dann kommt hinzu, dass man diese Niederlagen 1805 und 1806 erlebt als das Offenbarwerden, dass den Deutschen etwas Wesentliches fehlt, was die Franzosen - auf jeden Fall in den frühen Revolutionsjahren - gehabt haben. Nämlich die Begeisterung für die Patrie, die Begeisterung für die Nation und die Feststellung, dass man eigentlich so etwas braucht, wenn man sich irgendwann wieder von Napoleon befreien will."
    Die Herausgabe der Beneke-Tagebücher ist eine editorische Großtat. Von der Qualität des Papiers über das Druckbild bis hin zur akribischen Entschlüsselung der von Beneke geschilderten Geschehnisse: Das Ergebnis ist beeindruckend. Beneke lesen macht süchtig. Näher als mit der Lektüre dieses Journals kann man einem Menschen des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts nicht kommen.
    Frank Hatje, Ariane Smith, Juliane Bremer, Frank Eisermann, Angela Schwarz, Birgit Steinke und Anne-Kristin Voggenreiter (Hrsg.): Ferdinand Beneke: "Die Tagebücher III (1811 – 1816)"
    7 Bände, 3876 Seiten, Wallstein Verlag, 3876 Seiten, 128 Euro, ISBN: 978-3-8353-0912-8