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Tagebücher
Kertész als Hedonist und empfindsamer Selbstanalytiker

Für den "Roman eines Schicksallosen", in dem der ungarische Schriftsteller Imre Kertész Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges verarbeitete, erhielt er 2002 den Literaturnobelpreis. In den Tagebüchern thematisiert er die widersprüchlichen Pole seiner Existenz.

16.12.2013
    "Ich empfinde Dankbarkeit für mein Schicksal. Und träume manchmal von Goldbarren, die aus herausgerissenen Goldzähnen geschmolzen sind."
    Prägnanter als in dem Satz von den Goldzähnen und den Goldbarren kann man die irrwitzig widersprüchlichen Pole einer Existenz nicht zusammenfassen. Wenn der Schriftsteller Imre Kertész, der als 15-, 16-jähriger Auschwitz und Buchenwald überlebte, der später einen der erschütterndsten Romane des 20. Jahrhunderts darüber schrieb – den "Roman eines Schicksallosen" – und schließlich mit dem Literaturnobelpreis geehrt wurde: Wenn dieser Mann in sein Tagebuch notiert, er empfinde Dankbarkeit für sein Schicksal, ist das nicht sarkastisch gemeint. Kertész hat sich über den "Literarischen Hauptgewinn" aufrichtig gefreut, und er versucht das Leben "danach" so zu genießen, wie man es von einem Nobelpreisträger erwarten darf. Die besten Restaurants, die schönsten und luxuriösesten Hotels, so hätte er immer schon gern gelebt, notiert er.
    Und doch gibt es gewissermaßen zwei Kertész. Es gibt den Hedonisten, den "Kertész de luxe", der mit seiner zweiten Frau Magda von Berlin aus, wo er inzwischen lebt, durch die Welt jettet und sich feiern lässt. Und es gibt den empfindsamen Selbstanalytiker, der sich selbst über die Schulter sieht und die Metamorphose eines lange verkannten, spät entdeckten Schriftstellers zu einem Medien-Superstar und leibhaftigen Holocaust-Zeugen skeptisch beäugt. Aus dieser unerhörten Spannung ist das Tagebuch der Jahre 2001 bis 2009 gestrickt, Zeile für Zeile, Wort für Wort. Lässt sich der Nobelpreis am Ende umdeuten zu einer Art moralischem Ausgleich für das erlittene Unrecht – und so von der zweifellos erbrachten literarischen Leistung trennen? Dieser subkutane Verdacht weckt ein "Unbehagen" – und das Unbehagen ist, neben dem Wort "Täter", einer der Ausdrücke, die Kertész auf Deutsch in seinen ungarischen Text einfließen lässt. Für den hier angedeuteten Zwiespalt findet der Tagebuchschreiber deutliche Worte:
    "Ich schreibe über Auschwitz, aber man hat mich nicht dazu nach Auschwitz gebracht, damit ich den Nobelpreis bekomme, sondern damit ich umgebracht werde."
    Im Juni 2002, also noch vor dem Nobelpreis, klagt der Chronist:
    "Ich schaffe es nicht mehr, dem ununterbrochenen Laufschritt fordernden Betriebstempo des mit dem Markennamen Kertész versehenen Schriftstellerunternehmens zu folgen. Am liebsten würde ich den Laden schließen."
    Der "Markenname Kertész", diese Formel drückt die Aporie präzise aus. Der Laden lässt sich nicht mehr schließen. Und nach der Verleihung des Preises Ende 2002 ist die Eigendynamik des Prozesses nicht mehr zu stoppen. Das Nobel-Bankett ist nur das erste einer nicht mehr abreißenden Kette von Banketten, Empfängen, zu haltenden Reden – als sei der ungarische Schriftsteller der letzte lebende Zeuge des ungeheuren Abgrunds, der sich in der Mitte des 20. Jahrhunderts aufgetan hat. Er sagt es allerdings auch einmal selbst:
    "Eigentlich gibt es nur zwei, drei Autoren, die authentische und erhellende Texte über Auschwitz geschrieben haben."
    Natürlich ist einer dieser zwei oder drei er selbst; wer der andere ist, bleibt offen. Semprún und Primo Levi sind es nicht. Kertész lebt schließlich in Deutschland, in Berlin, er steht zur Verfügung. So hoch seine Reputation hier ist, als so gering empfindet er sie in Ungarn, dem Muttersprachenland, dem entronnen zu sein er von Herzen froh ist.
    "Meine literarische Reputation in Ungarn entspricht der eines Porno-Autors: In der guterzogenen, vornehmen literarischen Gesellschaft schickt es sich nicht, meinen Namen auszusprechen."
    Heißt das im Umkehrschluss, dass in Deutschland alles bestens geregelt sei, da doch ein Imre Kertész "wie ein Großaktionär, der sich seine Rechte vorbehält", über Auschwitz reden darf oder besser gesagt: dazu genötigt wird? Keineswegs. Die nicht abreißenden Gedenk- und Wiedergutmachungsrituale sind schön und gut, aber sie bereinigen das Bewusstsein nach Auffassung des Tagebuchschreibers nur marginal und ändern nichts daran, dass er im Juli 2005 bitter konstatiert:
    "Auch nach fast einem Jahrhundert hat man noch nicht begriffen, dass zwölf Jahre lang ein Mann namens Adolf Hitler in Europa geherrscht und die Welt in Mörder und Ermordete bzw. zu Ermordende aufgeteilt hat. Und diese so aufgeteilte Welt funktionierte."
    Der letzte Satz ist entscheidend. Das beinahe reibungslose Funktionieren einer barbarischen Welt hat Kertész im "Roman eines Schicksallosen" beschrieben, und es ist verblüffend zu sehen, wie die Bitternis des Opfers in einem furiosen Sprachspiel in funkelnde Ironie umgemünzt wird. So etwas vermag nur die Literatur. Und die Tatsache, dass der Roman erst 20 Jahre nach seiner Veröffentlichung entdeckt und gefeiert wurde, ist kein Ruhmesblatt für den globalen Literaturbetrieb.
    Aber das ist in diesem Tagebuch, das den Titel "Letzte Einkehr" trägt, also deutlich das Signum eines abschließenden Werks auf der Stirn trägt, nicht mehr das Thema. "Die letzte Einkehr" war eigentlich der Titel eines halb fiktionalen, halb autobiografischen Schreibprojekts, von dem nur rund 30 Seiten realisiert wurden, die nun als Fragment in den Tagebuchtext eingelagert sind. Auch die beiden Tagebuchdateien, die das Fragment umrahmen, tragen schöne Titel: "Geheimdatei" und "Garten der Trivialitäten". Mit den Trivialitäten meint Kertész den Alltag – seinen Glanz und seine angenehmen Aspekte ebenso wie seine Mühsal, die Aporie des Älter- und Altwerdens, die Gebrechen, die Melancholie. Nicht zuletzt ein stetig schwankendes Hin und Her zwischen beiden Gemütszuständen bestimmt den Duktus und die Temperatur dieses erstaunlichen Buchs.
    Es ist ja kein Geheimnis, dass Tagebücher oftmals spannender zu lesen sind als die spannendsten Romane – hier ist ein weiterer Beleg dafür. Übrigens enthält das Buch bei all seinem moralischen Gewicht ein vitales und geradezu verliebtes Porträt der Stadt Berlin, in der der Autor lebt und, wie gesagt, sein Leben zu genießen sucht. Er wohnt in Charlottenburg in einer Seitenstraße des Kurfürstendamms, und zu den Leitmotiven der Chronik zählt ein Obdachloser aus der Nachbarschaft, dessen Gepflogenheiten der Schriftsteller mit einfühlsamer Ironie untersucht.
    "Beim Abendspaziergang erblickte ich plötzlich den Bettler: Er saß auf dem Kurfürstendamm in einem Hauseingang, an diesem warmen Abend ohne Jacke, völlig unscheinbar in der auf- und abwogenden Masse. Er sollte sich sein Renommee nicht so zerstören; ein Mensch wie er kann sich nur in einer Nebenstraße Aufmerksamkeit verschaffen, auf dem Kurfürstendamm ist er so verloren wie eine Stecknadel, die man aus dem Hemd zieht und durchs offene Fenster auf die Straße wirft."
    Es ist, als würden hier zwei durch ihr besonderes Schicksal miteinander verbundene Personen heimlich einander zuwinken. Aber auf dem Lebensweg des einen von ihnen gab es nicht nur eine, sondern zwei markante Zäsuren: Auschwitz und ein gutes halbes Jahrhundert später den Nobelpreis. Beides hat wenig und hat doch viel miteinander zu tun. Kertész ist Schriftsteller aus Passion und möchte im Grunde nichts anderes als schreiben. Er entwickelt Projekte und führt darüber Buch. Es sind einerseits die Verpflichtungen des Ruhms, andererseits die zunehmenden körperlichen Malaisen, die ihn behindern. Zwei Bücher kommen zustande: "Liquidation" und "Dossier K." Dennoch entwickelt das Tagebuch sich immer mehr zu einer "Chronik des Verfalls". Enkel kommen auf die Welt – oder besser: Stiefenkel; Kertész hat keine eigenen Kinder.
    "Man ist entweder Schriftsteller oder Großvater. Es stimmt nicht, daß beides zusammen realisierbar ist. Ich empfinde eine gewisse Schadenfreude mir selbst gegenüber. Ich lebe wie ein Schwein. Ich nehme zu und schaue nicht aus dem Stall hinaus."
    Die Notate werden seltener, Suizidgedanken häufiger. Aber keine endgültigen Entscheidungen. Punktuell, aber zuverlässig bricht sich das Glück des Lebens Bahn. Weiter Horizont, strahlender Himmel, grüne Landschaft. Und dann doch wieder: der starke Selbstzweifel, gelegentlich an der Grenze zur Koketterie, die den Charme eines – dieses – Tagebuchs ausmachen kann.
    "Wer liebt mich? (Außer mir selbst?) Ich glaube, niemand. Ich bin auch nicht liebenswert. Letzten Endes will ich auch nicht, daß man mich liebt, ich begnüge mich auch mit Bewunderung."
    Imre Kertész: "Letzte Einkehr. Tagebücher 2001 – 2009", aus dem Ungarischen von Kristin Schwamm. Rowohlt, 464 Seiten, 24,95 Euro.