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"Tagesspiegel"
Lokaljournalismus per Newsletter

In Berlin hat jeder einzelne Stadtbezirk mehr als doppelt so viele Einwohner wie Heidelberg. Trotzdem wäre es sehr aufwändig und teuer, für jeden der zwölf Bezirke eine eigene Lokalzeitung anzubieten. Der „Tagesspiegel“ setzt deswegen auf spezielle Newsletter – und hat damit Erfolg.

Von Vera Linß | 24.06.2019
Ein Schild wirbt an einem Kiosk in Berlin für die Tageszeitung "Der Tagesspiegel".
Den "Tagesspiegel" gibt es längst nicht mehr nur in gedruckter Form (picture alliance / Wolfram Steinberg)
Bislang war Lokaljournalismus in einer Dreieinhalb-Millionen-Stadt wie Berlin ein schwieriges Unterfangen. Zu viele Informationen laufen auf, als dass man diese jemals in einer Tageszeitung abbilden könnte. Doch die Digitalisierung hat sich gerade im Lokalen als große Chance herausgestellt.
Mit ihr lassen sich lokale Nachrichten auf kleinere Zielgruppen zuschneiden. Genau das macht der Berliner "Tagesspiegel" mit seinem Bezirksnewsletter "Leute". Sebastian Turner, der Herausgeber des Blattes: "Man kann mit sehr, sehr geringem Aufwand sehr spezielle Angebote machen und auch verteilen. Und so haben wir vom ‚Tagesspiegel‘ aus für alle Berliner Bezirke – das sind zwölf, jeder ist doppelt so groß wie Heidelberg oder dreimal so groß – so ein Angebot gemacht und sehen, wie gut das angenommen wird. Und so sieht man, dass eine Technologie, die auf der einen Seite den Journalismus und das Medienwesen stark herausfordert, auf der anderen Seite eine ganz neue Möglichkeit bietet, ein Angebot zu machen, das über Jahrzehnte nicht bestehen konnte, weil die Drucktechnik zu unbeweglich war und zu teuer."
Finanzierung mit Werbung
Seit Juni 2016 geht der "Leute"-Newsletter einmal pro Woche per Email an die Leserinnen und die Leser. Möglich wurde das neue Angebot unter anderem durch eine Anschubfinanzierung von Googles "Digital News Initiative", in dessen Rahmen der Suchmaschinenkonzern auch deutsche Verlage fördert.
Inzwischen wird der Newsletter aus eigener Kraft finanziert: Über Werbung, aber auch, weil das neue digitale Angebot dem "Tagesspiegel" zusätzliche Abonnenten für die Printfassung der Tageszeitung bringt.
Laura Hofmann schreibt die Ausgabe für den Stadtbezirk Mitte. Sie sieht in den Newslettern die Möglichkeit, eine neue Qualität in den Lokaljournalismus zu bringen. "Wir sagen immer dazu hyperlokale Berichterstattung. Der Vorteil ist, es ist sehr nah an den Menschen dran. Da geht’s um Zebrastreifen, die irgendwo neu entstehen sollen, oder eine neue Ampel, um Schulwege sicherer zu machen. Da geht’s darum, Bänke aufzustellen, Bänke zu ersetzen, die marode geworden sind. Es geht auch um Schulbau, um neue Kitas. Das ist so ziemlich echt näher dran an den Menschen als die große Politik manchmal. Und da haben wir eben ein neues Feld erschlossen, und das wird auch super angenommen."
LeserInnen auch außerhalb der Stammregionen
156.000 Abonnenten gibt es bereits. Rund die Hälfte davon öffnet den Newsletter auch tatsächlich. Diese sogenannte Öffnungsrate ist der Maßstab für Redaktion und Werbekunden. Für den "Tagesspiegel" ist der Newsletter auch eine Chance, Menschen aus dem Ostteil Berlins zu erreichen, die traditionell noch immer eher die "Berliner Zeitung" oder keine Tageszeitung lesen. Das funktioniert ganz gut. Selbst in Lichtenberg, Marzahn oder Hellersdorf habe man bis zu 7000 Abonnenten, sagt Judith Langowski, ebenfalls Redakteurin beim Newsletter.
"Wir kriegen auch Tipps aus den Bezirken. Also viel auch eben jetzt, wo es um Wohnungspolitik geht. Wenn in einem Haus sich die Mieter zusammenschließen zu einer Mieterinitiative, weil sie möchten, dass ihr Haus vorgekauft wird, weil es verkauft würde an einen Investor, wenden die sich oft auch schnell an uns, weil es da eben diese konkreten Ansprechpartner mit Gesicht gibt. Das ist schon wirklich ein direkterer Draht und eine Person, die weiß, ich beschäftige mich jetzt mit dem Bezirk."

Nicht nur eine gute Detailkenntnis über die Besonderheiten im Bezirk wird geschätzt, sondern auch, dass die Texte persönlich, aus der Sicht des Autors geschrieben werden. "Was auch sehr gut funktioniert ist, dass wir dann auf die Leser zugehen und fragen: Was halten Sie eigentlich von der Randbebauung am Tempelhofer Feld? Und dann hab ich das in einem Newsletter geschrieben, den ich selber geschrieben habe. Es kamen, sobald ich sie rausgeschickt habe, im Fünf-Minuten-Takt Antworten von den Lesern."
Newsletter zu verschiedensten Themen
Bislang sind die Bezirksnewsletter kostenfrei. Und das soll auch erst einmal so bleiben. Gleiches gilt für die anderen Newsletter, die der "Tagesspiegel" inzwischen verschickt. "Wir haben möglicherweise den ersten Newsletter einer Zeitung überhaupt für Homosexuelle, für die ganze Queer-Community, heißt auch Querspiegel. Wir haben einen Newsletter für die Stadt, wir haben Newsletter für Fachgruppen, Politik, Wirtschaft. Es ist ein ganzes Ökosystem entstanden von Möglichkeiten, Gruppen, die uns früher kaum gesehen hätten, auf die zuzugehen und mit uns in Verbindung zu bringen. Und von dort schöpfen wir die Abonnenten, die wir natürlich brauchen, so wie andere Zeitungen auch, um wirtschaftlich uns zu entwickeln", sagt Herausgeber Sebastian Turner.
Ganz auf Einnahmen von den Lesern will man aber auch bei den Newslettern nicht verzichten. Seit Mai ist der preisgekrönte "Checkpoint", der jeden Morgen außer sonntags das wichtigste aus Politik, Kultur und Gesellschaft pointiert zusammenfasst, kostenpflichtig. Die Resonanz darauf bleibt abzuwarten.