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Tagung
Wieso wir Angst vor dem Fremden haben

Wieso identifizieren wir uns über Abgrenzung? Das beschäftigte eine Tagung des Freiburger Arbeitskreises Literatur und Psychoanalyse. Die Diskussionen waren vielschichtig, ein Ergebnis: Empathie ist eine der wichtigsten Eigenschaften für den Aufbau von Gesellschaft und Gemeinschaft.

Von Dörte Hinrichs | 30.01.2014
    "Wer betrügt, der fliegt". Es bedurfte nicht erst dieser Aussage über osteuropäischen Migranten, um der Freiburger Tagung Aktualität zu geben. Aber die Parole bot sich natürlich an für die Auseinandersetzung mit dem Fremden - und wurde von den Wissenschaftlern sogleich aufgegriffen und analysiert:
    "Wenn ich sage, ich muss mich jetzt schützen und bewahren gegenüber denen, die da reinkommen, dann kann ich sagen, die nehmen uns was weg, die dringen bei uns ein, die beuten uns aus und missbrauchen unsere Sozialsysteme. Das mache ich aber nur, wenn ich mich selber sehr stark abgrenze, wenn ich selber unsicher bin, wenn ich selber mich in meinen Grenzen verunsichert und unklar fühle. Es ist entscheidend, dass wir das hinterfragen."
    Eine Forderung, die der Psychiater Prof. Joachim Küchenhoff von der Universität Basel formulierte, der sich mit der Konstruktion und Dekonstruktion des Fremden auseinandersetzte. Er benannte die Angst, dass andere, Ausländer gar, uns Einheimischen etwas wegnehmen könnten, wie zum Beispiel Arbeitsplätze oder Renten - und dass sie mehr bekommen und wir leer ausgehen könnten. Diese Angst verweist laut Küchenhoff auf unbearbeitete Konflikte um Versorgung und Autarkie. Wobei gleichzeitig verleugnet wird, was und wie viel wir erhalten, wenn dringend benötigte Fachkräfte zu uns kommen. Und schon war man mittendrin im vertrauten psychoanalytischen Diskurs:
    "Also der Fremde ist gewissermaßen der Bildschirm, auf den viele eigene Vorstellungen - und zwar gerade unliebsame Vorstellungen, die ich in mir nicht gerne wahrnehmen möchte - projiziert werden."
    Muss ich mich in eine Identitätskapsel zurückziehen?
    Das Herausbilden der eigenen Identität entsteht immer in der Auseinandersetzung mit dem Anderen, dem Fremden. Auch mit dem Fremden in einem selbst. Und das kann fruchtbar gemacht werden für mehr Großzügigkeit und Gelassenheit im Zusammenleben mit Menschen aus anderen Kulturen.
    "Also wenn ich selber weiß, wo liegt denn bei mir etwas, wo ich mich unversorgt fühle, dann kann ich das für mich bearbeiten und dann ist das nicht bei den anderen, die dann mir alles wegnehmen. Und das andere, da geht es um die Identität oder die Grenzen, die ich ziehe. In der Psychoanalyse ist es ein wichtiges Ziel zu sagen: Muss ich mich wie in ein Schneckenhaus, in einer Identitätskapsel gewissermaßen zurückziehen, an der andere dann notgedrungen abprallen, oder bin ich in mir so sicher, dass ich vielleicht in einen Austausch mit anderen treten kann?"
    Joachim Küchenhoff sieht sich in seiner Arbeit als Leiter einer Psychiatrischen Klinik in Liestal bei Basel auch selber interkulturell herausgefordert. Fast ein Drittel seiner Patienten haben Migrationserfahrungen:
    "Es spielt eine enorme Rolle und zunehmende Rolle und ein Problem ist auch wirklich gerade da, wo die, die zu uns kommen sich ausgegrenzt fühlen. Und da entsteht ein unglaubliches Leid. Und dann muss man sich auch als Therapeut darauf einlassen, zu fragen, was bringt der Mensch, dem ich da gegenüberstehe, mit an Erfahrungen, die ich vielleicht nicht habe. Also das würde heißen, ich bewerte nicht sofort, was der andere mitbringt, sondern nehme das auch umgekehrt als etwas, was mich bereichern kann."
    Interkulturalität rückt so auch klinisch immer stärker ins Zentrum und eröffnet die Chance, den Blick auf die eigene Arbeit zu erweitern. Die Behandlung von Menschen aus anderer Kulturen, so Küchenhoff, kann ebenso die Arbeit mit Menschen erleichtern, die zwar aus der eigenen Kultur, aber zum Beispiel aus völlig anderen sozialen Milieus kommen. Vorausgesetzt man ist offen und lernbereit in der Begegnung und Kommunikation mit dem Anderen und Fremden und erkennt die Bilder über ihn als eigene Konstruktion:
    "Und das, was die Psychoanalyse auszeichnet und ganz wichtig ist, dass ich mich zurückfrage: Was versperrt mir denn jetzt das Verständnis mit dem Menschen, mit dem ich da rede? Was kann ich selber da nicht hören und wo gibt es in mir vielleicht diesem Menschen gegenüber auch Ressentiments, die ich dann aber - das ist der Anspruch - nicht einfach reproduziere, sondern für mich infrage stelle und dann mit der Patientin, dem Patienten auch weiterkomme."
    Über das eigene Fremde nicht befremdet sein
    Die Selbstbegegnung zu suchen und die eigene Erkundung zum Modell des Fremdverstehens zu machen - dieser psychoanalytische Ansatz ist nach wie vor fruchtbar, darin waren sich die versammelten Wissenschaftler einig. Handelt es sich doch um eine Expedition in eine fremdkulturelle "terra incognita", deren Reiz schon die Dichter der Romantik verspürten, wie zum Beispiel Novalis:
    Die Zentralregion des kugelförmigen Sternhaufens NGC 6752, aufgenommen mit dem Hubble-Weltraumteleskop
    "Wir träumen von Reisen durch das Weltall: Ist denn das Weltall nicht in uns?" (NASA/ESA)
    "Wir träumen von Reisen durch das Weltall: Ist denn das Weltall nicht in uns? Die Tiefen unseres Geistes kennen wir nicht - Nach innen geht der geheimnisvolle Weg."
    Ein Weg, bei dem wir über das eigene Fremde in uns nicht befremdet sein sollten, denn, so der Berliner Kulturwissenschaftler Prof. Hartmut Böhme:
    "Die Fremdheit in sich selber ist eine Voraussetzung dafür, dass man zu fremden Kulturen oder auch fremden Objekten eine Beziehung der Anerkennung und des Austauschs finden kann. Und wenn man heute sieht, dass unsere großen Probleme, die wir zwischen den Kulturen haben - also die radikalen, fundamentalistischen Freund-Feind-Schemata, die Massivität von exklusiven Prozessen, also wen lassen wir rein, wen weisen wir ab, wer wird ausgeschlossen, sowohl innergesellschaftlich als auch außergesellschaftlich - dann beruht das auf dualen Prozessen, die in der Tat auch evolutionsbiologisch vorgeprägt sind und insofern auch nicht überraschen. Aber sie sind massive Hinderungen dafür, dass man so etwas wie eine interkulturelle Kommunikation entwickeln kann, in dem eine wechselseitige Anerkennung nicht nur, sondern auch Beeinflussung, ein Austausch, ein nicht nur kleiner, sondern auch großer Grenzverkehr zwischen den Kulturen passiert, wo vielleicht beide Kulturen sich auch verändern."
    Schwellenraum zwischen Identitätsbestimmungen
    So können Übergangsräume entstehen, dann kann unsere Kultur und die Kultur der anderen sich zu einem neuen Dritten verändern, dessen Umriss uns noch unbekannt ist. Möglicherweise eröffnet sich ein sog. „Dritter Raum“, eine Metapher, die immer wieder in den Diskussionen aufflackerte, sich aber einer konkreten Definition entzog. Küchenhoff brachte diesen Begriff ins Spiel, indem er den indisch-amerikanischen Soziologen Homi Bhabha zitierte. Der hat das Konzept des Dritten Raumes entwickelt und sieht darin einen "Schwellenraum zwischen den Identitätsbestimmungen", einen "Raum andauernden Überquerens, in dem es darum geht, Ambivalenz auszuhalten, sich zu verständigen, wo kein Verstehen vorausgesetzt wird."
    Ein Schritt in diese Richtung könnte es sein, wenn wir von der Evolutions- und Soziobiologie lernen, so Böhme, der sich auf Edward O.Wilson bezog. Der Biologe geht davon aus, dass menschliche Gemeinschaften auf einer doppelten Orientierung beruhen: Einerseits konkurrieren wir innerhalb von Gruppen um Erfolg, Status und Ansehen - andererseits verhalten wir uns eher im Sinne eines altruistischen Gemeinsinns wenn wir als Gruppe mit anderen Gruppen konkurrieren. Diese beiden widersprüchlichen Triebdynamiken prägen uns bis heute.
    "Und das ist dieses dynamische Moment, was vielleicht die Geschichte der Gewalt, der Kriege, aber auch der Konkurrenzen bis hin zum Kapitalismus und seinen Spielarten auch bestimmt hat. Aber wir haben unterdessen in der Soziobiologie auch Indizien dafür, dass es zu uns als überlebensfähige Lebenswesen gehört, dass wir fürsorgliche, kooperative und anerkennende Beziehungen zu anderen haben. Es sei denn, wir gehen unter."
    Demnach ist es sinnvoll, ja sogar überlebenswichtig für den Menschen auf Kooperation zu setzen. Angesichts der Tatsache, dass immer mehr Menschen auf der Erde leben, aber nicht mehr Lebensraum und Ressourcen zur Verfügung stehen. Doch statt zu kooperieren konkurrieren wir, haben sich Egoismus, Rassismus und Fremdenhass verstärkt. Die politisch bedeutungsvolle Einsicht der Evolutionsbiologie liegt nun darin, so Böhme, dass innerhalb von Gruppen zwar Egoismus den Altruismus besiegt, aber altruistische Gruppen den egoistischen Gruppen überlegen sind. Sich in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen und gleichzeitig egoistisch zu sein, ist nicht nur genetisches, sondern auch ein kulturell erworbenes Programm, das veränderbar ist.
    "Das Fremde macht Angst und das Fremde lässt einen feindselig werden, man will es vertreiben und auslöschen oder nicht bemerken, verdrängen und vergessen, aber das Fremde ist auch das Reizende, Verlockende, Verführerische, Neugierig machende und Bereichernde. Das heißt es gibt keine natürliche Affektivität im Verhältnis zum Fremden, sondern was wir für Gefühle dem Fremden gegenüber entwickeln, hängt von der jeweiligen Kultur ab, in der wir leben."
    Das Fremde in der Literatur
    Die Gefühle gegenüber dem Fremden sind seit jeher auch Gegenstand der Literatur. Mit dem Reiz des Fremden auf der Paarebene hat sich die Marburger Erziehungswissenschaftlerin Prof. Ulrike Prokop beschäftigt. Schon bei Shakespeares "Othello", im frühen 17. Jahrhundert wird die Anziehung zwischen der weißen Desdemona und dem schwarzen Othello dramatisch inszeniert. Prokop skizziert hier den Gegensatz zwischen einer Liebeslogik und dem strategischen Handeln in der Liebe als größten Verrat. Ein Gegensatz, der auch in der zeitgenössischen Literatur aufgegriffen wird, zum Beispiel bei Michel Houellebecq, vor dem Hintergrund neuartiger Entwicklungen der Gegenwart:
    "Bei Houellebecq interessiert mich besonders, dass er der Auffassung ist, dass Gewalt zunimmt, Fremdheit zunimmt, und dass er die Ursache darin sieht, dass das, was den Markt reguliert, nämlich strategisches Handeln, rationale Kalkulation aus dem Bereich der Arbeit in den Bereich des Intimen eingewandert ist. Und damit auch hier, - deswegen auch sein Titel "Ausweitung der Kampfzone" -, auch hier das strategische Handeln greift und alle vor die Aufgabe stellt, sich darin zu behaupten."
    Das zeigt sich zum Beispiel in der Szene zwischen der Liebesbegegnung eines katholischen Priesters mit einer jungen Krankenschwester. Diese trennt sich nach kurzer Zeit von ihm, weil für sie der Reiz des Fremden und Verbotenen verflogen ist, was sie ihm ganz offen gesteht.
    Die Fremdheit in der Intimität, die Zunahme des Strategischen und die Angst davor sind ein durchgehendes Thema aktueller Liebeserzählungen, so Prokop. Aber auch Gefühle der Fremdheit im Leben zwischen zwei Kulturen sind ein beliebtes Sujet in Literatur und Film. Mit der Dramatisierung von kulturellen Differenzen hat sich Ortrud Gutjahr, Professorin für interkulturelle Literaturwissenschaft an der Universität Hamburg beschäftig. Am Beispiel des Romans "Die Brücke vom goldenen Horn" von Emine Sevgi Özdamar erläutert sie anschaulich das Wandern zwischen den Welten und die Folgen für eine junge, theaterbegeisterte Türkin, die nach Berlin geht, um Geld für ihre Schauspielausbildung zu verdienen.
    "Es geht also hier um die Verknüpfung von Migration und künstlerischer Entwicklung, aber auch um einen Adoleszenzprozess. Und was dieser Roman ganz deutlich darstellt, ist, dass die Protagonistin sich im Laufe ihrer Entwicklung immer mehr von Wertvorstellungen, in die sie hineinsozialisiert wurde, löst, um sich in der Auseinandersetzung mit der Kultur in Deutschland, aber vor allen Dingen auch mit dem Theater und der europäischen Literatur ganz neue Werthorizonte erschließen kann. Also sich ein eigenes Leben aufbauen kann, in dem diese Wertgebungen - gerade auch durch das Theaterspiel- immer wieder in neuen Rollen ausprobiert wird."
    Spannungsverhältnis schafft Freiraum
    Wie sehr auch Humor und das ironische Spiel mit kulturellen Stereotypen das Fremd- und Selbstverstehen fördern kann, zeigte einleuchtend ein Beispiel aus dem preisgekrönten Film "Almanya": Hüsseyin und Fatma werden nach vielen Jahrzehnten in Deutschland eingebürgert und müssen sich verpflichten, die deutsche Kultur als Leitkultur zu übernehmen. Das bedeutet, von nun an Mitglied im Schützenverein zu werden, regelmäßig den "Tatort" zu schauen und Schweinefleisch zu essen. Literatur und Film können helfen, unseren Umgang mit dem Fremden zu reflektieren, können uns Identifizierungsangebote liefern, auch im Blick auf soziale und psychodynamische Grenzüberschreitungen. Dabei können wir uns mit den Figuren identifizieren und sie gleichzeitig beobachten. Aus diesem Spannungsverhältnis, so Ortrud Gutjahr, gewinnen wir einen Freiraum, um uns neu zu entwerfen.
    Die eigenen Wertorientierungen kritisch zu hinterfragen und offen für andere zu sein, ist aber kein einfaches Unterfangen. Denn die im Laufe der Sozialisation durch die engsten Bezugspersonen geprägten Normen und Tabus sind immer auch emotional besetzt.
    "Darum sind eben Werte, nach denen wir uns immer verhalten, in einer Tiefensemantik verankert und deswegen sind sie auch für rationale Argumente zunächst einmal nicht direkt zugänglich. Sondern Werteveränderungen vollziehen sich immer durch Empathie. Durch die Fähigkeit, sich in einen anderen hineinzuversetzen, seine Werte aus seiner Perspektive zu erleben und diese dann auch emotional besetzen zu können, um so zu einer Veränderung unserer Wertgebung zu kommen."
    Empathie als Allheilmittel?
    Empathie war denn auch einer der immer wiederkehrenden Begriffe in den Diskussionen auf der Freiburger Tagung. Empathie als Fähigkeit, um Respekt und Verständnis füreinander auch in interkulturellen Begegnungen zu ermöglichen. Empathie aber auch als Gegenbegriff zur Apathie, einer nach Ansicht von Prof. Hartmut Böhme weitverbreiteten Kultur des Nichtteilhabens und der eigenen Unberührbarkeit. Empathie also als Allheilmittel im interkulturellen Miteinander?
    "Das ist etwas, das für den Aufbau von Gesellschaft und Gemeinschaft unglaublich wichtig ist, diese Fähigkeit. Ohne sie würde es Kooperation, Verträge, Verlässlichkeit, Vertrauen, Wahrhaftigkeit überhaupt nicht geben können. Darum ist erst mal Empathie ein konstruktives Verhalten. Aber Empathie, wie alles an uns, ist auch durch Strategien der Macht und Gewalt instrumentalisierbar: Das kann man auch beobachten, dass etwa in den sadomasochistischen Beziehungen zwischen Täter und Opfer ein sehr dichtes empathisches Verhältnis besteht, das gewissermaßen maligne, bösartig ist."
    Es waren die vielen Perspektiven aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen, die die Diskussion um Interkulturalität bei der Freiburger Tagung so vielschichtig machte. So kam es zu einem Einblick in die Dimensionen des Fremden, wie sie literarisch verarbeitet werden, in die Erfahrung des Fremden in der Psychoanalyse, die das "innere Ausland" des Unbewussten erkundet, oder in die Ethnologie, die sich dem ethnisch Fremden aussetzt. Dabei ist unsere eigene nationale Kultur ein Hybrid, durchdrungen und bereichert von Einflüssen aus anderen, einst fremden Kulturen.
    Interkulturalität wird längst an vielen Orten erfolgreich praktiziert, etwa in NGOs und zum Beispiel bei Vereinigungen wie "Ärzte ohne Grenzen", so der Berliner Kulturwissenschaftler Prof. Hartmut Böhme. Auf politischer Ebene sei da noch Nachholbedarf, denn:
    "Wir brauchen nicht nur die Bulgaren, sondern auch die Inder und die Türken usw. Wir werden also ein Einwanderungsland sein müssen, aber wir müssen es auch sein wollen."