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Takis Würgers Roman "Stella"
Wo beginnt der Holocaust-Kitsch?

Lange war der Holocaust als Unterhaltungsthema tabu. Dieses Tabu scheint aber aufzuweichen, wie auch der Roman "Stella" von Takis Würger zeigt. Darin peppt Würger die wahre Geschichte einer jüdischen NS-Kollaborateurin mit einer fiktiven Lovestory auf. Die Kritik reagiert empört - zu Recht, meint Tanya Lieske.

Von Tanya Lieske | 14.01.2019
    Der Schriftsteller Takis Würger und sein Roman "Stella"
    Geschmacklos oder nicht? Die Debatte um Würgers Roman "Stella" reißt nicht ab (Buchcover Hanser Verlag / Autorenfoto (c) Sven Döring)
    Erst waren es die literarischen Reportagen von Claas Relotius, dann folgte die Nachricht von einem geschichtsverfälschenden Zitat des Buchpreisträgers Robert Menasse. Nun, in der letzten Woche, krönt ein Roman des SPIEGEL-Journalisten Takis Würger die bundesdeutsche Debatte um Fakt und Fiktion, jedenfalls vorläufig. Es geht in der Summe darum, was Literatur einerseits und Journalismus andererseits kann, was das jeweilige Genre darf - und wo erzählerische Freiheiten enden. In den Reportagen des jungen SPIEGEL-Journalisten Relotius wird deutlich, dass die Indienstnahme literarischer Techniken wie die einer allwissenden Erzählinstanz das Genre der Reportage im Kern beschädigen.
    Im Grenzgebiet zwischen Journalismus und Literatur
    Takis Würger geht den umgekehrten Weg. Er bringt journalistische Verfahren ein in die Belletristik, er schreibt, was Journalisten eine gut lesbare Geschichte nennen, erzählt szenisch und fast ohne Adjektive, mit gut konturierten Figuren, wie man es in den Journalistenschulen lernt. Und er scheitert damit zwangsläufig an den Genre-Erwartungen eines Romans. Jedenfalls war sich die Literaturkritik in den vergangenen Tagen selten so einig:

    Takis Würger hat sich vertan mit der Annahme, er könne eine historische Person wie die jüdische Nazi-Kollaborateurin Stella Goldschlag, die ab 1943 Hunderte, wenn nicht Tausende untergetauchter Juden an die Gestapo verriet, mit erprobten journalistischen Verfahren fiktionalisieren, und ihr dann, wie schon Bernhard Schlink in seinem Roman "Der Vorleser", einen sehr jungen und sehr verliebten Erzähler an die Seite stellen.
    Flott geschriebener Roman über Nazi-Gräuel und Holocaust
    Aber Achtung! Das bedeutet keineswegs, dass eine Figur wie Stella Goldschlag sich einer Fiktionalisierung grundsätzlich entziehen würde. Ihre Biografie, sie wurde von der Gestapo gefoltert, wurde zur Täterin, um ihre Familie zu schützen, und starb im Alter von 72 Jahren 1994 als überzeugte Antisemitin durch Freitod, birgt tatsächlich ein Geflecht von Schuld und Sühne, mit dem man sich im zentralen Einsatzgebiet der Weltliteratur befindet. Doch Weltliteratur schafft, was Würger in seinem Roman eben nicht gelingt: Ambivalenzen aufzuzeigen statt allzu gefällige Eindeutigkeit. Literatur lässt ihre Leser erschüttert und mit Fragen zurück, statt gut unterhalten und scheinbar aufgeklärt.
    Die Zeitzeugen sterben weg
    Interessant ist auch der Zeitpunkt dieser Diskussion. Auf circa achtzig Jahre bemisst Aleida Assmann, die Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels 2018, jenen Teil des kollektiven Gedächtnisses, der an die mündliche Überlieferung gebunden ist. Genau achtzig Jahre wird im September 2019 der Beginn des Zweiten Weltkriegs her sein. Die damit verbundene Erzählkultur der Zeitzeugen, ihrer Kinder und Enkel wird eine natürliche Zäsur erleben. Und mit ihr alles, was diese mit der Literatur vereint, nämlich ihre Kraft zur Erschütterung, ihre Toleranz für Ambivalenzen und Widersprüche.

    All das wirkt höchstens noch in der Generation derer, die in den 1970er-Jahren geboren wurden. Doch was kommt danach? Was wird geschehen, wenn sich eine staatlich verankerte Erinnerungskultur, wie sie für die Identität der Bundesrepublik entscheidend ist, loslöst von der familären Erinnerung der Bürger? Und welche Rolle wird dabei künftig der Literatur zufallen?
    Die Nazi-Zeit als profaner Gruselstoff?
    Die naheliegendste, und leider ernüchternste Antwort ist die, dass die Erzählungen von der Nazi-Diktatur eine kulturelle und künstlerische Profanisierung unterlaufen werden. Und auch das ist wahr: Viele Romane mit einem banalisierten Holocaust-Geschehen werden vielen Verlagen schwarze Zahlen bescheren.
    Ein Seitenblick auf das, was im Ausland schon seit Jahrzehnten fleißig produziert wird, erhärtet diese Prognose. Das Thema boomt. In diesem Frühjahr wird zum Beispiel ein Roman angepriesen, der von einer jungen Frau handelt, die Hitlers Vorkosterin war. Ein anderer erzählt von einer jüdischen Puppenspielerin aus Warschau, die in Shanghai in Herrenclubs auftreten muss. Ein dritter erzählt von einem 14-jährigen Mädchen, das auf acht kostbare Bücher aufpassen wird – in Auschwitz, versteht sich. Gemeinsam ist ihnen allen ein gefälliger Schauder und eine gehörige Portion Sentiment – Holo-Kitsch eben.
    Im Ausland schon voll im Trend: Holocaust-Kitsch
    Noch wird, Ausnahmen bestätigen die Regel, wenig davon ins Deutsche übersetzt. Noch scheint die bundesdeutsche Öffentlichkeit nicht bereit für den Holocaust light. Was mit Blick auf Takis Würgers Roman sicher auch der hiesiegen Literaturkritik zu verdanken ist. Sie hat in den letzten Tagen ihre kulturelle Schwellenhüterfunktion mit beeindruckender Deutlichkeit wahrgenommen. Es ist zu hoffen, dass das noch lange so bleiben möge. Denn wo mündliche Tradition endet, gehört es zu den wichtigsten Aufgaben der Literatur, unsere Erinnerung wachzuhalten – mit allem, was sie an guter Erzählkunst aufzubieten hat.