Freitag, 19. April 2024

Archiv

Tamsyn Muir: "Ich bin Gideon"
Die Magie ist schwarz

In einem mitreißenden Genre-Mix erzählt die neuseeländische Autorin Tamsyn Muir von einer Nekromantin und deren Leibwächterin. Geisterbeschwörungen, klappernde Knochen, Raumschiffe und Zickenkrieg; selten war phantastische Literatur so jung, grell und großartig.

Von Hartmut Kasper | 30.10.2020
Die Schriftstellerin Tamsyn Muir und ihr Roman „Ich bin Gideon“
Die Schriftstellerin Tamsyn Muir und ihr Roman „Ich bin Gideon“ (Cover Heyne Verlag, Autorenportrait © Vicki Bailey/VHB Photography)
Etwas geht vor im Reich des Imperators, des Göttlichen Nekromanten, Königs der Neun Erneuerungen, unseres Wiedererweckers und Obersten Nekrolords, der seit Jahrtausenden gemeinsam mit seinen Lyctoren und Lyctorinnen vom Haus Canaan aus sein Sternenreich regiert. Etwas geht vor. Aber was? In den letzten Äonen ist nicht viel passiert. Die Kohorten des Imperators haben Planet um Planet erobert, und die Säulen des Reichs, seine Ministerien, die Neun Häuser nämlich, hielten den Betrieb aufrecht.
Das erste Haus trägt den klangvollen Namen "Göttlicher Nekromant". Im zweiten Haus, dem Haus des Roten Schildes, regieren Judith Deuteros und Marta Dyas, im dritten Coronabeth und Ianthe Tridentarius, im fünften eine Pent, im sechsten ein Sextus, im siebenten eine Dulcinea Septimus und so weiter. Wir sehen: man nehme einen erlesenen Namen und kombiniere ihn mit griechisch-römischen Ziffern, fertig ist der Zauberer.
Schwarze Magier im Weltall
Denn es handelt sich tatsächlich um Zauberer, die hier residieren, um ziemlich schwarze Magier allerdings, die in diesem grellen, grotesken und vor Fantasie übersprudelnden Schmöker das Sagen haben: um Nekromanten nämlich, um Toten- und Geisterbeschwörer.
Diesbezügliche Begabung und eine entsprechende Erziehung vorausgesetzt, sind die Damen und Herren Nekromanten in der Lage, mit Verstorbenen zu plaudern, Thanergie, also Todeskraftstoff aus den Leichen zu gewinnen oder aus Knochen diensteifrige Skelette herzustellen, die in den Häuser kochen und waschen, wienern und bügeln, dass es eine Freude ist. Gutes Personal ist ja so schlecht zu bekommen.
Bei der Landung hirntot
Die jugendliche Heldin des Romans heißt Gideon Nav, sie wohnt als Leibeigene im Neunten Haus, das da heißt: "Wächter der Verschlossenen Gruft, Haus der Genähten Zunge, die Schwarzen Vestalinnen". Die Oberhäuptin ist Harrowhark Nonagesimus, Erbin des Neunten Hauses, ehrwürdige Tochter von Drearburh:
"Vor achtzehn Jahren war Gideons Mutter in den Schacht des Neunten hineingefallen, ausgerüstet mit einem abgewetzten Raumanzug und einem Bremsfallschirm, der immerhin dafür gesorgt hatte, dass sie langsam wie eine Motte durchs Dunkel schwebte. Allerdings hatte die Energieversorgung des Anzugs für einige Minuten ausgesetzt, und daher war sie bei ihrer Landung bereits hirntot. Die gesamte Batterieleistung war von einem Bio-Container verbraucht worden, der in den Anzug eingearbeitet war, ein Ding, wie man es sonst zum Körperteiltransport von Transplantationsmaterial benutzte. In diesem Container hatte Gideon gelegen, damals erst einen Tag alt."
Das Findelkind und die Herrin des Hauses
Nun kennt man sich im Neunten Haus mit Mystikern, Pilgern und Bußwilligen aus; eine im engeren Sinn pädagogische Ader haben die Nonnen der Verschlossenen Gruft nicht. Allein, man nimmt das vom Himmel gefallene Mädchen an und erklärt es zur Leibeigenen und zum beweglichen Besitz.
Zu sagen, dass das Findelkind Gideon ihre hochherrschaftliche Herrin aus tiefstem Herzen verabscheut, wäre eine schamlose Untertreibung. Gideon würde lieber heute als morgen ihre Sammlung von Pornoheftchen packen und von diesem düsteren Planeten fliehen; etliche Versuche in dieser Richtung sind gescheitert.
Jetzt aber braucht ihre Herrin, die Nekromantin, ihre Hilfe: Denn es steht nicht gut mit dem Imperium; die alten imperialen Führungskräfte, die Lyctoren, sind tot, und es braucht Nachfolger. Um die Nachfolgerschaft soll sich auch Harrowhark bewerben. Wie alle Nekromantinnen und Nekromanten, braucht sie dazu aber einen Kavalier, will sagen: einen Bodyguard, der zwar nicht zaubern kann, sich aber mit Hieb- und Stichwaffen auskennt.
Hieb- und Stichwaffen
Die beste Fechterin weit und breit ist Gideon Nav. Die von dieser Berufung zur Kavalierin nicht eben begeistert ist. Dennoch: Die beiden jungen Damen lassen sich von einem imperialen Raumschiff zur Welt des Imperators bringen. Wo es allerdings nicht mit rechten Dingen zugeht. Es spukt dort, und die Reihen der Kandidatinnen und Kandidaten lichten sich bedenklich. Stück für Stück kommen Gideon und ihre Herrin nolens, volens einander näher.
Es weht ein Hauch von Jugendbuch durch diese knochenklappernden Seiten, von Mädchenbande und Zickenkrieg. Der Roman lebt von überraschenden Kontrasten: Die düsteren Nekromanten erweisen sich als Menschen wie Du und ich, vielleicht dauert bei ihnen die Pubertät ein paar Jahrhunderte länger und ihre Zimmer sind noch ein wenig unaufgeräumter und spinnwebichter als bei den Backfischen und Halbstarken unserer Breiten und Tage.
Die Welt, in der sich Gideon bewegt, ist zugleich tief vertraut und absolut fantastisch, und beide Elemente finden sich in einem spektakulären Nebeneinander: Man bedient sich der Totenenergie ebenso wie der Elektrizität; man saugt Seelen aus und blättert in Ringbüchern; man lässt Skelette den Haushalt führen; man liebt und hasst und träumt von einer Karriere in der Raumflotte eines von den Toten auferstandenen Imperators.
Knochenzauber mit Gefühl
Tamsyn Muir hat spürbar ihren Spaß an der Vermischung von Genres und Motiven, und Lust auf überraschende, oft geradezu verblüffende Wendungen und lustvolle Irreführung der Leserschaft: Schon der Name der Titelheldin dieses ersten Teils einer geplanten Trilogie ist geradezu Programm: Trägt das junge Mädchen doch den Namen eines alten Herrn, des alttestamentarischen Richters Gideon nämlich, dessen Name so viel wie "Hacker, Holzfäller, Zerstörer" bedeutet - was auf seine verdreht Art wieder passt. Alt und neu, Mann und Frau - alles verdreht und verwebt sich.
Der Tonfall des Textes ist zugleich schnodderig, rotzig und gewitzt. Das klingt nicht nur frisch und oft apart, sondern verleiht der Geschichte um Nekromanten, Geister- und Gerippebeschwörung einen Klang von Authentizität. Wenn die Figuren über Knochenzauber, Beschwörungsformeln, Thanergie und das Syphonisieren, will sagen: das Aussaugen und Verwerten von Seelenkräften fachsimpeln, dann klingt das so selbstverständlich und tagesroutiniert wie die Klagen von Teenagern über Probleme mit dem Teint oder über verräterische Freundinnen.
Sprachlich überschäumend
Muirs große Erzählung ist denn auch die hoch emotionale Geschichte einer hoch komplizierten Freundschaft zweier junger Frauen; sie ist eigenwillige Science Fiction und sie ist ein Horrorroman, von dem die Autorin allen genretypischen Staub geblasen hat, und ein mörderischer Krimi in bester Agatha-Christie-Tradition ist es außerdem.
"Ich bin Gideon" ist sprachlich überschäumend, grell und laut wie eine romangewordene Fahrt mit der Geisterbahn. Zugegeben, es gibt Passagen, in denen es noch ein wenig ruckt und rumpelt. Aber Tamsyn Muir ist jung, erst 1985 in Neuseeland geboren und "Ich bin Gideon" ist ihr Romandebüt. Dieses Debüt ist ihr großartig gelungen.
Tamsyn Muir: "Ich bin Gideon"
Aus dem Englischen von Kirsten Borchardt
Wilhelm Heyne, München
605 Seiten, 14,99 Euro.