Donnerstag, 18. April 2024

Archiv

Tanzkunst aus Brasilien
Getanzte Wut

Unter dem Motto "Die Entstehung eines neuen Widerstandes" veranstaltet das HAU in Berlin ein Minifestival mit Tanzkunst aus Brasilien. Die Stücke der Choreografen Lia Rodrigues und Marcelo Evelin sind auch von den jüngsten gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen unter Präsident Bolsonaro beeinflusst.

Von Elisabeth Nehring | 08.05.2019
Tänzer des Projeto Brasil auf einem verschwommenen Foto.
Tänzer des Projeto Brasil (dpa / picture alliance / Sebastian Kahnert)
Ein Triumphzug sieht anders aus. Die Tänzerinnen und Tänzer, die sich auf der Bühne zusammengefunden haben, erinnern eher an eine Gruppe verlorener Gestalten – Begriffe wie "Horde" und "zusammenrotten" fallen einem ein, wenn man sieht, wie sie sich aus den Bergen von altem Plastik und Stofffetzen herauswühlen. Erst erschöpft und gebeugt, dann aber mit erhobenen Gesichtern und Fäusten, als zögen sie in einen Kampf, den sie tatsächlich noch zu gewinnen glauben.
"Furia" – Wut – nennt die brasilianische Choreografin Lia Rodrigues ihre jüngste Produktion. Wütend ist sie seit langem – nicht erst, seit Jair Bolsonaro, der neue Präsident ihres Landes, von der Militärpolizei immer mehr Gewalttätigkeit fordert, die Waffengesetze gelockert und bereits am zweiten Tag seiner Amtsinhaberschaft das Kulturministerium abgeschafft hat. Lia Rodrigues arbeitet mit ihrer Companie seit langem und ganz bewusst in einer Favela in Rio de Janeiro, an einem Ort, an dem das Leben noch nie bequem oder sicher war. Doch jetzt scheinen die sozialen, gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in Brasilien so aus dem Ruder zu laufen, dass man in dem Szenario, das in "Furia" produziert wird, unwillkürlich ein Abbild der aktuellen Situation zu erkennen glaubt.
Szenen ultimativer Unterdrückung
In die mitunter orgiastische Raserei der Gruppe halb oder ganz nackter oder auch mit Gold und Blau bemalter Gestalten mischen sich zwanghafte Gewalttätigkeit und Selbstzerstörung. Immer wieder ergreifen einige Tänzer von anderen Besitz, lassen sich in Siegerposen von Knieenden auf dem Rücken tragen – Szenen ultimativer Unterdrückung, die an "Die 120 Tage von Sodom" erinnern – nur ohne die stille Trostlosigkeit, die Pasolini in seinem Film den gezeigten Grausamkeiten auferlegte.
Doch trotz aller kraftvollen Verstörung, die "Furia" generiert, tappt Lia Rodrigues mit ihrer Companie doch immer wieder in die Bildproduktions- und Schönheitsfalle. Die Körper, so elend sie dargestellt werden sollen, bleiben die makellosen Körper von Tänzern, die Assoziationen entstehen aus den raffiniert choreografierten, aber eben doch sehr deutlich ausgemalten Bild- und Szenenfolgen.
Widerständigkeit der Körper gegen soziale und ästhetische Normen
Anders – und darin weitaus radikaler – macht es Marcelo Evelin in "Die Erfindung der Boshaftigkeit". Seine sieben Tänzerinnen und Tänzer bleiben in ihrer Körperlichkeit unbestimmt und schwer zu deuten. Das Publikum teilt mit ihnen einen Raum, sitzt am Boden, während sie abwartend herumstehen: nervös schwankend, mit leicht durchgedrückten Rücken und vorgestreckten Bäuchen. Die geschichteten Hölzer auf der Bühne müssten nur angezündet werden, um zu Scheiterhaufen zu werden. Aber auch ohne Feuer geht nach einiger Zeit ein wildes Ritual los: Schütteln und Taumeln, nur auf Zehenspitzen auf der Stelle treten oder mit dem ganzen Fuß aufstampfen, Haare und Arme in die Luft werfen, den Körper aufspreizen oder zusammenkrampfen. Ob das Hexentänze, magische Stammesriten oder Austreibungen von Dämonen sind – wir wissen es nicht. Und auch nicht, warum die Gruppe irgendwann zusammenkommt und mit all’ dem Verknäulen, Verknoten, Aneinanderschmiegen und Einandererzitternlassen eine größere Wirrnis produziert als jeder für sich alleine.
Was sich aber in dieser suggestiven Uneindeutigkeit herausbildet, ist eine enorme Widerständigkeit: eine Widerständigkeit der Körper gegen soziale und ästhetische Normen, gegen das Einfügen, Einordnen und Einteilen von Menschen in Kategorien wie stark/schwach, schön/hässlich usw. Darin geht "Die Erfindung der Boshaftigkeit" weit über die aktuelle Situation in Brasilien hinaus – und ist doch der überzeugendste Ausdruck für die These der "Entstehung eines neuen Widerstandes", die die Veranstalter des HAU diesem Themenschwerpunkt Brasilien zugrunde gelegt haben.