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Tarifstreit bei der Bahn
"Solche Konflikte können Wunden hinterlassen"

Der Direktor des Instituts Arbeit und Qualifikation, Gerhard Bosch, hat im Tarifstreit bei der Deutschen Bahn vor negativen Folgen für das Betriebsklima gewarnt. Die Tarifauseinandersetzung sei für die Bahn und das kollegiale Verhältnis "auf Dauer sicherlich sehr schädlich", sagte Bosch im DLF.

Gerhard Bosch im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 08.11.2014
    Gerhard Bosch, Direktor des Instituts für Arbeit und Qualifikation
    Gerhard Bosch, Direktor des Instituts für Arbeit und Qualifikation (dpa / picture-alliance / Martin Gerten)
    Ohne Streik sei Tarifpolitik "kollektives Betteln", sagte Gerhard Bosch, Direktor des Instituts für Arbeit und Qualifikation, im Interview mit dem Deutschlandfunk. Das Streikrecht sei ein wichtiges Element, um Waffengleichheit zwischen Unternehmen und Gewerkschaften herzustellen. Er kritisierte allerdings, dass die Lokführergewerkschaft GDL nicht nur für eine Lohnerhöhung streike, sondern in die Sphäre einer anderen Gewerkschaft eindringen wolle.
    Die GDL will neben den Lokführern vor allem auch das übrige Zugpersonal in Verhandlungen vertreten, für das bislang die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG zuständig ist. Beide Gewerkschaften sind deshalb zerstritten.

    Das Interview in voller Länge:
    Jürgen Zurheide: Der Bahnstreik wird heute Abend um 18 Uhr beendet. Für viele Reisende wird das eine gute Nachricht sein. Was das für die Tarifauseinandersetzung heißt, das kann man jetzt noch nicht hundertprozentig beurteilen. Es soll wieder miteinander geredet werden, das ist mindestens die gute Nachricht. Ob was herauskommt, wird man dann sehen, denn immerhin war ja gestern die Bahn noch einmal vor Gericht gescheitert. Also per Gericht konnte man diesen Streik nicht beenden.
    Und wir wollen über dieses Thema reden – was kann, was muss passieren bei Tarifverträgen, welche Auswirkungen hat das? Darüber wollen wir reden mit Gerhard Bosch, dem Direktor des Instituts Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen, den ich jetzt erst mal herzlich begrüße. Guten Morgen, Herr Bosch!
    Gerhard Bosch: Guten Morgen, Herr Zurheide!
    Zurheide: Herr Bosch, beginnen wir mal bei der Ursache für das, worüber wir jetzt reden. Da sagen viele, das hat mit dem Bundesarbeitsgericht zu tun, das 2010 entschieden hat, dass Tarifpluralität zugelassen ist, das heißt, für eine Gruppe in einem Betrieb können unterschiedliche Tarifverträge gelten. Also eigentlich, wenn alle im Moment auf Herrn Weselsky schimpfen – die, die schimpfen, sollten dann eher auf das Bundesarbeitsgericht schimpfen. Richtig beobachtet oder falsch?
    Bosch: Nicht ganz, weil die Wirklichkeit hat sich ja verändert. Das Bundesarbeitsgericht hat dieses Urteil ja nicht aus der Luft gegriffen, sondern es hat 2007 den ersten Streik der GDL gegeben. Sie haben vor einem Arbeitsgericht Chemnitz verloren. Der Streik wurde für unverhältnismäßig erklärt, und dann hat das Bundesarbeitsgericht dieses Urteil kassiert und hat gesagt, das Streikrecht geht vor, vor der Tarifeinheit, und hat dann ein paar Jahre später die Tarifeinheit gekippt.
    Also, was passiert ist, ist, es gab erst den Konflikt, außerdem konnten wir beobachten die Gründung kleiner Gewerkschaften. Schließlich haben die Unternehmer ja selber die Tarifeinheit aufs Spiel gesetzt, indem sie plötzlich Tarifverträge mit sogenannten christlichen Gewerkschaften abgeschlossen haben oder Leiharbeiter ins Haus geholt haben, die auch nicht gleich bezahlt wurden.
    Also das Prinzip der Tarifeinheit – ich bedaure das persönlich sehr – wackelt in der betrieblichen Realität schon lange.
    Frühere Tarifeinheit hat der Gesellschaft gut getan
    Zurheide: Also wenn jetzt die Bahn sich zum Beispiel beschwert über das Problem, das da im Moment offenkundig ist, dann müsste die Bahn eigentlich sagen, na ja, da haben wir selbst zu beigetragen – richtig?
    Bosch: Ja, bei einer richtigen Geschichtsbewältigung muss man das tun. Wir hatten ein gutes Modell in Deutschland, nämlich die Tarifgemeinschaft. Wir hatten ja unterschiedliche Gewerkschaften. Die GDL ist ja die älteste deutsche Gewerkschaft. Wir haben den Marburger Bund. Die haben sich im Öffentlichen Dienst an Tarifgemeinschaften beteiligt. Da musste man sich untereinander einigen, weil am Ende die Tarifeinheit ja stehen musste. Und irgendwo ist das hingekommen, und es hat der Gesellschaft, den Beschäftigten gut getan.
    Man hat Konflikte aus dem Betrieb herausgehalten. Das Problem ist ja, es gibt in der Tat im Betrieb immer Konflikte, wenn zwei Leute nebeneinander arbeiten und für die gleiche Arbeit unterschiedliches Geld bekommen. Das geht auf Dauer nicht gut.
    "Die, die nicht streiken können, leider darunter"
    Zurheide: Lassen Sie uns noch mal die Vor- und Nachteile – wir haben es jetzt schon angesprochen – von Tarifeinheit oder Tarifpluralität abmessen. Also, Tarifpluralität – wem hilft das eigentlich?
    Bosch: Das kann helfen gut organisierten kleinen Gruppen, also Cockpit, die Piloten, die Lokführer, die sitzen an strategischen Stellen, und die können dann, weil sie mit ihrem Streikeinsatz eben große Einheiten oder die gesamte Wirtschaft stilllegen können, können sie für sich sehr viel herausholen.
    Wir haben ja noch kleinere Gruppen, die Flugzeugvorfeldkontrolle, das sind 40, 50 Leute, die können einen ganzen Flughafen lahmlegen. Und das ist der Vorteil für die Gruppen. Und es kann auch ein Vorteil für Unternehmer sein, wenn sie eine Gewerkschaft, die etabliert ist, die stärker ist, herausdrängen kann, wie das bei den christlichen Gewerkschaften der Fall war.
    Die Unternehmer haben plötzlich in einzelnen Bereichen – ich denke an das Elektrohandwerk – plötzlich nicht mehr mit der IG Metall, sondern mit einer christlichen Gewerkschaft einen Tarifvertrag abgeschlossen. Das handelte sich um einen Tarifvertrag zu schlechteren Bedingungen, also hier hat man Lohndumping von Arbeitgeberseite betrieben, indem man sich die Gewerkschaft ausgesucht hat. Das ist sicherlich für die Beschäftigten, die mehrheitlich Beschäftigten von Nachteil.
    Also, ich würde sagen, diejenigen, die nicht streiken können, leiden auf jeden Fall darunter.
    Streik schadet dem kollegialen Verhältnis
    Zurheide: Aber immerhin führt das dann zu einer Spaltung der Belegschaften. Und das, sagen Sie, das haben Sie vorhin schon mal angesprochen, führt natürlich genau zu dem Phänomen, was wir im Moment bei der Bahn auch beobachten, dass die Belegschaften in sich nicht mehr freundlich und freundschaftlich miteinander umgehen, sondern das Gegenteil der Fall ist.
    Bosch: Ja, das können wir von außen noch gar nicht richtig ermessen, weil die Konflikte sich ja jetzt aufstauen. Die Leute grüßen sich zum Teil nicht mehr. Und solche Konflikte können Wunden hinterlassen, das ist für die Bahn und für das kollegiale Verhältnis auf Dauer sicherlich sehr, sehr, sehr schädlich.
    Zurheide: Gibt es eigentlich – ich will noch mal den Blick über die Grenzen hinweg richten – wenn ich nach Frankreich schaue zum Beispiel, dort haben wir ja nicht das System wie in Deutschland, wo Einheitsgewerkschaften eine Rolle spielen, sondern wir haben parteipolitisch motivierte Gewerkschaften, und die Streikzahlen zum Beispiel in Frankreich sind viel höher.
    Man müsste jetzt die Frage stellen: Bringt das eigentlich mehr für Arbeitnehmer, diese Art, eher auf Konflikt zu setzen? Welche Beobachtungen machen Sie da?
    Bosch: Also, erst mal: Ohne Streik ist natürlich Tarifpolitik kollektives Betteln. Das Streikrecht gehört dazu, ist ein wichtiges Element, um die Waffengleichheit zwischen Unternehmen und Gewerkschaften herzustellen.
    Streik ist ein fundamentales Grundrecht unseer Gesellschaft
    Zurheide: Übrigens, wenn ich da die Klammer aufmachen darf, insofern ist es eigentlich gut, dass das Arbeitsgericht in Frankfurt gestern das Streikrecht sehr hoch eingeschätzt hat. Ich glaube, das muss man in diesen Tagen mal wiederholen, oder?
    Bosch: Das sehe ich ganz genauso, zumal in vielen Ländern – ich war gestern bei der Internationalen Arbeitsorganisation in Genf, da wird gerade von den Arbeitgebern weltweit das Streikrecht infrage gestellt.
    Es handelt sich hier um ein fundamentales Grundrecht unserer Gesellschaft. Die Situation in den anderen Ländern ist sehr, sehr unterschiedlich. In Frankreich haben wir fünf anerkannte Gewerkschaften, die sich häufig nicht grün sind. Wir haben im Übrigen sehr schwache gewerkschaftliche Mitgliedschaft. Die Ursachen der Streiks liegen einerseits in den Konflikten der Gewerkschaften untereinander, das haben Sie angesprochen. Aber es gibt noch einen zweiten Grund. In Frankreich verhandeln die Unternehmen oft nicht mit den Gewerkschaften, und die Gewerkschaften versuchen erst mal Macht zu demonstrieren. Das heißt, man geht nicht an den Verhandlungstisch, sondern als Erstes ruft die Gewerkschaft die eigenen Leute auf die Straße, um zu sehen, wie stark sie sind, um dann die entsprechenden Forderungen zu erheben.
    Das ist ein völlig anderer Mechanismus als bei uns. Bei uns werden zuerst die Forderungen genau formuliert, und dann, wenn man nicht weiterkommt, wird gestreikt.
    Konflikt kann nicht juristisch gelöst werden
    Zurheide: Jetzt ziehen wir einen Strich darunter. Brauchen wir im Moment neue, brauchen wir andere Regeln, oder werden wir mit dieser Tarifpluralität und damit auch vielleicht mit Auseinandersetzungen von Randgruppen, von kleinen Gruppen, leben müssen?
    Bosch: Wenn wir den Gesetzesentwurf des Arbeitsministeriums genau anschauen, dann sehen wir, dass die Juristen alle der Ansicht sind, dass man die Verfahrensregeln, die man finden kann, nämlich Mehrheitsprinzip – also ein Tarifvertrag gilt für die Gewerkschaft – oder der Tarifvertrag gilt, der von der Mehrheitsgewerkschaft im Betrieb abgeschlossen wird –, dann sehen wir, dass keine richtigen rechtssicheren Verfahren gefunden werden können, weil sie immer das Streikrecht einer Gewerkschaft einschränken.
    Insofern glaube ich persönlich nicht, dass wir das Problem juristisch lösen können, sondern es muss politisch gelöst werden. Und da kann man nur hoffen auch auf die Einsicht in diesem Fall auch der Lokführergewerkschaft. Sie streikt ja nicht mehr alleine um fünf Prozent Lohnerhöhung und Arbeitszeitverkürzungen, was ja völlig legitim ist, sondern sie will in die Sphäre einer anderen Gewerkschaft eindringen. Das halte ich für politisch sehr problematisch.
    Früherer Schmusekurs der EVG ist Mitursache für den jetzigen Konflikt
    Zurheide: Das heißt, eigentlich müssten die beiden sich miteinander verständigen. Und damit steht ja auch übrigens immer der Vorwurf im Raum, dass die EVG, also die Mehrheitsgewerkschaft in weiten Teilen, bis auf die Lokführer, dass die immer so handzahm ist. Das ist ja auch ein Vorwurf, der möglicherweise gar nicht berechtigt geäußert werden kann, oder?
    Bosch: Im Moment nicht mehr, aber in der Vergangenheit wohl. Die EVG und die Vorgänger, die Eisenbahnergewerkschaft und Transnet unter ihrem Vorsitzenden Hansen sind einen Schmusekurs gefahren, haben ihre Leute nicht richtig vertreten, haben die Privatisierung mitgetragen, haben sich nicht gewehrt gegen den Einsatz von schlechter bezahlter Leiharbeit. Also da liegt auch eine Ursache dieses Konflikts. Und dass sich plötzlich in Deutschland kleine Gewerkschaften herausgebildet haben, liegt natürlich daran, dass in den letzten zehn, fünfzehn Jahren die Realeinkommen der meisten Beschäftigten in Deutschland zurückgegangen sind. Und die Gewerkschaften waren, nicht zuletzt durch die Hartz-Gesetze, ganz deutlich geschwächt, und sie müssen in dieser Konkurrenz natürlich auch eigene Kraft zeigen, um bei den Beschäftigten akzeptiert zu werden.
    Zurheide: Die Tarifauseinandersetzungen werden weitergehen. Wir haben darüber gesprochen, dass es möglicherweise auch Vorteile geben kann, wenn es unterschiedliche Gewerkschaften gibt. Mit den Nachteilen wird man dann umgehen müssen. Das war Gerhard Bosch – ich bedanke mich bei Ihnen für das Gespräch. Danke schön, Herr Bosch!
    Bosch: Auf Wiedersehen, Herr Zurheide!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.