Remme: Also, ein Ballast in Ihren Augen?
Stüber: Das ist eher ein Ballast, vor allem, wenn man sich die Größenordnung des gestrigen Abschlusses bei Metall anguckt.
Remme: Müssen Sie sich denn, wenn Sie diese Position vertreten, nicht den Vorwurf gefallen lassen, den öffentlichen Dienst mit Ihrem Angebot eines Inflationsausgleichs von der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung abzukoppeln?
Stüber: Nein, wir müssen an sich die Beschäftigten im öffentlichen Dienst angucken und was die denn in den letzten Jahren an Entwicklung hatten. Und ich denke, da ist der öffentliche Dienst nicht abgekoppelt worden. Und Sie müssen zweitens sehen, dass der öffentliche Dienst bisher immer noch sichere Arbeitsplätze bietet. Wir hatten zwar Stellen abgebaut, aber betriebsbedingte Kündigungen und Entlassungen es im öffentlichen Dienst bisher nicht gegeben. Die Kommunen haben in den letzten Jahren einen Sparkurs gefahren, so dass auch weitere Ausgabenreduzierungen nicht denkbar sind. Das heißt, wenn es jetzt zu überzogenen Forderungen und dann Abschlüssen kommt, ist das nicht nur eine Gefährdung, sondern eine echte Vernichtung von Arbeitsplätzen.
Remme: Welche Auswirkungen - da Sie gerade von diesen Kürzungen sprechen - welche Auswirkungen hätte denn eine Kopie eines Abschlusses, so wie wir ihn jetzt in Nordrhein-Westfalen bei den Metallern gesehen haben?
Stüber: Sie müssen davon ausgehen, dass ein Prozentpunkt Lohnerhöhung - also Tarifsteigerung - im öffentlichen Dienst, jetzt nur auf der kommunalen Seite, rd. 1,2 Milliarden Mark bis 1,4 Milliarden Mark ausmacht. Und das entspricht etwa 160.000 Arbeitsplätze.
Remme: Würde ein Abschluss in der Höhe der gestrigen Vereinbarung zu betriebsbedingten Kündigungen im öffentlichen Dienst führen?
Stüber: Also da bin ich eigentlich ganz sicher. Der Abschluss, so wie ihn Metall getätigt hat, würde bei uns etliche Arbeitsplätze vernichten. Wir hatten gesagt, wir könnten uns eine Tariferhöhung im Bereich von Inflationsrate - Inflationsausgleich - vorstellen. Mehr ist in diesem Jahr einfach nicht drin, denn wir leiden, das darf man nicht vergessen, immer noch unter dem überzogenen Abschluss des letzten Jahres, der mit 3,1 Prozent uns rd. 4,3 Milliarden Mark gekostet hat.
Remme: Aber haben die Gewerkschaften nicht recht, wenn sie dann - vor allen Dingen in diesem Vorlauf der Forderung oder des Angebotes einer Inflationsrate, eines Inflationsausgleichs - von einem ‚Tarifdiktat' sprechen?
Stüber: Ja, aber dieses Diktat kommt ja nicht von uns und nicht von den Arbeitgebern im öffentlichen Dienst, sondern dieses Diktat kommt aus den öffentlichen Kassen, aus den öffentlichen Haushalten. Die Alternative heißt, dass wir das, was wir im öffentlichen Bereich leisten, anderen übertragen - und dies in der Tat im Abschluss mit der gleichen Gewerkschaft billiger können. Wenn ich Ihnen sage, dass im Bereich des Krankenhauses eine ganze Reihe von kommunalen Krankenhäusern - in den neuen Ländern beispielsweise - inzwischen geschlossen worden sind, weil sie einfach nicht mehr bezahlbar waren, aber gleichzeitig neue private Krankenhäuser aufgemacht haben, dann zeigt dieses das Ungleichgewicht: Flucht aus dem öffentlichen Dienst zielt in den kostengünstigeren privaten Bereich. Wenn das das Ziel ist, dann kann ich dem allerdings nicht ganz folgen.
Remme: Wie geschlossen ist denn vor diesen Gesprächen heute die Interessen-Lage von Bund, Ländern und Kommunen?
Stüber: Bund, Länder und Kommunen haben eine Tarifgemeinschaft; wir sind uns einig. Wir sind uns einig, dass es in der linearen Erhöhung keine überzogenen Erwartungen geben darf. Und wir sind uns auch einig, dass insbesondere - das wird ein wichtiges Thema in dieser Runde sein, weil es im Vorfeld nicht gelöst werken konnte - die sogenannte Versorgungskasse von Bund und Ländern sein. Dort drohen uns zweistellige Beitragserhöhungen, die wir nicht mehr verkraften können. Auch darüber muss in dieser Runde geredet werden, wie man jetzt durch Leistungs-Reduzierung diese Kassen weiterhin existenzfähig hält.
Remme: Ist das das Stichwort ‚Zusatzrenten'?
Stüber: Das ist das Stichwort ‚Zusatzrenten'.
Remme: Sind Ihnen denn die Pläne bekannt, von denen gestern in der Presse die Rede war, dass Bundesinnenminister Schily diese Zusatzrenten ‚kappen' will?
Stüber: Ich weiß nicht, ob es ums ‚kappen' geht. Uns betrifft es ja alle, Bund Länder und Gemeinden, denn auch Kommunen haben ja Anteil - einige von ihnen zumindest - an diesen Versorgungsrenten, sind auch Mitglied der VBL. Wir verhandeln dort gemeinsam. Wir hatten ja gehofft, dass wir vor der Tarifrunde dort noch ein Ergebnis bekommen. Wenn dies nicht der Fall ist - und das ist ja bisher nicht der Fall -, so wird es in die Tarifrunde gehen und dann wird dies eine Forderung sein.
Remme: Kommen wir auf einen anderen Schwerpunkt zu sprechen. Wie lange wird es noch dauern, bis die Löhne im Osten das Westniveau erreicht haben, Herr Stüber?
Stüber: Wenn ich diese Frage genau so schlecht beantworten kann wie sie gestellt wird, dann würde ich sagen, wenn die wirtschaftlichen Verhältnisse in beiden Bereichen gleich sind. Sie müssen sehen, dass wir heute ein Tarifniveau von 86,5 des Westens in den neuen Ländern haben - auf dem Papier. In der Realität sieht das schon wesentlich anders aus, vor allem, wenn man mal die Nettoeinkommen vergleicht - und damit ist der öffentliche Dienst in den neuen Ländern Lohnführer im Vergleich zu übrigen Wirtschaften. Das ist ein absolutes Unding, so dass ich glaube, dass es nicht machbar sein wird - da bin ich fest von überzeugt -, jetzt eine konkrete Prognose zu geben oder einen Stufenplan zu machen, der ‚Ost-West-Angleich' heißt, sondern wir werden darüber reden müssen, was denn denkbar ist. Man wird Signale senden müssen, weil wir sicher davon überzeugt sind: Eines Tages muss es gleiche Verhältnisse geben. Aber kurzfristig ist dort ein weiterer Schritt nicht finanzierbar.
Remme: Aber was heißt ‚Signale', wenn die Signale keine Perspektive eröffnen? Könnte denn - das ist ja nicht kurzfristig - ein Neun-Jahres-Plan, wie ihn Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Höppner vorgeschlagen hat, Gesprächsgrundlage sein?
Stüber: Nein. Ein Stufenplan oder Mehr-Jahres-Plan kann deswegen keine Grundlage sein, weil ich ja überhaupt nicht weiß, wie die Entwicklung in den nächsten Jahren ist. Das ist eine rein spekulative Geschichte. Ein Signal könnte sein, dass man sich über bestimmte Variablen verständigt, dass man vielleicht sagt: Wir machen die Einkommen gleich, aber bestimmte variablen Pauschalen werden abhängig dann gemacht von wirtschaftlicher Entwicklung oder anderen Paradigmen.
Remme: Das war Ernst-Otto Stüber, der Verhandlungsführer für die Kommunen. Dieses Gespräch hatten wir aufgezeichnet. Herbert Mai, der Vorsitzender der ÖTV, wird heute in Stuttgart auf der anderen Seite des Tisches Platz nehmen. Er hat am Telefon mitgehört. Guten Morgen Herr Mai.
Mai: Guten Morgen Herr Remme.
Remme: Herr Mai, bleiben wir bei diesem Aspekt ‚Angleichung'. Herr Stüber war deutlich: Keine Angleichung, ja nicht mal ein Fahrplan, eine Perspektive, einen Stufenplan - wie immer man das nennen will - soll es geben. Mit einer sofortigen Angleichung werden ja selbst Sie nicht rechnen. Aber wie wichtig ist die Perspektive, ein festes Datum?
Mai: Das ist für uns ganz wichtig. Zehn Jahre nach der Deutschen Einheit sind wir der Auffassung, dass den Menschen endlich diese Perspektive gegeben werden muss. Und ohne einen Stufenplan - das sage ich auch sehr klar - wird es mit der ÖTV keinen Abschluss geben.
Remme: Das ist also nicht etwa eine Maximalforderung - kein Ritual, wie es ja nun auch dazu gehört. Die Perspektive - das ist nicht etwas, von der Sie bereit sind, abzurücken?
Mai: Das ist richtig so. Wir sagen ja auch nicht: Das muss in einem Jahr geschehen oder in zwei Jahren geschehen. Wir wollen in einem Stufenplan diese Perspektive eröffnen. Die Stimmung der Beschäftigten in den neuen Ländern ist ganz klar: Sie sagen auch, die wirtschaftlichen Verhältnisse sind nicht so, dass wir sofort die Angleichung durchsetzen können, aber wir brauchen endlich nach 10 Jahren diese Perspektive. Die Gefahr besteht, dass es nie zu einer Angleichung kommt. Es gibt ja Stimmen bei den Arbeitgebern, die dies schon als Ziel formulieren. Und das Zweite ist - das ist das große Problem -: Wenn wir den Osten über lange Zeit als Niedriglohngebiet behalten, übt das Druck aus auf das gesamte Tarifgefüge. Und deshalb haben wir ein sehr starkes Interesse daran, dass dieser Stufenplan in dieser Tarifrunde vereinbart wird. Und die Politik unterstützt uns ja mit vielen Aussagen, weil sie Stimmung der Menschen in den neuen Ländern auch kennt.
Remme: Glaubt man Herrn Stüber, dann steht aber der öffentliche Dienst in Fragen der Angleichung vergleichsweise gut da. Sogar der Begriff ‚Lohnführer' fiel eben.
Mai: Nein, das ist absolut nicht richtig. Die Einkommen sind etwa im mittleren Bereich. Es gibt sehr viele Tarifbereiche - die Energiebranche, die Banken, die Telekommunikation, die Deutsche Post AG -, die bereits die 100 Prozent haben und sowohl tariflich wie im Effektivlohn. Es gibt im privaten Bereich eine Reihe von Firmen, die den Tariflohn im Moment noch nicht zahlen können - das ist richtig. Aber ich denke, dass kann kein Maßstab sein. Die Beschäftigten - etwa die Krankenschwester, der Busfahrer oder der Straßenbauer - verdienen weniger und leisten das selbe, arbeiten sogar 40 Stunden im Osten. Diese Ungleichheit, die viele Menschen als ungerecht auch empfinden, die muss endlich ein Ende haben.
Remme: Sehen Sie die Gefahr - das klang auch eben an -, dass Sie mit Ihren Forderungen nach Ostlöhnen auf Westniveau zusätzlich Arbeitsplätze gefährden?
Mai: Das sehe ich deshalb nicht, weil wir ja sagen: Wir wollen einen Stufenplan. Es ist ja nicht so, dass wir das in einem Jahr fordern, sondern wir wollen das ja in einer geregelten Art und Weise mit den Arbeitgebern vereinbaren. Und ich bin der festen Überzeugung, dass dies keine Arbeitsplätze vernichtet. Im übrigen: In Jahren des Stillstandes der Angleichung ist gerade im Osten dramatisch abgebaut worden, in den letzten 2 - 3 Jahren alleine über 100.000. Also man kann nicht davon sprechen, dass unsere Lohnforderung da praktisch der Auslöser ist.
Remme: Herr Mai, auch an Sie die Frage nach der Auswirkung der Chemie- und Metallabschlüsse für Ihre Verhandlungen.
Mai: Also die Abschlüsse sind sicher Orientierung. Die Bemühung der ÖTV war seit 1974 immer, Anschluss zu halten an die Einkommensentwicklung anderer Bereiche. Ich denke, das ist auch legitim - einmal den Reallohn zu sichern über Ausgleich der Inflationsrate und zum andern Anteil zu haben am Wirtschaftswachstum. Deshalb sind diese Abschlüsse einzubeziehen. Allerdings können sie nicht punktgenau übertragen werden, weil wir diese Ostangleichung als besonderes Problem haben. Chemie und Metall haben die 100 Prozent im Tarif stehen - wir noch nicht, so dass wir diese besonderen Bedingungen berücksichtigen müssen. Und wir fordern von den öffentlichen Arbeitgebern auch endlich ein Engagement in der Frage der Ausbildungsplätze.
Remme: Herr Mai, bleiben wir noch bei der Einkommenssteigerung. Welche Gründe sprechen denn dafür, dass Sie für Ihren Bereich höhere Steigerungen herausholen als die Arbeitnehmer in anderen Bereichen?
Mai: Wir wollen ja keine höheren Steigerungen, sondern wir sagen: Es muss im Bereich liegen der gesamten Steigerungen und der Abschlüsse in anderen Wirtschaftsbereichen . . .
Remme: . . . das heißt, die 5 Prozent können wir dann schon mal ad acta legen . . .
Mai: . . . das ist ja klar, dass Forderung nie Abschluss sein wird. Wir werden uns irgendwo einigen müssen; ich hoffe, in freien Verhandlungen, denn das wissen die Arbeitgeber und das weiß die Öffentlichkeit: Forderung ist Ausgangspunkt der Verhandlungen und nicht Abschluss.
Remme: Die Arbeitgeber wollen das Thema ‚Zusatzrenten' zur Rede bringen. Die finanziellen Probleme bei der Versorgungsanstalt sind wohl unstrittig. Sind Sie da gesprächsbereit?
Mai: Es wird bereits verhandelt. Insofern verstehe ich überhaupt nicht, dies jetzt in die Tarifrunde hineinzubringen. Das ist ein sehr komplexes und schwieriges Thema. Es gibt Verhandlungen über diese Problematik, und wir sind bereit, in Verhandlungen auch zu gemeinsamen Lösungen zu kommen. Wir wollen die Finanzierung sichern. Ab 1. Januar 1999 zahlen die Beschäftigten einen Eigenbeitrag von 1,25 Prozent, der von ihrem Lohn abgeht. Wir tun einiges zur Sicherung der Finanzierung. Es muss aber genau so gesagt werden, dass Bund und Länder in den vergangenen Jahren es versäumt haben, Vorsorge zu treffen durch rechtzeitige Beitragsanpassung. Die Gemeinden haben es im übrigen getan und haben das Problem erst in 10 bis 15 Jahren, Bund und Länder jetzt - ein Versäumnis der Politik, insbesondere des ehemaligen Bundesfinanzministers Waigel.
Remme: Das war Herbert Mai, der Vorsitzende der ÖTV, zu den heute beginnenden Tarifverhandlungen in Stuttgart. Ich bedanke mich für das Gespräch.
Link: Interview als RealAudio