Welter: Welche Erinnerung verbinden Sie mit dem Morgen des sechsten Juni 1944?
Tournier: Ja, das ist wirklich ein Stück von mir. Ich war zwanzig, stellen Sie sich mal vor. Man muss immer das rechte Datum zur Geburt wählen. Und ich bin 24 geboren, also 44 war ich genau 20. Das ist eine wichtige Etappe für einen Jungen, zwanzig zu sein. Und ich war zwanzig also als der Krieg beinahe zu Ende ging. Meine Eltern waren Germanisten, und ich war immer erzogen worden mit einem Fuß in Deutschland. Und ich muss sagen, ich bin überhaupt nicht begabt für Sprachen, wie Sie vielleicht hören können. Und mein ganzes Leben lang habe ich hören müssen, wie meine Eltern über mein schlechtes Deutsch geheult haben, der kleine Idiot wird nie ein Wort deutsch sprechen können. Und 44 war ich also mit meiner Mutter und mit meinen kleineren Brüdern in einem kleinen Dorf in der Bourgogne, 70 Einwohner. Und plötzlich hörten wir ein furchtbares Geräusch, das war eine deutsche Panzerdivision, die durch das Dorf fuhr. Sie fuhr Richtung Norden, verfolgt von der französischen ersten Armee, die in Toulon gelandet war. Und so sind sie drei Tage lang durch das kleine Dorf gegangen. Und es war imponierend wie die Degradierung der deutschen Armee zu sehen war. Zuerst waren glänzende Panzer, dann Personenwagen, französische Personenwagen, dann Pferdewagen und dann nur Fahrräder. Und dann schließlich nach drei Tagen haben sich die Soldaten auf den Boden gesetzt und man hat sie gefragt, was wollen sie eigentlich. Ja, sagten sie, der Krieg ist aus und wir wollen gefangen werden. Aber von wem wollen sie gefangen werden, es gab überhaupt keine feindliche Truppe da für die Deutschen. Und dann haben wir noch zwei Tage mit diesen deutschen Soldaten zusammengelebt bis endlich die ersten Soldaten der ersten Armee von de Lattre de Tassigny erschienen sind. So habe ich die so genannte Befreiung erlebt, ich habe nie einen Schuss gehört.
Welter: Konnte man denn im Burgund, wo Sie sich damals aufhielten, ahnen, welches Massaker da an den Küsten der Normandie stattfand in diesen Tagen?
Tournier: Nein, keine Ahnung, wir hatten keine Ahnung. Wir bekamen natürlich Rundfunk, Fernsehen gab es nicht. Die Zeitungen erschienen nicht mehr. Und man hörte also entweder London, Rundfunk London, oder Rundfunk Paris, das heißt deutsch und die waren beide falsch. Also eine richtige Idee von dem, was los war, haben wir viel später gekriegt.
Welter: Vor zwanzig Jahren, vor zehn Jahren war es noch nicht denkbar, dass ein deutscher Kanzler eingeladen worden wäre zu den Feierlichkeiten, die nun heute stattfinden aus Anlass dieses sechsten Juni. Helmut Kohl hätte möglicherweise gerne eine Einladung gehabt. Er hat zwar vor kurzem dementiert, es sei eine Legende, dass er bei Mitterand um eine solche Einladung gebeten habe. Wie immer, die Teilnahme eines deutschen Bundeskanzlers war lange undenkbar. Finden Sie es richtig und gut, dass heute Gerhard Schröder an diesen Feierlichkeiten teilnimmt?
Tournier: Ich finde das natürlich ganz normal. Helmut Kohl der hat doch mit Mitterand, er hat doch in Verdun etwas gefeiert, so glaube ich.
Welter: Ja, die große Geste der Versöhnung.
Tournier: Wissen, Sie, vielleicht darf ich noch von mir erzählen. Zwei Jahre später, das heißt 46, da gehörte ich zu den aller ersten französischen Zivilisten, die nach Deutschland fuhren. Ich war Student, ich wollte Philosophie studieren und zwar an der Universität Tübingen und da bin ich vier Jahre lang geblieben. Deutschland existierte nicht mehr, der Staat Deutschland existierte nicht mehr. Deutschland war ein einziger Trümmerhaufen und es gab nur noch vier Besatzungszonen, englisch, französisch, russisch und amerikanisch, und eine deutsche Regierung, das gab es noch nicht, eine deutsche Regierung. Und die D-Mark existiert noch nicht, also das wirklich wie der ganze Anfang eines Landes. Und wir standen voreinander, wir waren zwölf französischen Studenten und da gab es in Tübingen, was weiß ich, 3000 oder 5000 deutsche Studenten. Und wir standen voreinander und das war wie ein Traum für uns. Also die Hölle des Krieges war vorbei und wir waren da zusammen, um Kant und Hegel zu studieren. Das war wirklich ein Traum und das war also für mich wie ein Segen, dass ich das mit zwanzig Jahren erlebt habe.
Welter: Ist Ihnen die Versöhnung also leicht gefallen, leichter vielleicht als anderen?
Tournier: Ja, Krieg ist Krieg und das ist immer scheußlich. Wer ist daran schuldig? Das ist eine andere Frage.
Welter: Nun hat es auch sehr kritische Stimmen geben, was die Teilnahme eines deutschen Kanzlers an diesen Feierlichkeiten angeht. Etwa in Großbritannien im Daily Mail hieß es gestern, solange nur ein einziger britischer Kriegsveteran dagegen sei, hätte Präsident Chirac den deutschen Kanzler nicht einladen dürfen. Teilen Sie diese Sicht?
Tournier: Das kann man sagen. Also wie gesagt, als die ersten französischen Studenten in Tübingen landeten 46, da haben wir sehr oft gehört, das ist zu früh, das ist zu früh, warten Sie noch ein paar Jahre. Aber die Jungen können nicht warten, dann sind sie nicht mehr jung. Das ist zu früh, das habe ich auch persönlich gehört 46, also sehen Sie.
Welter: Wie sehen Sie die Deutschen heute, Michel Tournier?
Tournier: Ich sehe die Deutschen überhaupt nicht, das ist für mich ein leerer Begriff. Ich habe Freunde aus dieser Zeit aus Tübingen, mein Übersetzer Helmut Waller, der Pianist Robert-Alexander Bohnke, der Maler Martin Schmitt, das sind meine alten Freunde in Tübingen und ich begrüße sie. Aber der Deutsche überhaupt, das ist für mich kein Begriff, ich habe keine Ahnung, auch der Franzose überhaupt, das ist für mich ein leerer Begriff.
Welter: Und die Beziehungen zwischen beiden Ländern, Deutschland und Frankreich, sind die gut aus Ihrer Sicht?
Tournier: Ich finde sie sind ehrlich und das ist der Grundstein von Europa, glaube ich, Frankreich und Deutschland. Alles andere ist dazu gekommen. Wir sind die Grundlage Europas, Frankreich und Deutschland.
Welter: Gäbe es Dinge oder gibt es Dinge die man besser machen könnte, die besser laufen könnten zwischen den Regierungen in Bonn, in Berlin und Paris?
Tournier: Ja, die Frage, das ist die komische Frage der deutschen Sprache. Deutschland ist das größte und das reichste Land Europas und sobald man über die Grenze gefahren ist, hört man kein Wort deutsch mehr in der ganzen Welt. Die Goethe-Institute verschwinden eines nach dem anderen. Zum Beispiel in Marseille ist das Goethe-Institut abgeschafft worden. Also, für mich ist es wirklich ein Skandal wie diese Sprache immer weniger gesprochen wird und verstanden wird. Das ist für mich also auch sehr peinlich. Denn das ist meine zweite Sprache und ich kann nicht verstehen, wie die Sprache von Goethe, Einstein, Marx, Freud und so weiter nur noch in Deutschland gesprochen wird.
Welter: Der französische Schriftsteller Michel Tournier heute Morgen im Deutschlandfunk. Ich bedanke mich ganz herzlich für dieses Gespräch, auf Wiederhören, Herr Tournier.