Dienstag, 14. Mai 2024

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Tenor Julian Prégardien
"Singen ist nicht nur das Funktionieren der Stimme"

Julian Prégardiens Stimme ist ein kostbares Instrument, aber kein Gefängnis. Ist eines seiner Kinder krank, meidet der Tenor es nicht aus Angst vor Ansteckung. Für ihn ist wichtig: "Wasser trinken, schlafen und das Leben genießen."

Von Sylvia Systermans | 02.09.2019
    Tenorsänger Julian Prégardien hält während einer Probe zu Mozarts Zauberflöte in der Staatsoper Unter den Linden eine Marionette auf der Bühne.
    Tenorsänger Julian Prégardien während einer Probe zur Neuproduktion von Mozarts Zauberflöte (picture alliance/dpa - Annette Riedl)
    Schuberts Winterreise. Eine vereiste Achterbahnfahrt zwischen Liebessehnsucht und bodenloser Einsamkeit. Am Schluss die Frage an den Tod: "Willst‘ zu meinen Liedern deine Leier drehen?" Noch vier Schlusstakte im Klavier. Beifall. Pianisten können jetzt den Deckel über den Tasten zuklappen und ihr Instrument stehen lassen, mit dem sie gerade noch erschütternde Seelenzustände zum Klingen gebracht haben. Und Sänger? Kein Samtkästchen, in das sie ihre Stimmbänder legen könnten. Der ganze Körper schwingt und bebt noch nach. Schon während des Singens könnte er seinen Emotionen niemals freien Lauf lassen, sagt Julian Prégardien.
    "Wenn ich mich Emotionen hingeben würde beim Singen so wie jemand am Instrument und zum Beispiel Tränen freien Lauf lassen würde, könnte ich nicht weitersingen. Das heißt, ich bin dazu verdammt Distanz zu wahren. Genau was da im Hirn stattfindet, finde ich höchst faszinierend, weil bei aller Hingabe trotzdem noch so ein bisschen Kontrolle übrig bleibt."
    Jede Emotion ist beim Singen körperlich spürbar
    Das Material, aus dem das Instrument zum Singen gemacht ist: Nerven, Muskeln, Knorpel, Sehnen, Bänder, Knochen. Mehr Körper geht nicht. Alles ist fein aufeinander abgestimmt, nichts darf überspannt, nichts unterspannt sein. Bei Bedarf muss nachjustiert werden. Jede Emotion ist beim Singen körperlich spürbar - und umgekehrt.
    "Das Instrument, das ich in mir trage, wird davon beeinflusst, wie ich meinen Körper beobachte. Zum Beispiel am Ende des zwölften Liedes in der Winterreise 'Einsamkeit'. 'War ich so elend, so elend nicht.' Dann merkt man, dass der Körper eine muskuläre Spannung eingenommen hat, die zum Ausdruck dazugehört. Das heißt, Singen ist nicht nur das Funktionieren der Stimme, sondern der gesamte Körper arbeitet mit beim Singen. Und da versuche ich, möglichst ehrlich damit umzugehen, wie auch meine Verfassung ist. Weil ich gerne auch als Mensch auf der Bühne stehen möchte und nicht nur als Instrument."
    "Ich bin auch kein Sänger, der besonders gut auf sein Instrument aufpasst"
    Aber was tun, wenn die Stimme mal nicht in Stimmung ist, weil die Klimaanlage im Langstreckenflieger zu kalt, die Erkältungsviren der Sitznachbarn zu viele, der Jetlag zu lang und der Schlaf zu kurz war? Wenn man es als Sänger mal nicht auf die Bühne, sondern nur noch zum Auskurieren ins Bett schafft? Julian Prégardien nimmt es gelassen.
    "Ich versuche, mir nicht zu viel den Kopf darüber zu machen, was alles schiefgehen könnte. Und wenn dann doch etwas schiefgeht, dann geht es schief. Ich bin auch kein Sänger, der besonders gut auf sein Instrument aufpasst. Also ich habe ja gestern Abend Konzert gehabt. Das war spät und es war lang und ich habe vorher das Stück schon mal geprobt mit Lars und noch ein anderes Stück geprobt und ein Interview gegeben. Und jetzt bin ich hier beim Interview und habe gleich um 12 Uhr Probe und dann um halb fünf wieder Probe und dann um sieben Konzert und habe dazu gestern drei Zigaretten geraucht und vier Bier getrunken und so. Das sind Sachen, die machen Sänger eigentlich nicht."
    Statt Bier und Zigaretten also warmes Ingwer-Wasser trinken, leichten Salat und Nudeln für den Kohlehydrat-Speicher essen, am Tag vor dem Auftritt mit niemandem reden. Die Liste der Dos and Don‘ts für Sänger ist lang.
    "Es gibt auch immer noch Gesangslehrer, die ihren Schülern beibringen, du musst dich vom Leben verabschieden, wenn du Sänger wirst. Du musst ja bereit sein. Was ist denn, wenn du abends feiern gehst und am nächsten Morgen sollst du einspringen. Was ist denn dann? Wenn ich heute einspringen müsste als Tamino, dann würde ich sagen, ich schaffe es halt nicht. Nee, nee, ich lebe ja. Ich bin ja überhaupt wahnsinnig privilegiert, dass ich etwas arbeiten darf, was nicht nur mir Freude bringt, sondern auch noch anderen. Da habe ich schon wirklich Glück gehabt. Und das versuche ich mir zu bewahren."
    "Man hat nur dieses Instrument"
    Seine Stimme, ein kostbares Instrument, kein Gefängnis. Julian Prégardien kann sich einer robusten Natur erfreuen. Aber er weiß natürlich auch, dass er seine Stimme nicht mal eben zum Instrumentenbauer um die Ecke bringen kann, wenn es irgendwo hakt.
    "Man muss schon im Hinterkopf behalten, dass man ja nur dieses Instrument hat und wenn man dem was tut, dann gibt's kein zweites. Wir können nicht mal eine Saite auswechseln, geschweige denn im Resonanzboden reparieren oder - das geht ja bei jedem Konzertflügel, bei jeder Geige, bei jeder Flöte. Wenn was mit der Klappe nicht stimmt, das wird repariert. Bei uns gibt es aber auch Reparaturmechanismen, die Operationstechnik ist wahnsinnig fortgeschritten."
    Bis auf den OP-Tisch sollte es nach Möglichkeit nicht kommen. Julian Prégardien weiß, was er, sein Körper, seine Stimme brauchen, damit er in Form ist, wenn er Liederabende mit Schumann und Schubert gibt, mit dem Collegium Vocale Gent Bach in historischer Aufführungspraxis singt oder als Tamino auf der Bühne der Staatsoper Unter den Linden steht. Julian Prégardien ist glücklich, mit seinem Instrument, seinem Beruf, seiner Familie. Und wenn seine Kinder eine Schniefnase und Fieber haben, zieht er nicht aus Sorge vor Ansteckung ins Hotel.
    "Dann nehme ich die auf den Schoß und nehme sie in den Arm. Ich habe schon Konzerte abgesagt, weil ich krank wurde, weil ich mein Kind gepflegt habe, als es krank war, und da stehe ich auch zu. Und wenn ein Konzertveranstalter deswegen wütend mit mir wäre, dann würde ich ihm sagen, gut dann komme ich eben nicht wieder. Ich bin kein Ausstellungsstück, auf das andere aufpassen und das anderen gehört, sondern ich entscheide, was ich mit meinem Leben tue. Ich entscheide, ob ich einen Kuss gebe oder nicht, und das entscheidet kein Liederabend drei Tage später, sondern das entscheide ich."
    Sein persönlicher Notfallkoffer?
    "Wasser trinken, schlafen und das Leben genießen."