Donnerstag, 18. April 2024

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Terroranschläge in Paris
"Gerade westliche Staaten sind extrem angreifbar"

Als Urheber der Terroranschläge von Paris kämen auch andere Organisationen als IS oder Al Kaida infrage, sagte Bente Scheller, Leiterin des Beiruter Büros der Heinrich-Böll-Stiftung, im DLF. Westliche Staaten böten durch die Trennung von Sicherheit und Freiheit eine breite Angriffsfläche. Eine größere Einigkeit auf der Syrienkonferenz werde es wohl nicht geben.

Bente Scheller im Gespräch mit Martin Zagatta | 14.11.2015
    Eine Familie geht über die Trümmer, nachdem sie ihr Haus an der Seite verlassen haben, wo zwei Selbstmordattentäter sich am 12.11.2015 selbst in Bourj al-Barajneh/Südbeirut/Libanon in die Luft gejagt haben.
    Die Menschen im Libanon erlebten erst vor wenigen Tagen Terroranschläge. (picture alliance / dpa / EPA/NABIL MOUNZER )
    Martin Zagatta: Am Flughafen in Istanbul erreichen wir gerade Bente Scheller, sie ist die Leiterin des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Beirut, also im Libanon, mit der Region da ausführlich befasst und damit auch so eine Art Terrorexpertin. Guten Morgen, Frau Scheller!
    Bente Scheller: Guten Morgen!
    Zagatta: Frau Scheller, der Islamische Staat, diese Terrororganisation, die da in Syrien und im Irak aktiv ist, die hat ja gedroht, auch Länder in Europa anzugreifen. Noch ist vieles Spekulation, viele Berichte bei uns deuten in die Richtung, dass es zumindest islamistische Extremisten sind, Terroristen, die für diese Anschläge verantwortlich sind. In Beirut haben sie Anschläge, Selbstmordanschläge gerade erlebt, da hat der IS so ein Bekennerschreiben abgegeben. In Beirut zumindest, da wird das ganz glaubhaft eingeschätzt, ja?
    Scheller: Das wird durchaus glaubhaft eingeschätzt. Aber ich denke, wir müssen vorsichtig sein, ISIS ist ja nicht die einzige Terrorgruppe, die unterwegs ist, und ein Bekennerschreiben ist auch nicht ganz der Stil des IS. Wir haben ja davor eine ganze Reihe von hoch professionell inszenierten Videos des IS gesehen, der liebt es, Bilder über seine Taten auch selbst zu verbreiten. Insofern passt das hier nicht so ganz, deswegen wäre ich vorsichtig, jetzt schon den Finger eindeutig auf IS zu richten.
    Zagatta: Ja, ja, das sind wir auch, wir sind im Bereich von Spekulationen. Sie sagten aber auch, mit dieser Vorsicht, es gäbe eine ganze Reihe von Terrororganisationen. Ihrer Einschätzung nach, das, was wir da in Paris jetzt erlebt haben mit vielen Anschlägen an verschiedenen Stellen, sind dazu viele Terrororganisationen überhaupt in der Lage?
    Im Libanon haben sich die Fronten noch verhärtet
    Scheller: Da wir bis jetzt auch nicht sehr viel darüber wissen, wie die Terroristen in Paris sich koordiniert haben, bin ich mir da nicht sicher. Aber wir sollten auch daran denken, vor vielen Jahren, als es den Anschlag am 11. September gab, hatten wir alle Al Kaida so auch nicht auf dem Schirm, und das war ja ein extrem ausgefeiltes Maß eines Anschlags. Also, auszuschließen ist es nicht, dass auch andere Organisationen als der IS oder Al Kaida dazu in der Lage sein können.
    Zagatta: Was bedeutet der Terror jetzt für Ihre Region? Es hat ja im Libanon lange keine Anschläge dieser Art gegeben, was bezwecken Terroristen, wer immer dahintersteckt jetzt, mit solchen Anschlägen? Lässt sich das absehen?
    Scheller: Ich denke, dass im Libanon die größte Wirkung eigentlich der Schock ist, unter dem das ganze Land steht, es ist ein Schmerz, der von allen empfunden wird. Und es ist natürlich etwas, das in dieser angespannten Situation auch weiter zu einer Polarisierung im Lande beiträgt. Die Fronten sind ja sowieso schon verhärtet zwischen den Befürwortern des Engagements für Hisbollah in Syrien und denjenigen, die das kritisch sehen, und in dieser Situation treibt es natürlich noch mal einen weiteren Keil zwischen die einzelnen gesellschaftlichen und politischen Gruppen.
    Zagatta: Wie stark sind eigentlich Terroristen oder terroristische Gruppen, die im Moment ja vor allem dort in Ihrer Region, in Syrien, im Irak unterwegs sind? Also, Hintergrund meiner Frage ist auch: Würde man denen zutrauen, zu einer Angriffsserie weltweit zu starten?
    IS ist sehr auf das eigene Territorium konzentriert
    Scheller: Wir haben ja bislang gesehen, dass insgesamt nur ISIS sich sehr auf die eigenen Territorien konzentriert hat, also, dieses Gründen eines Kalifats, das Ausrufen eines Kalifats ist ja ein Schritt, der wenig anderen vorher gelungen ist. Und deswegen war das hier immer die Hauptaktionsfläche. Ob das etwas aussagt über die Möglichkeiten, da bin ich mir nicht sicher. Ich denke, wenn eine Organisation es will, sind gerade westlichen Staaten natürlich extrem angreifbar, weil die Art der Verbindung, die wir zwischen Sicherheit und Freiheit haben, beziehungsweise die Trennung dessen natürlich eine breite Angriffsfläche bietet, gerade wenn es Zivilisten treffen soll.
    Zagatta: Wir hatten zuletzt gehört, dass zumindest der IS, der Islamische Staat in Syrien gewaltig jetzt auch in der Defensive sei. Gestern haben die Kurden gemeldet, man habe sie im Nordirak wieder zurückgedrängt. Lässt sich das sagen, ist eine Terrororganisation in der Defensive da im Moment?
    Scheller: Wenn wir uns die Größenverhältnisse anschauen, natürlich wird sie punktuell zurückgeschlagen oder zurückgedrängt, sowohl in Syrien als auch im Irak. Aber über den Großteil ihres Territoriums herrscht sie weiter. Und deswegen denke ich, dass sie hier noch nicht massiv unter Druck ist. Ich wüsste in dieser Situation auch nicht, was eine Serie von Anschlägen außerhalb bringen sollte, weil damit ja natürlich der Druck auf die Organisation sich weiterhin verstärken sollte. Dementsprechend können wir da vielleicht keinen direkten Zusammenhang ziehen.
    Der Kampf gegen den Terror wird unterschiedlich interpretiert
    Zagatta: Sie sind ja auch mit der Frage nach Lösungsmöglichkeiten zumindest in Ihrer Region, mit dem Konflikt dort beschäftigt, heute beginnt in Wien die nächste Syrien-Konferenz. Kann so eine Anschlagsserie, kann so ein Blutbad, wie wir das jetzt erlebt haben, die internationale Gemeinschaft da irgendwie zusammenschweißen, dass da tatsächlich etwas herauskommen könnte? Denn bisher ist man ja von allen Seiten sehr skeptisch, dass sich da irgendeine Lösung für Syrien abzeichnet!
    Scheller: Verbal geeint ist man ja schon lange in einem Punkt, und zwar dem Kampf gegen den Terrorismus und der Ablehnung des Terrorismus, hier spezifisch verkörpert durch ISIS. Ich denke aber, dass die Wege, die die einzelnen Staaten suchen, um ISIS in die Defensive zu treiben, unterschiedlich sind. Wir sehen das ganz explizit an der russischen Intervention, die ISIS zwar eigentlich in Angriff nehmen soll, aber sich im Wesentlichen auf andere Kräfte konzentriert. Also, der Kampf wird hier unterschiedlich ausgelegt, und gerade bei dem Streitpunkt, kann man ISIS mit Assad oder ohne Assad besser besiegen, ist es natürlich zwischen Russland und dem Westen strittig. Deswegen sehe ich auch für Wien jetzt keine großen Möglichkeiten. An einzelnen Punkten wird man sicherlich vorankommen, aber dass durch die Anschläge eine größere Einigkeit entsteht, wage ich zu bezweifeln.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.