Donnerstag, 25. April 2024

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Terroranschlag in Wien
"Büchse der Pandora dschihadistischer Anschläge geöffnet"

Österreich habe eine breite islamistische Szene, sagte der Wiener Terrorismusexperte Nicolas Stockhammer im Dlf. Der Täter habe direkten Kontakt zur dschihadistischen Szene gehabt. Es sei nicht auszuschließen, dass es zu weiteren Anschlägen in Europa komme.

Nicolas Stockhammer im Gespräch mit Stefan Heinlein | 03.11.2020
Am 2. November gab es einen Terroranschlag in der Wiener Innenstadt, ein Großaufgebot von Polizei und Rettung sind im Einsatz
Am 2. November gab es einen Terroranschlag in der Wiener Innenstadt (imago )
Es hat eine Weile gedauert, bis die Nachrichtenlage sich in der Nacht sortiert hat. Inzwischen jedoch haben sich die Ermittler in Wien festgelegt. Mindestens ein islamistischer Attentäter ist verantwortlich für die tödlichen Angriffe in der österreichischen Hauptstadt.
"Es war ein Anschlag aus Hass, aus Hass auf unsere Grundwerte, aus Hass auf unser Lebensmodell, aus Hass auf unsere Demokratie", sagte Bundeskanzler Sebastian Kurz am Morgen in einer TV-Ansprache. Bei dem Terroranschlag am Montagabend in der österreichischen Hauptstadt Wien sind fünf Menschen getötet worden. Mindestens 14 weitere Menschen sind zum Teil schwer verletzt, einige davon ringen nach wie vor in Krankenhäusern um ihr Leben.
Der Angriff hatte gegen 20 Uhr in einem beliebten Ausgehviertel begonnen. Dort waren viele Menschen unterwegs, da kurz darauf die Ausgangssperre aufgrund der Coronakrise in Kraft treten sollte. Die ersten Schüsse fielen laut Polizeiangaben in der Seitenstettengasse, einer belebten Straße im Zentrum. Dort befindet sich auch die jüdische Hauptsynagoge Wiens. Insgesamt gab es laut Polizei sechs Tatorte. An dem Angriff sollen nach jetzigem Stand mehrere Täter mit "Langwaffen" beteiligt gewesen. Der Anschlag in Wien ist das schwerste Attentat seit Jahrzehnten in dem Land.
Nicolas Stockhammer von der Universität Wien ist Terrorismusexperte. Im Dlf-Gespräch sagte er, dass die "inkriminierte Person", die mittlerweile verstorben sei, direkten Kontakt zur dschihadistischen Szene gehabt habe. Österreich habe eine breite islamistische Szene.
"An vierter Stelle in ganz Europa"
Stefan Heinlein: Der von der Polizei erschossene Attentäter war Österreicher, hatte aber die nordmazedonische Staatsbürgerschaft. Wie stichhaltig ist vor diesem Hintergrund die Festlegung der Behörden, die Tat sei islamistisch motiviert?
Nicolas Stockhammer: Zum einen hat man mittlerweile eine Verstrickung mit dem dschihadistischen Milieu festmachen können. Die inkriminierte Person, die mittlerweile ja verstorben ist, war in direktem Kontakt mit der Dschihadisten-Szene, wurde einschlägig 2019 verurteilt, und es gab auch eine entsprechende Haftstrafe. Und zuletzt gab es auf Social-Media-Kanälen diesen Treueschwur des mutmaßlichen Attentäters, der dem IS seine Treue geschworen hat, wo er Solidarität bekundet hat und auch ein Video gepostet haben soll, das die Attentäter von Charlie Hebdo 2015 in Paris bei der Vollendung der Tat gezeigt haben soll.
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Die Hoffnung, dass der Zusammenhalt in der französischen Gesellschaft nach den islamistischen Anschlägen von 2015 auf Charlie Hebdo und im Club Bataclan wächst, hat sich nicht erfüllt. "Die Kluft ist größer geworden und die Frustration auch", sagt die Politikwissenschaftlerin Claire Demesmay im Dlf.
Heinlein: Er hatte Verbindungen zur Dschihadisten-Szene, Herr Stockhammer. Wie breit ist die islamistische, die extremistische Szene in Österreich?
Stockhammer: Die darf man insgesamt nicht unterschätzen. Man muss bedenken, dass Österreich 320 foreign terrorist Fighter produziert hat, die in den Dschihad nach Syrien und in den Irak gezogen sind. Bemessen auf die Einwohnerzahl Österreichs sind wir da an vierter Stelle in ganz Europa.
Es gibt zudem auch eine relativ breite islamistische Szene in Österreich, sprich konkret in Wien und in Granz, die konkret sicherheitsbehördlich überwacht wird. Man spricht von Zahlen zwischen 300 und 400 Gefährdern in ganz Österreich.

Einen weiteren Anschlag "antizipiert"

Heinlein: Worin unterscheidet sich die islamistische Szene in bei Ihnen in Wien, in der österreichischen Hauptstadt, von der islamistischen Szene in Berlin, London, Paris oder Brüssel?
Stockhammer: Das kann natürlich ethnisch festmachen, gerade in Wien. Aufgrund der Nähe zum Balkan gibt es natürlich eine größere Balkan-Affinität innerhalb der dschihadistischen Gruppe, auch was die Personalstruktur betrifft. Dann haben wir in Wien eine Sondersituation, dass wir eine relativ breite tschetschenische Community haben, und natürlich wie in anderen Städten Europas auch eine relativ breite türkischstämmige Community.
Heinlein: Vor diesem Hintergrund, vor dem Hintergrund dieser Szene – für Sie dieser Anschlag, dieser Terrorangriff nicht überraschend?
Stockhammer: Für mich kam der Terrorangriff insofern nicht überraschend, als man aufgrund der Kausalitätskette der Eventualität von weiteren Terroranschlägen aus dem Dunstkreis dieser Charlie Hebdo Wiederveröffentlichung ausgehen konnte. Nach Paris, Dresden und Nizza habe ich eigentlich einen weiteren Anschlag quasi antizipiert. Dass es jetzt meine eigene Heimatstadt treffen würde, hat mich persönlich selber überrascht, wobei ich aber auch immer von der Möglichkeit ausgegangen bin, dass es früher oder später zu einem Terroranschlag in Wien kommen dürfte.
Heinlein: Wenn Sie es erwartet haben, warum haben die Sicherheitsbehörden ihn nicht erwartet? Denn der erschossene Attentäter war ja vorbestraft, einschlägig vorbestraft wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Gibt es schon eine Erklärung, warum die Sicherheitsbehörden ihn nicht enger überwacht haben?
Stockhammer: Hier muss man den Ermittlungsergebnissen ein wenig Zeit geben und auf einer breiten Faktenbasis dies analysieren. Ein Lessons-Learned-Prozess dauert ein wenig an und ich fände es nicht fair, jetzt schon den Sicherheitsbehörden den schwarzen Peter zuzuschieben, dass sie nicht ihre Arbeit ordentlich gemacht hätten.
In den meisten Fällen werden solche Personen auch nach der Haftentlassung oder nach vollendeter Verurteilung nach wie vor engmaschig überwacht. Im konkreten Fall dürfte das wahrscheinlich aufgrund der Corona-Pandemie ins Hintertreffen gelangt sein, aber das ist lediglich Spekulation zum jetzigen Zeitpunkt.
"Geschehen könnte sich nach hinten verlagern"
Heinlein: Herr Stockhammer, erst Paris, dann Nizza, jetzt Ihre Heimatstadt Wien. Ist das aus Ihrer Sicht, aus Sicht des Experten der Beginn einer neuen islamistischen Terrorwelle in Europa?
Stockhammer: Das ist nicht auszuschließen, wobei ich einen Vorbehalt hege hinsichtlich der jetzigen Pandemie-relevanten Maßnahmen, dass es zu Lockdowns in Europa kommt. Damit würde die Attraktivität und zugleich auch die Zielobjekt-spezifische Opferauswahl limitiert sein. Das heißt, wahrscheinlich wird sich das Geschehnis weiter nach hinten zeitlich verlagern, vielleicht im Dezember, aber die Büchse der Pandora der dschihadistischen Anschläge ist definitiv geöffnet.
Heinlein: Ich frage noch einmal anders, Herr Stockhammer. Welche Hinweise gibt es denn auf ein islamistisches Terrornetzwerk, das hinter diesen Anschlägen von Nizza, Paris und jetzt Wien steckt? Oder sind das Nachahmungstäter jetzt in Wien, die wir leider in der Vergangenheit immer wieder erlebt haben?
Stockhammer: Im konkreten Fall gab es in Paris Aufrufe eines, der Muslim-Bruderschaft nahestehenden Imams, der dazu aufgerufen hat, einen Terrorakt zu verüben und den Spöttern Mohammeds quasi den Mund zu verbieten. Das wurde ja dann in heimtückischer Art und Weise umgesetzt. Die Attentate, die darauf folgten, würde ich eher als Nachahmungstaten klassifizieren. Wobei mit dem graduellen Unterschied: Das was wir jetzt in Österreich gesehen haben, ist gefechtstaktisch anders zu beurteilen. Es wirkt wie ein konzertierter projektierter Terroranschlag und nicht wie die Tat eines verrückten Einzeltäters. Das heißt, wir sehen gewisse Tatbegehungs-Schemata hier verwirklicht, Schusswaffen und nicht primär Hieb- und Stichwaffen als Beispiel, die uns darauf schließen lassen, dass es hier eine größere Planung vorab gegeben hat.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.