Donnerstag, 25. April 2024

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Terrorismus
Der Anschlag und seine Geschichte

Die Geschichte zeigt: Der Terrorismus entstand im 19. Jahrhundert in Europa und den USA - und ist als Taktik nicht prinzipiell zum Scheitern verurteilt, meint die Historikerin Carola Dietze. Sie warnt im DLF, die politische Wirkung von Terrorismus zu unterschätzen. Seine Bekämpfung sei nicht allein Sache von Polizei und Verfassungsschutz, sondern auch der Zivilgesellschaft.

Von Carola Dietze | 23.04.2017
    Russische Polizisten bewachen den Zugang einer Metro-Station in St. Petersburg
    Russische Polizisten bewachen den Zugang einer Metro-Station in St. Petersburg. (AFP / Ruslan Shamukov)
    Eine regnerische Oktobernacht des Jahres 1859 in den Vereinigten Staaten: Der Express der Baltimore & Ohio Railroad schlängelt sich durch die wolkenverhangenen Blue Ridge Mountains. Planmäßig um halb zwei Uhr nachts stampft die Dampflok in den nebelverhangenen und nur schwach erleuchteten Bahnhof von Harpers Ferry, einer Kleinstadt im Norden Virginias. Harpers Ferry ist die einzige Stadt in den südlichen Staaten der USA, in der es Waffenbetriebe und ein großes Arsenal des US-Militärs gibt.
    Die Oktobernacht des Jahres 1859
    Im Bahnhof herrscht ungewöhnliche Aufregung. Ein Nachtwächter kommt zum Schaffner: In Harpers Ferry sei ein Aufstand ausgebrochen, er selbst sei angegriffen und verwundet worden. Die Aufständischen hätten die Eisenbahnbrücke besetzt, die hinter der Stadt über den Potomac River von Virginia nach Maryland hinüberführt.
    Aus den erleuchteten Wagen spähen beunruhigte Gesichter in die feuchte Nacht; Gerüchte und Mutmaßungen machen die Runde. Wenig später lässt der Anführer der Aufständischen den Schaffner zu sich kommen. Er informiert ihn höflich, aber bestimmt, dass die Strecke gesperrt sei und der Zug und seine Passagiere die Stadt nicht verlassen dürften. Doch als der Morgen graut, kommt er selbst zum Expresszug und geleitet die Lok und ihre Wagen persönlich über die Brücke.
    Diese Aktion in dieser Oktobernacht des Jahres 1859 ist ein zentrales Ereignis für die Erfindung des Terrorismus.
    Der Anführer der Aufständischen ist John Brown. Mit nur 21 Freiwilligen ist er am Abend des 16. Oktober in Harpers Ferry eingedrungen. Im Handumdrehen kappen sie die Telegrafenleitungen der Stadt und nehmen die kaum bewachten Werkstätten und das Arsenal des US-Militärs ein. Wer sich ihnen in den Weg stellt, wird gefangen genommen, es gibt einen Toten. Sklavenhalter aus der Umgebung werden als Geiseln genommen und ihre Sklaven befreit. Die Aufständischen erhoffen sich, dass sich das unter den Sklaven herumspricht, sodass sie von den Höfen nach Harpers Ferry kommen und sich im Arsenal bewaffnen.
    Gezielte Angriffe und eine Mission
    Dann will sich die Gruppe mit den Sklaven in die Berge zurückziehen, von dort aus einen Guerillakrieg gegen die Sklaverei und ihre Verfechter aufnehmen und einen eigenen Staat bilden. Darin sollen die Gründungsideale der Vereinigten Staaten - Liberty und The Pursuit of Happiness, Freiheit und das Streben nach Glück - wirklich für alle Menschen gelten.
    Im Verlauf der Nacht stoßen zwar einige Sklaven zu John Brown und seinen Freiwilligen hinzu. Es sind jedoch zu wenige, um einen Guerillakampf in den Appalachen aufzunehmen. Deshalb ändert John Brown seine Taktik: Indem er den Zug passieren lässt, soll sich die Nachricht vom Aufstand mit der Geschwindigkeit elektrischer Signale verbreiten, spätestens sobald der Expresszug Baltimore erreicht.
    Dies würde einerseits umgehend reguläre Truppen aus dem nahen Washington in die Stadt bringen. Ein Guerillakrieg in den Bergen wäre damit so aussichtslos wie die Gründung eines eigenen Staates. Andererseits würde die Verbreitung der Nachricht vom Aufstand in Harpers Ferry seiner Gruppe die Aufmerksamkeit der gesamten Nation sichern. Mit etwas Glück und Geschick würde Brown die bevorstehende militärische Niederlage so in einen medialen Sieg verwandeln können.
    Symbolkraft: Aus Guerillakrieg wird Terrorismus
    Mit dem Passierenlassen des Zuges begrub John Brown also jede Option, noch direkte, instrumentelle Gewalt gegen die Sklavenhalter ausüben zu können, und setzte stattdessen ganz auf die Symbolkraft der Gewaltaktion: aus Guerillakrieg wurde Terrorismus.
    Das hinderte die regulären Soldaten der Nordstaaten im amerikanischen Bürgerkrieg nicht, John Brown als ihren Helden und Märtyrer zu feiern. Das Lied "John Brown’s Body" war eins der populärsten Lieder unter den Unionstruppen.
    Die Frage, ob es sich bei John Browns Überfall auf Harpers Ferry um einen Akt von Terrorismus handelte, wird in den USA von Anfang an kontrovers diskutiert. Bis vor wenigen Jahren verwendeten dabei zumeist Befürworter der Sklaverei und Südstaatenanhänger den Begriff "Terrorismus" - in denunziatorischer Absicht. Es ging ihnen darum, John Brown und seine Freiwilligen sowie ihre Unterstützer aus der Anti-Sklavereibewegung zu diskreditieren.
    Terrorismus als "Spezialfall der Provokation"
    Bis heute wird das Wort "Terrorismus" im politischen Alltag zur Diffamierung politischer Gegner eingesetzt. In wissenschaftlichen Zusammenhängen benennt Terrorismus zunächst jedoch nur eine ganz bestimmte Taktik politischen Handelns. Sozialwissenschaftler haben diese Taktik als einen Spezialfall der Provokation bezeichnet.
    So definierte der Augsburger Soziologe Peter Waldmann Terrorismus als politisch motivierte, "planmäßig vorbereitete, schockierende Gewaltanschläge gegen eine politische Ordnung aus dem Untergrund", die "vor allem Unsicherheit und Schrecken verbreiten, daneben aber auch Sympathie und Unterstützungsbereitschaft erzeugen" sollen.
    Von daher ist Terrorismus nicht so sehr instrumentelle Gewalt, die sich gegen ihre Ziele als solche wendet, sondern primär symbolische Gewalt, mit deren Hilfe Botschaften an ein Publikum übermittelt werden sollen.
    Medien als Übermittler der Terror-Botschaft
    Eine Provokation, die niemanden aufregt, ist keine. Deshalb ist die Reaktion des Publikums entscheidend für die politische Wirkung des Terrorismus. Doch wenn der Erfolg einer terroristischen Tat davon abhängt, dass das Publikum sich von der symbolischen Gewalttat provozieren lässt, wird die Kommunikation von Nachrichten über diesen Gewaltakt zu einer notwendigen Voraussetzung für eine terroristische Tat.
    Damit rücken Medien ins Zentrum des Interesses. Denn es sind vor allem Medien, die in modernen Gesellschaften die Nachricht vom spektakulären Gewaltereignis an das Publikum übermitteln.
    Erfolgreich ist eine terroristische Gewalttat in den Augen ihrer Urheber dann, wenn sie zum Ausgangspunkt für ein Medienereignis wird, das wiederum die gewünschten politischen Reaktionen auslöst. Dabei ist das genaue Verhältnis von Terroristen, Gewaltakt, Medien, öffentlicher Reaktion und politischen Ereignissen komplex und lässt sich nur historisch am konkreten Fall untersuchen.
    Doch haben die Vertreter der Geschichtswissenschaften - von einigen Ausnahmen abgesehen - dieses Feld bis vor kurzem eher den Politikwissenschaften überlassen.
    Vom religiösen über den politisch-säkularen Terrorismus
    So sind es zwei amerikanische Politikwissenschaftler, Walter Laqueur und David Rapoport, die das bisherige Standardnarrativ der Terrorismusgeschichte geprägt haben. Dieses Standardnarrativ entstand in den Grundzügen Ende der 70er‑ bis Mitte der 80er‑Jahre.
    Ihm zufolge gab es einen vormodernen Terrorismus, der religiös inspiriert war und sich bei den jüdischen Sicarii, bei der islamischen Sekte der Assassinen sowie bei den sogenannten Thugs in Indien beobachten ließ. Die Anfänge des modernen, politisch-säkularen Terrorismus liegen Laqueur und Rapoport zufolge im Terror der Französischen Revolution.
    Als eigentliche Entstehungsphase terroristischer Gewalt bezeichnen die beiden Politikwissenschaftler jedoch die anarchistische und nihilistische "Propaganda der Tat" zunächst in Russland und dann auch im übrigen Europa der 1880er‑ und 1890er‑Jahre. Diese Erzählung, die Laqueur, Rapoport und andere Autoren seit den achtziger Jahren weiter fortgeschrieben haben, wird von den meisten Terrorismusforschern bis heute als gültig betrachtet. Ende der 1990er‑Jahre kam lediglich als neuer Typus der postmodern-religiöse Terrorismus hinzu.
    Ursprünge des Terrorismus im Russland der 1880er-Jahre
    Innerhalb dieses Standardnarrativs aus dem Kalten Krieg lag der Fokus auf Russland. Denn auch wenn es Laqueur und Rapoport zufolge diverse Anfänge und Ausprägungen des Terrorismus gab, vertraten sie die Auffassung, dass der eigentlich wirkmächtige Terrorismus in Russland entstanden wäre: Schließlich war es dort der Gruppe Nar‘odnaja V‘olja nach wiederholten, spektakulären Anschlägen auf den Zaren gelungen, Alexander II. am 1. März 1881 zu ermorden.
    Aus der Perspektive des Kalten Krieges hatte diese Anschlagsserie eine kaum zu überschätzende Bedeutung für die Weltgeschichte. Denn die Jagd der selbsterklärten Terroristen auf das sogenannte "gekrönte Wild" destabilisierte das Zarenreich, und diese Destabilisierung galt als Voraussetzung für die Russische Revolution von 1917.
    Über die Russische Revolution und durch die Politik der Sowjetunion seien diese Formen von Terror und Terrorismus zu Erscheinungen der allgemeinen Weltgeschichte geworden.
    Nach 9/11: Suche nach dem Gewaltursprung in Persien
    Mit dem Ende des Kalten Krieges relativierte sich die welthistorische Bedeutung der Russischen Revolution. Zudem schworen terroristische Gruppen der Gewalt ab, die Europa lange in Atem gehalten hatten. Die Epoche dessen, was im Standardnarrativ als moderner, politisch-säkularer Terrorismus bezeichnet wird, schien vorbei. Damit war jedoch die Taktik des Terrorismus nicht obsolet geworden.
    Dies zeigten spätestens die Anschläge vom 11. September 2001. Die Anschläge wurden sofort in historischen Kategorien gedeutet. Allerdings geschah dies auf widersprüchliche Art und Weise: Einerseits betonte man überall auf der Welt das Neue und nie Dagewesene dieser Gewalt.
    Andererseits rückten diese Anschläge nun das, was im Standardnarrativ als postmoderner, religiöser Terrorismus bezeichnet wird, in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit. Damit trat nun eine andere Traditionslinie in den Vordergrund, die ebenfalls bereits im Standardnarrativ angelegt war: die Linie zur islamischen Sekte der Assassinen.
    Ähnlich wie während des Kalten Krieges, als der Ursprung des Terrorismus in einer spezifisch russischen Gewaltgeschichte gesucht wurde, versuchten viele Autoren und Kommentatoren nach 9/11 die Ursprünge einer spezifisch islamischen Gewaltgeschichte im mittelalterlichen Persien zu finden.
    Beweise über lange Traditionslinien halten nicht stand
    Einer geschichtswissenschaftlichen Analyse können die Ansätze, die Ursprünge des Terrorismus in langen Traditionslinien aus der mittelalterlichen persischen oder der russischen Geschichte herzuleiten, jedoch nicht standhalten. Denn beide Ansätze suggerieren ausgehend von aktuellen Phänomenen weitreichende Genealogien, die allerdings nur dem Augenschein folgen.
    Dabei dienen großräumige politische oder religiöse Verbindungen sowie auffällige Formen von Krieg und Gewalt als Anhaltspunkte, um über sieben oder acht Jahrhunderte hinweg Verbindungen zu ziehen, und zwar ungeachtet aller Differenzen im einzelnen sowie der Veränderungen, die sich seitdem in allen Bereichen des Lebens vollzogen haben.
    Es ist nicht zu übersehen, dass dabei der Terrorismus als Phänomen stets der Kultur und der Geschichte des jeweils aktuellen weltpolitischen Gegners zugeschrieben wird. Dabei könnte man genauso gut auch für andere Gesellschaften auf grausame Kriege und auffällige Formen von Gewalt verweisen: Man denke etwa an den Dreißigjährigen Krieg oder die Kriege zwischen den Siedlern und den Ureinwohnern Amerikas.
    Sozialpsychologische Effekte
    Tatsächlich liegen die Ursprünge des Terrorismus in der Geschichte der europäisch‑amerikanischen Moderne. Entscheidend waren dabei erstens die tiefgreifenden Umwälzungsprozesse, die um die 1770er‑Jahre in Europa und den USA einsetzten, zunächst die Kommunikations-, Medien- und Verkehrsrevolutionen.
    Eine notwendige Voraussetzung für die Entstehung des Terrorismus waren also das Aufkommen von Eisenbahn, Dampfschifffahrt, Nachrichtenagenturen und Telegraphennetzen sowie die Entstehung von Massenmedien und Massenöffentlichkeit.
    Denn erst diese Mittel des Transports, der Kommunikation und der Nachrichtenübermittlung stellten sicher, dass die breite Bevölkerung von einem symbolischen Gewaltakt erfuhr, und zwar durch eine Berichterstattung in so dichter Folge, dass sich beim Publikum die von den Gewalttätern gewünschten sozialpsychologischen Effekte von Unsicherheit und Schrecken bei den politischen Gegnern sowie Sympathie und Unterstützungsbereitschaft bei den politischen Sympathisanten einstellen konnten.
    Und in der Tat zeigt die kommunikations-, medien- und verkehrsgeschichtliche Untersuchung, dass die Bedingungen in diesem Bereich auf internationaler Ebene just um die Mitte des 19. Jahrhunderts gegeben waren, als die Geschichte des Terrorismus ihren Anfang nahm.
    Aufklärung und religiöse Reformbewegungen
    Zweitens waren die Aufklärung sowie religiöse Reformbewegungen entscheidende Voraussetzungen für die Entstehung des Terrorismus, denn aus ihnen gingen die Ideen von politischer und persönlicher Freiheit - Nation und Emanzipation - in ihrer modernen Ausprägung hervor.
    Die Anhänger der Emanzipationsidee kämpften für die Abschaffung von Leibeigenschaft und Sklaverei sowie für die Verleihung von Bürgerrechten an die ehemaligen Sklaven und Leibeigenen. Die Amerikanische und die Französische Revolution sowie die Revolutionskriege und die Napoleonischen Kriegen führten zur Verbreitung und Umsetzung dieser Ideen. Dadurch trugen sie zugleich zur Politisierung und politischen Partizipation breiter und ganz neuer Bevölkerungsteile bei.
    Weltweite Auswirkungen sozialer Bewegungen
    Die ersten sozialen Bewegungen entstanden. Sie stellen eine dritte Voraussetzung für die Entstehung des Terrorismus dar. Die Mitglieder der ersten sozialen Bewegungen setzten sich dafür ein, die Ideen von persönlicher und politischer Freiheit auch dort Wirklichkeit werden zu lassen, wo sie noch nicht umgesetzt waren.
    So kämpfte die abolitionistische Bewegung für die Abschaffung der Sklaverei, und die verschiedenen Nationalbewegungen, beispielsweise in den italienischen und in den deutschen Ländern, für die Bildung einer eigenen, einigen Nation sowie oft auch für Demokratie.
    Mancherorts war dieses politische Engagement erfolgreich. So konnte die abolitionistische Bewegung in Großbritannien nach langen und harten politischen Auseinandersetzungen im Parlament ein Verbot zunächst des Sklavenhandels aus Afrika und später auch der Sklaverei in den britischen Kolonien durchsetzen.
    Andernorts jedoch mussten die sozialen Bewegungen erleben, dass die politischen Verhältnisse sich immer stärker gegen die von ihnen vertretenen Ideen wendeten: So nahm der Wiener Kongress auf die nationalen Ideen im deutschen und italienischen Raum keine Rücksicht, sondern schuf die Territorialstaaten neu und setzte die Fürsten dort wieder ein.
    Politische Blockaden gegen den Kampf der Idealisten
    In den USA verhärteten sich die politischen Fronten zwischen Nord und Süd: Anders als das Parlament in Großbritannien lehnte es der Kongress in Washington ab, die zahlreichen Petitionen der Anti-Sklaverei-Bewegung überhaupt zu diskutieren: Die Abgeordneten aus dem Süden befürchteten, dass allein die Berichterstattung über diese Debatten die Sklaven auf die Idee bringen könnte, ihre Befreiung sei möglich. Auf diese Weise kam es hier jeweils zu politischen Blockaden.
    Die ersten Terroristen reagierten auf diese Blockaden. Sie gingen aus den sozialen Bewegungen hervor und sahen sich ausdrücklich in der Tradition der Amerikanischen oder der Französischen Revolution. Sie hatten die revolutionären Ideale verinnerlicht und setzten sich zeit ihres Lebens für die Verwirklichung dieser Ideale ein, wo ihre Umsetzung nicht zu Ende geführt war, oder sie versuchten, die Umsetzung dieser Ideale zu verteidigen, wo sie ihnen bedroht erschienen.
    Dies geschah allerdings in einer gesellschaftlichen Situation, in der die Zeichen der Zeit nicht auf Revolution standen und das massenrevolutionäre Moment fehlte: Terrorismus entstand als post-revolutionäre Gewalt in einer nicht-revolutionären Situation.
    Dichte Phase von politisch motivierten Anschlägen
    Seit der Radikalisierung der Französischen Revolution, während der Napoleonischen Kriege und nach dem Wiener Kongress gab es eine dichte Phase von politisch motivierten Anschlägen und Attentaten, die unter den Fürsten und ihren Regierungen Angst und Schrecken verbreiteten.
    Eine eingehende geschichtswissenschaftliche Untersuchung der meisten dieser Gewaltakte steht noch aus. Doch die überwiegende Zahl der Attentäter wollte wohl direkt und ganz instrumentell ihre Opfer ermorden und verschwendete wenig Gedanken an die symbolisch‑kommunikative Dimension der von ihnen ausgeübten Gewalt.
    Der Italiener Orsini versucht die Revolution
    Die entscheidende Phase der Entstehung und Erfindung des Terrorismus beginnt deshalb mit Felice Orsini. Orsini wurde im Jahre 1819 im Kirchenstaat geboren und kämpfte zeit seines Lebens für ein einiges demokratisches Italien. In der Revolution von 1848/49 gehörte er der verfassungsgebenden italienischen Nationalversammlung in Rom an.
    Doch die Revolution wurde niedergeschlagen, und zwar ausgerechnet durch Truppen der Zweiten Französischen Republik und auf Betreiben ihres neu gewählten Präsidenten Louis Napoleon Bonaparte, der sich nach seinem Staatsstreich Kaiser Napoleon III. nannte. Orsini gelang die Flucht aus Rom. Aus dem Exil heraus versuchte er weiterhin Aufstände in Italien anzuzetteln, doch das erwies sich als aussichtslos.
    Deshalb besann er sich auf eine neue Taktik. Er plante ein Attentat auf Napoleon III. Davon versprach er sich den Ausbruch einer Revolution in Frankreich, und nahm an, dass diese Revolution - genau wie die Revolutionen von 1831 und 1848 - anschließend auf Europa übergreifen würde, also auch auf Italien.
    Der Anschlag auf Napoleon war für ihn folglich Mittel zum Zweck, ein Fanal auszusenden, das die Bevölkerung der Länder Europas mobilisieren sollte. Auf deren Reaktionen kam es an.
    Politisch scheiterte die Aktion zunächst auf ganzer Linie. Zwar gelang es Orsini, einen äußerst spektakulären Bombenanschlag auf Napoleon III. zu inszenieren, doch der Kaiser überlebte, Orsini wurde noch in der gleichen Nacht festgenommen, in Frankreich blieb alles ruhig und die französische sowie auch die übrige europäische Presse berichtete durchweg ablehnend.
    Napoleon nutzt das Sendungsbewusstsein des Terroristen
    Wäre Orsini jetzt vor Gericht gestellt und nach kurzem Prozess exekutiert worden, so wäre dieser Anschlag ebenso vergessen wie all die anderen, die auf Napoleon III. verübt wurden.
    In Orsinis Fall kam es jedoch anders, und zwar weil Napoleon III. das Attentat politisch für sich nutzen wollte: Der französische Kaiser, der teilweise in Italien aufgewachsen war und Sympathien für den Gedanken einer italienischen Republik hegte, beschloss, mit dem spektakulären Anschlag Orsinis eine Wende in seiner Italienpolitik zu begründen und die französische und europäische Öffentlichkeit auf eine militärische Intervention zur Befreiung und Einigung Italiens vorzubereiten.
    Deshalb gestattete es der französische Kaiser seinem Attentäter und dessen Verteidiger - einem der besten Rechtsanwälte Frankreichs -, in der öffentlichen Gerichtssitzung Orsinis politische Absichten und Ziele zu erläutern.
    Beide, Orsini und sein Verteidiger, beriefen sich dabei auf die Ziele der Französischen Revolution und auf Napoleon I. Zum Erstaunen in ganz Europa berichtete die offiziöse Presse in Frankreich ausführlich über Orsinis Motive. Bereits wenige Wochen später, als Orsini zur Guillotine schritt, wurde er in Frankreich, Italien und darüber hinaus als Held und Märtyrer für die italienische Einheit und Freiheit gefeiert.
    Und tatsächlich stieß Napoleon III. etwa ein Jahr später mit dem sogenannten "zweiten Unabhängigkeitskrieg" den Prozess an, der 1861 zur Vereinigung Italiens führte.
    In den USA berichteten die Zeitungen ausführlich und engagiert über Orsinis Attentat und die darauffolgenden Ereignisse. John Brown konnte dieser Berichterstattung die Funktionsweise und Effektivität der terroristischen Taktik entnehmen und ließ sich davon inspirieren.
    Der politisch-symbolische Erfolg zählt
    Nachdem John Brown am Morgen des 17. Oktober den Zug über die Potomac‑Brücke geleitet hatte, nahm wie erwartet die Niederlage ihren Lauf. Der Schaffner telegrafierte gleich von der nächsten Station an seine Vorgesetzten und diese informierten den amerikanischen Präsidenten James Buchanan sowie den Gouverneur Virginias Henry A. Wise. Buchanan schickte umgehend eine Einheit seiner Elitetruppe, der Marines, nach Harpers Ferry.
    Militärisch hatten diese mit den Aufständischen ein leichtes Spiel. Umringt von Zuschauern eroberten sie innerhalb weniger Minuten das Gebäude, in das John Brown sich mit seinen Geiseln und den letzten Mitkämpfern zurückgezogen hatte. Doch wie Brown von Orsini gelernt hatte, begann sein eigentlicher Kampf erst jetzt: der Kampf um den politisch-symbolischen Erfolg. Und diesen Kampf gewann John Brown.
    Er und seine Gruppe hatten den notwendigen und intendierten "temporären Erfolg" erzielt, das heißt: Er hatte sich in Harpers Ferry lange genug gegen die örtlichen Milizen und die Marines verteidigt, um eine Reihe prominenter Politiker sowie Journalisten und Zeichner nach Harpers Ferry zu ziehen. Und kaum dass er schwer verletzt auf eine Decke gebettet worden war, begann er, ihnen höflich und zuvorkommend den Sinn und Zweck seiner Aktion zu erläutern.
    Botschaften kommunizieren
    Das Gespräch, eins der ersten Interviews der Geschichte, erschien im Wortlaut in den großen Ostküstenblättern und wurde in vielen Zeitungen in den USA mehr oder weniger ausführlich nachgedruckt. Diese Presse- und Öffentlichkeitsarbeit setzte Brown in den folgenden Wochen im Gefängnis, vor Gericht und noch am Tage seiner Exekution fort.
    Auf diese Weise erwies sich die neue Gewaltform des Terrorismus als erfolgreich. John Browns Überfall auf Harpers Ferry war eine entscheidende Provokation auf dem Weg in den Amerikanischen Bürgerkrieg. Dieser Krieg, den er herbeiwünschte und prophezeite, führte tatsächlich zur Abschaffung der Sklaverei in den USA.
    Attentate auf gekrönte Häupter und Präsidenten
    Orsinis und Browns Gewalttaten fanden Nachahmer. So versuchte der Leipziger Jurastudent Oskar Becker 1861 in Baden-Baden ein Attentat auf den preußischen König Wilhelm I., um nach dem Vorbild Felice Orsinis die deutsche Einheit zu befördern.
    Der Schauspieler John Wilkes Booth erschoss 1865 den amerikanischen Präsidenten Abraham Lincoln in Fords Theater in Washington um zu verhindern, dass einige der gerade befreiten Sklaven nun auch noch das Wahlrecht erhalten würden. Paradoxerweise war sein Vorbild John Brown, den er im Gefängnis noch hatte sprechen können. Und in Sankt Petersburg beging Dmitrij Vladim'irovič Karak'ozov 1866 ein Attentat auf den Zaren Alexander II., um nach dem direkten Vorbild Felice Orsinis und dem indirekten Vorbild John Browns in Russland eine soziale Revolution auszulösen.
    Funktionslogik des Terrorismus
    Alle drei Nachahmer verfassten Bekennerschreiben und entwickelten die terroristische Taktik auf diese Weise fort. Mit der ethnisch‑nationalistischen, der gegenrevolutionären oder der sozialrevolutionären Ausrichtung ihrer Taten waren alle wesentlichen Motive des Terrorismus erstmalig in Erscheinung getreten.
    Zwar lernten die ersten Nachahmer der terroristischen Taktik auch bald deren Grenzen kennen. Gleichwohl war das Wissen um die Funktionslogik des Terrorismus nun in der Welt. Es wurde schon bald von Nihilisten und Anarchisten sowie von ethnisch-nationalistischen, anti-kolonialen und anderen Bewegungen zunächst innerhalb und dann auch außerhalb Europas aufgegriffen.
    Selbst wenn sich ihre Ideen, Ziele, Opfergruppen, Waffen sowie die über sie berichtenden Medien mit der Zeit veränderten, entsprechen die von ihnen verübten Gewaltakte in ihrer Funktionslogik bis heute der Taktik, auf die John Brown umschwenkte, als er sich dafür entschied, den Expresszug über die Brücke zu geleiten.
    Drei Gründe für die Terrorismus-Ursprünge
    Was können wir also aus den tatsächlichen Ursprüngen des Terrorismus lernen? Erstens: Religiös motivierter Terrorismus ist kein neuartiges Phänomen. Auch nicht die Bereitschaft sich dabei selbst zu opfern. Und er ist auch keine Exklusivität des Islams. So stilisierte sich schon der gläubige Calvinist John Brown bewusst als Moses, der die versklavten Kinder Israels aus Ägypten herausführt; sein Selbstopfer deutete er als Imitatio Christi. Seine Zeitgenossen in den nördlichen Staaten der USA verstanden seine Selbstdeutungen und viele stimmten begeistert zu.
    Zweitens: Terrorismus als Taktik ist nicht prinzipiell zum Scheitern verurteilt. Felice Orsini und John Brown waren mit ihren Gewalttaten durchaus politisch erfolgreich. Man sollte die politische Wirkung des Terrorismus also nicht unterschätzen und seine Bekämpfung nicht allein Polizei und Verfassungsschutz überlassen, sondern sich diesem Phänomen als Zivilgesellschaft stellen.
    Drittens: Terroristen sind keine Psychopathen. Nimmt man Terroristen als Personen in den Blick, um sie mit ihren Gründen, Zielen und Entscheidungsprozessen zu verstehen, kommt man schnell zu ähnlichen Ergebnissen wie die Forschung zu nationalsozialistischen Gewalttätern. Terroristen reagieren reflektiert auf politische Problemlagen. Diese Erkenntnis bedeutet nicht, dass man ihr Denken und Handeln billigen oder rechtfertigen müsste.
    Gesellschaftsziel: Terrorismus als Mittel unattraktiv machen
    Auf diese Weise kann die Geschichte des Terrorismus zwar weder Prognosen im engeren Sinne noch Rezepte oder Gebrauchsanweisungen für den Umgang mit Terrorismus geben.
    Was uns die Kenntnis der tatsächlichen Ursprünge des Terrorismus jedoch lehren kann, ist - viertens - eine begründete Einschätzung, welche gesellschaftspolitischen Situationen terroristische Anschläge befördern. Und wie solche Situationen durch politische Lösungen so entschärft werden können, dass Terrorismus als Taktik politischen Handelns unattraktiv wird.
    Das Nachdenken über die tatsächlichen Ursprünge des Terrorismus ist irritierend. Die ersten Terroristen fochten mit dieser Taktik für Ziele, die wir nach wie vor für ehrenwert halten: Sie kämpften für politische und persönliche Freiheit, für Nation und Menschenrechte.
    Nachdenken über die Rolle der Gewalt in der Geschichte Europas
    Doch anders als viele ihrer Zeitgenossen können wir uns nicht einfach mit ihnen identifizieren und sie aufgrund ihrer Taten als Helden und Märtyrer feiern, denn sie haben die Grenze zur Gewalt überschritten und eine Taktik entwickelt, die sich heute gegen uns und unsere Gesellschaftsordnung richtet.
    Das Nachdenken über die tatsächlichen Ursprünge des Terrorismus lenkt unseren Blick auf die Rolle und die Legitimation von Gewalt in der Geschichte Europas und der USA; beispielsweise die Gewalt, die mit der Durchsetzung des Nationalstaats verbunden war, oder die staatlich legitimierte und von positivem Recht sanktionierte Gewalt, die das Gesetz in den Südstaaten dem Herren gegenüber seinen Sklaven einräumte.
    Im Verhältnis betrachtet zur Legitimität eines relativ begrenzten terroristischen Gewaltakts wie ihn John Brown in Harpers Ferry beging, um dadurch die Befreiung der Sklaven in den USA zu erreichen.
    Provokation zur Selbstreflektion
    Insofern ist die Geschichte des Terrorismus als Spezialfall der Provokation selbst eine Provokation. Denn die Geschichte von den tatsächlichen Ursprüngen des Terrorismus bietet weder klare Unterscheidungen zwischen Gut und Böse, noch einfache Antworten und Lösungen.
    Das Nachdenken über die tatsächlichen Ursachen des Terrorismus fordert uns deshalb als politisch denkende Menschen heraus; es provoziert uns, auch unsere Bilder von uns selbst, unserer Gesellschaft und unserer Geschichte zu überdenken.