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Terrorismus
Najem Walis Reise zu menschlichen Abgründen

Der Terror hat viele Gesichter, nicht nur ein islamistisches. Der Publizist Najem Wali geht dem Wesen des Bösen, den Motiven des Tötens nach und durchstreift dabei Vergangenheit, Gegenwart und Literatur.

Von Susanne El Khafif | 12.12.2016
    Ein Klause mit bengalischem Feuer zieht durch die Innenstadt von Sonthofen (Schwaben).
    Najem Wali nimmt seine Leser mit auf die Reise in menschliche Abgründe. (picture alliance / dpa / Karl-Josef Hildenbrand)
    Najem Walis Buch über den Terror ist interessant. Es ist ungewöhnlich und aufschlussreich: "Wir hören von einem Terroranschlag und glauben, dies sei ein Ereignis, das uns zutiefst überraschen müsste." Najem Walis Buch fesselt und lässt nicht mehr los. "Wir sehen das jetzige, sichtbare Gesicht des Terrors und wollen nicht in den Spiegel schauen, wollen nicht wissen, dass der Terror so alt wie der Mensch ist, dass er überall zu finden ist, dass seine Viren in der Luft schweben und es nur eine Frage der Zeit ist, bis er uns erreicht, uns treffen muss."
    Die These des Autors: Terror gab es früher und es gibt ihn heute. Der Terror ist omnipräsent, zeitigt dabei immer ein Ergebnis: Den Tod – Tod, Verletzung, Zerstörung, Horror. Die Erscheinungsformen aber – "die Gesichter" – unterscheiden sich. Najem Wali warnt davor, nur ein Gesicht von Terror auszumachen: "Seine Gleichsetzung mit einer einzigen Seite, sei es dem Islam, dem Christentum oder dem Judentum, ist bloß eine Maske der Berichterstattung über den jeweils konkreten Terrorakt."
    Auch die Fiktion kennt die Muster des Terrorismus
    Najem Wali nimmt seine Leser mit auf die Reise in menschliche Abgründe. Er begibt sich hinein in den Kopf des Terrors, entblößt dessen viele Gesichter als Fratzen. Anders als Sachbuch-Autoren, die sich für die greifbaren, realen Fakten interessieren - die Terror-Organisation IS etwa, will Wali den Blick weiten. Indem er eine weitere Ebene hinzufügt: Die Fiktion. So bezieht er sich auf Literaten, die für das Thema relevant sind - zitiert aus ihren Werken, schöpft aus der Fülle ihrer Erkenntnisse, verwebt Fiktion und Wirklichkeit. Aus dem einen Grund: Um immer tiefer in den Kopf hineinkriechen zu können. Ein erfrischend anderer Zugang zum Thema.
    "Die Literatur unternimmt zumindest den Versuch, uns ins Bild zu versetzen, oder genauer gesagt, in die Situation von Paul Hilbert." Paul Hilbert - das ist Jean-Paul Sartres Herostrat und Najem Walis Prototyp des Bösen. Ein kleiner Angestellter, unverheiratet, einer, der die Frauen hasst, Ekel verspürt vor den Menschen und der Welt. Paul Hilbert kauft sich einen Revolver. Die Waffe beruhigt ihn, reizt ihn, macht ihn besessen, Gewalt versessen, töten will er, andere und sich selbst. Er will in die Geschichte eingehen wie sein antiker Vorgänger Herostratos, der den Tempel von Ephesos in Schutt und Asche legte.
    Die Bluttat als Initial für Veränderung
    Was aber verbindet Paul Hilbert und die Attentäter, die im November 2015 in Paris ein Blutbad anrichteten? Bis auf die Tatsache, dass - der eine fiktiv, die anderen real existierend - vorab die Straßen und Plätze in der französischen Hauptstadt aufsuchten, um nach geeigneten Opfern Ausschau zu halten. War es Langeweile? Oder das Gefühl, versagt zu haben? War es ihre Isolation? Oder ein tief sitzender Hass, nicht nur auf die Welt sondern sich selbst? Für Najem Wali huldigen beide - der fiktive, wie die realen Attentäter - einem "Gegenentwurf": Die Bluttaten verhelfen zu einem neuen "Ich", es ist hässlich und abscheulich, doch es ragt heraus, gräbt sich ein in das Gedächtnis der Nachwelt. Die Attentäter handeln mit Gott oder ohne; mit Ideologie oder ohne Sartres Hilbert beteuert immer wieder Letzteres: "Eine Ungeheuerlichkeit, nicht wahr? Und zu alledem ein völlig unpolitischer Akt?"
    Doch Najem Wali will es dabei nicht belassen. Er setzt weitere Bezüge. Sartre, so schreibt er, veröffentlichte seine Novelle 1939. Das Jahr, in dem der Terror eines Generals namens Franco und der Adolf Hitlers die Welt schockierte: "Zwischen einem einzelnen Mörder, der sein Verbrechen plant und diesen beiden Mördern wandert das Gespenst des Herostrat umher, das einmal nach unsterblichem Ruhm verlangt und dann wieder nach Selbstverwirklichung." Najem Wali unternimmt weitere Streifzüge durch die Geschichte der Menschheit, immer auf der Spur des Terrors: Während der Französischen Revolution, im zaristischen Russland, während der Kolonialzeit, bei der Entstehung und Konsolidierung des Königreiches Saudi-Arabien – verwebt dabei die Werke von Dostojewski, Hemingway und Büchner – mit einer Leichtigkeit und Stringenz, die verblüfft.
    Bleibt die Frage: Warum töten Menschen?
    Vielleicht ist es aber auch gerade die Verbindung aus Fiktion und Wirklichkeit, die dem Autor ein freies Gedankenspiel erlaubt, während das Thema – eben die Spurensuche - die Gedanken immer wieder einfängt und weiterentwickelt. Dabei erlaubt es Najem Wali seinen Lesern nicht, sich entspannt zurückzulehnen. Er provoziert. Auch Widerspruch. Wie bei seinen Ausführungen zu den Zigeunern und den Moros, den Arabern. Anderes hingegen überzeugt. Er hinterfragt das Klischee vom "guten Fremdenlegionär", der dem "bösen Dschihadisten" angeblich moralisch so überlegen ist. Doch beide macht er aus als Söldner, die freiwillig töten – ohne zu hinterfragen, ohne dafür Rechenschaft ablegen zu müssen. Die einen im Auftrag jener "Grande Nation", die anderen angeblich im Auftrag "Allahs". Für Wali sind sie jedoch beide Produkte einer missratenen französischen Politik. Najem Wali verurteilt den guten Bündnispartner "Saudi-Arabien" – den er als "Fabrik des Terrors" bezeichnet – kritisiert dabei nicht minder die westliche Rüstungsindustrie, die scheinbar Unbeteiligte, nämlich uns, zu Teilhabern macht. Denn am Ende, so der Autor, sei das Ergebnis dasselbe: Der Tod.
    "Bleibt die Frage, die uns unverändert bedrängt: Warum tötet der Mensch? Ist es übertrieben, wenn wir sagen: Das Böse ist ebenso wie das Morden ein Instinkt, während das Gute und mit ihm der Frieden Idee, Überzeugung und erworbene Haltung ist?" Mit diesen Worten entlässt der Autor seine Leser: In ein Unbehagen, das anhält. "Ein Blick auf das, was uns umgibt, zeigt uns, dass sich das Böse auf der Erde ausbreitet wie ein Krake, in Form von Kriegen und Ideologien des Hasses, als Rassismus und Gewalt. Es ist die Gesamtheit dieser Phänomene, die uns zeigt, wie sehr das Gute ins Hintertreffen geraten ist und wie sehr es auf Hilfe angewiesen ist, um standhalten zu können."
    Najem Wali: Geboren im irakischen Basra, erklärter Kriegsgegner, Journalist und Schriftsteller. Ein Freigeist und Moralist gleichermaßen. Sein Buch: Tiefsinnig, reichhaltig, fast überbordend, dabei erstaunlich eingängig in seiner Lektüre.
    Najem Wali: Im Kopf des Terrors – Vom Töten mit und ohne Gott
    Residenz Verlag, 157 Seiten, 19,90 Euro.