
Europol warnt vor Anschlägen der Terrormiliz Islamischer Staat in Europa. Das sei lediglich eine Bestätigung dessen, was schon bekannt sei, sagte der Sicherheitsexperte Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik im Deutschlandfunk: "Die Terrorgefahr ist nicht verschwunden, nur weil es seit ein paar Monaten keine größeren Anschläge gegeben hat."
Das Zurückdrängen des IS in Syrien und im Irak setze die Terrormiliz unter Druck. Dadurch werde der IS als Terrorganisation sicher noch an Bedeutung gewinnen: "Vor allem für Europa und die USA."
Eine große Gefahr seien die Rückkehrer des IS nach Europa. Oftmals seien das europäische Staatsbrüger, die ohne große Probleme wieder einreisen könnten: "Grundsätzlich müssen wir uns darauf einrichten, dass eine radikalisierte Generation von Kämpfern nach Deutschland beziehungsweise nach Europa zurückkehren wird." Das stelle die Sicherheitsbehörden vor neue Herausforderungen.
Das Interview in voller Länge:
Dirk Müller: Militärische und territoriale Rückschläge für die Islamisten, für die Terrormiliz IS. Sie erleidet Verluste in Syrien und auch im Irak. Vielleicht nimmt ja gerade die Gefahr deshalb von Anschlägen in Europa zu. Das sagt jedenfalls die europäische Polizeibehörde Europol. Immer mehr Terroristen sollen bereits auf dem Kontinent und auch in Großbritannien Pläne schmieden, aktiv sein als Schläfer und wie auch immer.
Erhöhte Terrorgefahr in Europa, sagt jedenfalls die Polizeibehörde Europol - unser Thema mit dem Sicherheitsexperten Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Guten Tag.
Markus Kaim: Schönen guten Tag.
Müller: Herr Kaim, ist das jetzt in dieser Form, in dieser Art neu?
Kaim: Nein. Ich finde, das ist nicht neu, sondern das ist eine Bestätigung dessen, was wir eigentlich ohnehin schon wussten - deswegen, weil wir es vermutet haben. Es ist eine Bestätigung dessen, was auch die deutschen Sicherheitskräfte in den letzten Monaten immer wieder betont haben. Aber es ist, glaube ich, auch ein bisschen politisch getrieben, so etwas immer wieder in Erinnerung zu rufen, dass die Terrorgefahr nicht dadurch verschwunden ist, dass es in den letzten Monaten keine größeren Anschläge in Westeuropa gegeben hat, sondern nur eine Vielzahl von kleineren Anschlägen, von individuellen Taten, die so ein bisschen unter dem Radar der Öffentlichkeit schnell zu verschwinden drohen.
Viele Kämpfer könnten nach Europa zurückkehren
Müller: Demnach würde es keine inhaltliche Begründung dafür geben, ausgerechnet heute Morgen diese Warnung auszusprechen?
Kaim: Zumindest kann ich sie nicht erkennen. Es kann sein, das kann ich von außen nicht beurteilen, dass Europol neue Erkenntnisse vorliegen. Aber ich glaube, das Bild, was gezeichnet worden ist, was im Vorbericht jetzt auch sehr präzise noch einmal die Kernpunkte des Berichts wiedergibt, die, glaube ich, sind seit Monaten gültig. Das einzige, was man hinzufügen könnte, ist tatsächlich die jüngere Entwicklung, die Sie auch angesprochen haben, dass der militärische Territorialverlust, der Gebiete, von Territorien des Islamischen Staates in Syrien und im Irak und damit verbunden die Perspektive, dass er als politisch-militärischer Akteur irgendwann in den nächsten Monaten ausfallen wird, was dann gegebenenfalls heißen könnte, dass viele Kämpfer nach Europa zurückkehren. Das wäre dann wirklich eine veränderte Rahmenbedingung.
Müller: Sie haben das gerade ja angesprochen in Ihrer Antwort. Höchstens, räumen Sie hier ein, könnte die jüngste Entwicklung in Syrien und im Irak, das heißt das Zurückdrängen des IS ein Grund dafür sein, dass er jetzt sagt, wenn wir da schon verlieren, dann haben wir mehr Energie, mehr Zeit in Europa. Ist das tatsächlich ein realistischer Zusammenhang? Kann man das so einfach in eine Verbindung stellen?
Kaim: In der Tat. Ich finde, das hat ja etwas damit zu tun, dass der Islamische Staat uns in mehrfacher Gestalt entgegentritt, und das rechtfertigt ja auch die Beschreibung als eines hybriden Akteurs. Er ist ein militärischer Akteur im Nahen und Mittleren Osten, der komplexe Militäroperationen durchführen kann. Er ist ein politischer Akteur, der ein bestimmtes "Staatsgebiet" beherrscht und verwaltet. Das ist jetzt unter Druck geraten, diese beiden Fassetten, aber jetzt wird der Islamische Staat als Terrororganisation erhalten bleiben und als ideologischer Kristallisationsort. Man kann im Moment sehen, dass er als Terrororganisation an Bedeutung sogar noch gewinnen wird, und das heißt dann vor allen Dingen für Europa und die USA.
Neue Anforderungen für europäische Sicherheitsbehörden
Müller: Wenn wir diese Argumentation weiter verfolgen, die Europol heute Morgen offiziell als Begründung genannt hat, und sie haben gesagt, das ist schlüssig, dass auf der einen Seite die Niederlage oder die Niederlagen des IS im Nahen Osten dazu beitragen könnten, dass der IS in Europa wiederum mit möglichen Terroranschlägen aktiver wird. Ist das denn so einfach für den IS zu sagen, ja gut, dann machen wir eben in Europa jetzt ein bisschen mehr Angst und Schrecken? Kann man das so per Knopfdruck initiieren?
Kaim: Es gibt ja zumindest vereinfachte Möglichkeiten, nach Europa zurückzukehren. Viele der Kämpfer des Islamischen Staates sind europäische Staatsbürger, Bürger von europäischen Ländern, die vor wenigen Jahren Europa in Richtung Syrien und Irak verlassen haben, die ihre Staatsbürgerschaft nicht zurückgegeben haben und dementsprechend nach Europa zurückkehren können und dürfen. Und die zweite Facette, die hat der Europol-Bericht ja auch noch mal deutlich angesprochen, dass Flüchtlinge, die mit der Flüchtlingswelle im vergangenen Jahr nach Europa gekommen sind, verstärkt vom IS angesprochen werden, auch von anderen islamistischen Organisationen, aber es geht vor allen Dingen um den Islamischen Staat, die dann angesprochen worden sind und gezielt rekrutiert werden. Und das potenziert die Gefahr natürlich noch mal in einer anderen Art und Weise.
Müller: Das bedeutet aber, wenn ich Sie richtig verstanden habe, dass die rückkehrenden Dschihadisten - das ist ja seit vielen, vielen Jahren ein großes Thema von der Politik, ist uns immer wieder versprochen worden -, dass die nicht mehr ohne weiteres ins Land kommen, dass die kontrolliert werden und dann dementsprechend auch behandelt werden, das heißt in irgendeiner Form festgehalten werden, zurückgeschickt werden und so weiter -, wenn ich Sie richtig verstehe, kommen nach wie vor rückkehrende Dschihadisten ohne größere Probleme nach Europa?
Kaim: Man muss da realistisch sein. Es ist ja, ohne dass die Sicherheitsbehörden das kontrollieren, geschweige denn verhindern konnten, vielen Dschihadisten der Weg nach Syrien und in den Irak möglich gewesen. Sie konnten Europa verlassen, trotz bestehender Gefährdungslage, trotz der Tatsache, dass es Warnhinweise gegeben hat, trotz der Tatsache, dass die Sicherheitsbehörden schon alarmiert gewesen sind über den Fluss von ausländischen Kämpfern in Richtung des islamischen Gebietes, des Gebietes des Islamischen Staates, und vor diesem Hintergrund erscheint es mir mehr als plausibel, dass die Rückkehr auch möglich sein wird. Ich will nicht in Abrede stellen, dass die deutschen Sicherheitsbehörden die Gefährder, wie sie häufig genannt werden, in anderer Art und Weise heute in Augenschein nehmen, aber grundsätzlich müssen wir uns darauf einrichten, dass eine radikalisierte Generation von Kämpfern mit entsprechenden technischen Erfahrungen nach Deutschland beziehungsweise nach Europa zurückkehren wird und zumindest die deutschen und europäischen Sicherheitsbehörden vor ganz andere Anforderungen stellen wird, als das noch vor wenigen Jahren der Fall gewesen ist.
"Es gibt nur einen geringeren Beitrag Russlands im Kampf gegen den IS"
Müller: Keine befriedigende Situation? Politisch hat sich an der Grenze nicht viel verändert?
Kaim: Ich will hier nicht Wasser in den Wein gießen. Dass der IS militärisch-politisch als Akteur auszufallen droht nach einem möglichen Sieg in Mossul, nach einem möglichen Sieg der alliierten Koalition in Rakka, das ist ein erheblicher Gewinn und sollte all denen zu denken geben, die immer wieder betont haben, dass der islamistische Terror militärisch nicht zu besiegen sei. Aber dennoch bleibt vor allen Dingen diese zweite Front, die ich angesprochen habe, der terroristischen Bedrohung und des islamistischen Kristallisationspunktes nach wie vor bestehen und wird uns auch weiter beschäftigen.
Müller: Ich will kurz diesen Ausflug noch einmal wagen in den Nahen Osten, weil Sie sagen, ein deutliches Zeichen dafür, dass der IS militärisch zu besiegen ist. Auch mit Hilfe Russlands?
Kaim: Das ist zumindest eine Frage, die im Moment schwer auseinanderzuhalten ist, weil es gibt natürlich nur einen geringeren Beitrag Russlands im Kampf gegen den Islamischen Staat. Man könnte also das Argument auf die Spitze treiben und sagen, zum Kampf gegen den Islamischen Staat braucht man Russland gar nicht mehr, weil das ist auch ohne substanzielle Beiträge Russlands erreicht worden, weil das militärische Engagement Russlands sich vor allen Dingen gegen Rebellen in Syrien richtet.
Müller: Das wäre zumindest politisch opportun, so zu argumentieren, jedenfalls im Sinne der Bundesregierung.
Kaim: In der Tat und ich glaube, wir können auch die Zeichen an der Wand lesen, dass die neue oder die bevorstehende amerikanische Administration wahrscheinlich einen entsprechenden Weg einschlagen wird, nämlich tatsächlich eine Art Waffenbrüderschaft, wenn ich das so sagen darf, mit Russland in Syrien zu suchen, um gegen den Islamischen Staat vorzugehen. Ob das wirklich in der Sache noch notwendig ist, da würde ich doch erhebliche Zweifel anmelden. Aber die Lehre ist: Der islamistische Terrorismus in seiner konkreten Form als quasi Staatsgebiet im Nahen und Mittleren Osten droht zu erlöschen.
"Nur 20 Prozent der russischen Luftangriffe sind wirklich gegen den IS"
Müller: Aber für Sie, Herr Kaim, wenn ich es richtig verstanden habe, ist das ganz klar, ganz klare Sache: Die Russen leisten keinen wesentlichen Beitrag zu dem, was der Westen macht?
Kaim: Nach den Zahlen, die uns vorliegen, sind nur 20 Prozent der russischen Luftangriffe wirklich gegen den Islamischen Staat gerichtet, gegen die Stellungen des Islamischen Staates, obgleich es die Hauptargumentationslinie der russischen Regierung zum Eingreifen in Syrien gewesen ist. Dementsprechend würde ich den Beitrag Russlands jetzt nicht negieren wollen. Nur ich glaube, er ist doch nicht so substanziell. Vor allen Dingen er geschieht ja auch unkoordiniert. Russland ist ja eben nicht Teil der internationalen Koalition gegen den Islamischen Staat. Dementsprechend kann man das Argument eher stark machen und sagen, dass der Islamische Staat davor ist, als militärischer Akteur, als politischer Akteur im Nahen und Mittleren Osten auszufallen. Das ist doch dann eher ein Verdienst der internationalen Gemeinschaft unter Führung des Westens.
Müller: Bei uns heute Mittag im Deutschlandfunk der Sicherheitsexperte Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Danke, dass Sie wieder Zeit für uns gefunden haben.
Kaim: Gerne!
Müller: Ihnen noch einen schönen Tag, Herr Kaim.
Kaim: Danke ebenso. Tschüss!
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