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Edouard Glissant: "Philosophie der Weltbeziehung. Poesie der Weite."
Testament eines dichtenden Denkers

Der Dichter und Denker Edouard Glissant, 1928 auf Martinique geboren, 2011 in Paris gestorben, hinterlässt sein Testament. Ein Loblied auf die „Kreolität“, auf die Begegnung von Schwarz und Weiß.

Von Ruthard Stäblein |
Édouard Glissant: „Philosophie der Weltbeziehung. Poesie der Weite“
Édouard Glissant: „Philosophie der Weltbeziehung. Poesie der Weite“ (Foto: Manfred Metzner, Buchcover: Wunderhorn Verlag)
Bereits in seinem ersten Roman „Sturzflut“ von 1958 schwärmte Edouard Glissant von der „grünen Klippeninsel“, der „roten Wucht der Flammenbäume“, die seine Karibik überragen. Im ersten Roman schon wurde die Landschaft zum Subjekt, neben einer Gruppe von Revolutionären. Glissant gründete damals eine Befreiungsbewegung auf den französischen Antillen, wurde wiederholt verhaftet, seiner Heimat verwiesen.

Der Weg zum eigenständigen Denken

Er bereiste anschließend die Welt, lebte mal in Louisiana oder New York, in Japan oder Paris und immer wieder auf Martinique. Gestärkt durch seine Welterfahrung, wandte sich Glissant von seinem ehemaligen Mentor Aimé Césaire ab und wurde zu einem eigenständigen Denker und Dichter. Diesen seinen Weg zeichnete er in seinem vorletzten Buch gegen Ende seines Lebens in einer Art Wiederbegegnung mit den eigenen Spuren nach. In der Form von Essays, in denen er seine zentralen Begriffe klärt, von biographischen Einschüben und von lyrischer Prosa, die an seinen Erstlingsroman „Sturzflut“ erinnert:
„Am Hügel von Bezaudin auf Martinique (unweit der urzeitlichen Gluten des Mont Pelé), im Jahr 2008: Das blasse Grün der Gevierte mit jungem Zuckerrohr weicht dem Dunkel des Anstiegs. Glanzsplitter, die uns locken, Nacht des nackten Geästs, das uns aus der Ferne heranholt!“

Ausbruch und Öffnung hin zur Welt

Auf diesem Hügel der Karibikinsel Martinique suchte Edouard Glissant als 80-Jähriger eine, wie er schreibt, „urzeitliche Hütte“, in der er 1928 geboren wurde. Seine Hütte war inzwischen überwuchert und unauffindbar, aber die „Urkräfte“ des Vulkans „Pelé“, dessen Ausbruch damals nach Aussage seiner Mutter seine Geburt ankündigte, bahnten ihm die Wege der „Weltbeziehung“: Den Ausbruch aus dem Geburtsort, die Öffnung hin zur Welt. 
Die „Weltbeziehung“ verknüpft Glissant mit seinen Geburtsort. Dort entspringen „heilige Quellen“, heiße wie eiskalte, gespeist vom Vulkan Pelé. Lava soll von diesem Vulkan unterirdisch zu anderen Vulkanen des Karibikbogens fließen. 

Das "archipelische Denken"

Glissant reagiert seismographisch auf solche Durchgänge und Übergänge, Schwingungen, Beben, also Phänomene der Karibikinseln. Im Bild und Begriff eines „archipelischen Denkens“ fasst er sie zusammen. Gelegentlich verwendet er dafür das Wort „Rhizom“, „Wurzelstock“, das er dem französischen Philosophen Gilles Deleuze entlehnt. Diesem „archipelischen Denken“ setzt er ein „kontinentales Denken“ gegenüber, das auf einem System, auf der Gewissheit, auf Erstarrung, auf Mauern und Abgrenzungen beruht.
Dadurch unterscheidet er sich von seinem ehemaligen Mentor Aimé Césaire. Césaire stellte die Gemeinsamkeit der afrikanischen Kulturen heraus, während Glissant ihre Differenzen unterstreicht. Durch diesen Protest gegen die Festlegung auf die Herkunft, gegen das Identitäre, wird Glissants vorletztes Buch auch für gegenwärtige Debatten aktuell.
„Ich nenne kontinentales Denken das erdrückende, dichte Machtdenken in Systemen und Blöcken. Ich nenne archipelhaftes Denken unsere neue Art zu denken, Begriffe und Phantasien, Philosophie und Poesie aufeinander zu propfen, ein verstreutes aber nicht vergebliches Denken, das zerbrechlich ist, weil es sich nicht aufzwängt. Es erfasst die Welt an der Spitze der Erschütterungen und Begierden.“

"Kreolität" als Vermischung kultureller Einflüsse

Glissant setzt für dieses Veredeln durch Aufpfropfen auch den Begriff der „Kreolität“ ein, die Vermischung von europäischen und afrikanischen Einflüssen. Er predigt nicht die Rückkehr zu angeblich unvermischten Wurzeln in Afrika, sondern er verfolgt die Spuren, die Afrika in der Welt hinterlässt. An anderer Stelle bietet er dafür den Vergleich mit dem Jazz auf: Afrikanische Rhythmen, die den Einklang mit europäischen Instrumenten finden, mit Saxophon, Klavier und Posaune.
In der Vermischung der Kulturen, wie sie auf den Antillen und in Südamerika praktiziert wird, sieht er eine große Chance für seine Heimat und für die Welt. 
Das hat wenig mit Multikulturalismus zu tun. Glissants Konzept beruht auf der „Feindlichen Übernahme“, auf Reibung und Schock. Sein Französisch quält, dehnt, beleidigt, zerstückelt, erweitert und erfindet die Sprache der Kolonialherren neu. Glissant vermischt in seiner Schreib- und Redeweise die mündliche Überlieferung der Antillen mit Pariser Diskurserfahrungen, verquere und farbige Bilder mit Wendungen von Gilles Deleuze. Er setzt den Gesang seiner Archipel-Welt gegen das kontinentale Denken in Beton. 
Erst die Fixierung auf  Reinheit und Identität, also das totalitäre Denken, gefährdet die „Kreolisierung“, sagte Eduard Glissant 2003:

Gegen den Zwang zur Identität

„Wir erleben diese Vermischung, während wir gleichzeitig den gigantischen Aufwand der heutigen Menschheit mitbekommen, die den alten Weg des Zwangs zur Identität geht. Und wir spüren das häufig tödliche Krachen, das dabei entsteht. So öffnet sich unter unseren Füßen ein Abgrund.“
Diese Warnung ist brandaktuell. Glissants Buch von 2009, in dem er die Entstehung seines Denkens poetisch nachzeichnet, wurde zu seinem Testament und bleibt ein Appell. Denn es wendet sich gegen die Betonköpfe des identitätspolitischen Regulierungsdiskurses von rechts und links, die sich einbunkern in ihren Festlegungen auf Herkunft, Religion, Farbe oder Geschlechter. Glissant mischt sie auf. 
Edouard Glissant: "Philosophie der Weltbeziehung. Poesie der Weite".
Aus dem Französischen von Beate Thill.
Wunderhorn Verlag, Heidelberg. 140 Seiten, 20 Euro.