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Tetralogie "Friedhof der vergessenen Bücher"
Carlos Ruíz Zafóns letztes Geschenk

Mit seiner Tetralogie rund um den Friedhof der vergessenen Bücher schrieb sich Carlos Ruíz Zafón in unzählige Herzen. Der labyrinthische, tief unter Barcelona angelegte Ort sollte in Erzählungen weiter wachsen. Die erscheinen jetzt posthum als letzten Geschenk Zafóns an seine Leser.

Von Irene Binal | 28.05.2021
Buchcover: Carlos Ruiz Zafón: „Der Friedhof der vergessenen Bücher“; im Hintergrund geschlossene Arkaden in Barcelona
Der spanische Schriftsteller Carlos Ruíz Zafón ist 2020 gestorben. Doch sein Friedhof der vergessenen Bücher lebt weiter. (Buchcover: S. Fischer Verlag, Hintergrund: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Emilio Morenatti)
Carlos Ruíz Zafón: "Für mich ist der Friedhof der vergessenen Bücher so etwas wie die Verkörperung der Erinnerung, der Identität. Das geht weit über Bücher oder Literatur oder geistige Welten hinaus, natürlich ist es in Symbolismus eingebettet, aber es reicht darüber hinaus."
Der Friedhof der vergessenen Bücher ist Zafón-Liebhabern bestens bekannt: Fast das gesamte Werk des 2020 verstorbenen spanischen Autors kreist um diese geheimnisvolle Bibliothek, und so steht sie auch in seinem postum erschienenen Erzählband im Mittelpunkt. Elf Geschichten umfasst das mit rund 200 Seiten eher schmale Büchlein, elf Geschichten, in denen Zafón auf den Spuren des Friedhofs der vergessenen Bücher durch Zeit und Raum reist – und in denen immer wieder wohlbekannte Namen auftauchen. David Martín etwa, der psychisch recht instabile Romancier, der in der ersten Erzählung des Bandes als Achtjähriger die geheimnisvolle Blanca kennen lernt. Oder Antoni de Sempere, ein Vorfahr von Daniel Sempere, dem Erzähler aus "Der Schatten des Windes":
"Eine versehrte Scharlachsonne ging am Horizont unter, als der Caballero Antoni de Sempere, von allen der Büchermacher genannt, die Mauer erklomm, die die Stadt abriegelte, und das Gefolge in der Ferne näher kommen sah. Man schrieb das Jahr des Heils 1616, und ein schießpulvergesättigter Dunst wand sich über einem Barcelona aus Stein und Staub."
Oder auch ein gewisser Andreas Corelli, eine diabolische Verlegergestalt, die Zafón selbst besonders gern mochte: "Ich mag ihn, weil er ein eleganter Charakter ist, er ist sehr klug, allerdings auch tückisch, aber das ist eben seine Rolle im Leben: Er ist der Teufel, er kann nicht Mutter Teresa sein, er ist da, um böse Dinge zu tun. Ich mag ihn."
Der Bestseller-Autor Carlos Ruiz Zafón mit schwarzer, runder Brille.
Erzähler der stehengebliebenen Zeit
Carlos Ruiz Zafón habe in seinen Romanen eine sepiagetönte alte Welt erschaffen, sagte der Literaturwissenschaftler Paul Ingendaay 2020 zum Tod des Autors. Kurioserweise hätten dessen Schilderungen einer fiktiven Vergangenheit Barcelonas zur tatsächlichen Popularität der Stadt heute beigetragen.

Von Labyrinthebauern und Auftragskillern

Die Geschichten, die Zafón erzählt, sind vielfältig; der Bogen spannt sich vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart: Da geht es etwa um einen Labyrinthebauer, der in Konstantinopel für den Preis eines Fläschchens mit seltsamem Inhalt eine Geheimbibliothek errichten soll, und dessen Pläne für das unterirdische Labyrinth schließlich in Barcelona landen. Es geht um einen Auftragskiller, der seinen Lehrmeister ermorden muss, um einen Ex-Häftling, der in einem geisterhaften Haus Unterschlupf findet, um Teufelspakte, düstere Herrenhäuser und in Särgen versteckte Bücher, oder um einen Fotografen, dessen Tochter ein totes Mädchen ersetzen soll.
"Am sechsten Tag waren ihre Erinnerungen zu denen der kleinen Margarita geworden, und ihre eigene Vergangenheit wie ausgelöscht. Sie hatte sich in das ersehnte Wesen verwandelt und gelernt, Blicke und Sehnsüchte zu lesen, das Zittern gebrochener Herzen wahrzunehmen und Gesten und Berührungen zu finden, die trösteten, wo es keinen Trost gab. Ohne es zu merken, hatte sie gelernt, sich in eine andere Person zu verwandeln, ein Nichts und Niemand zu sein, in der Haut anderer zu leben."
All das ist durchsetzt von dem für Zafón typischen geheimnisvollen Raunen: Selbst wenn er von historischen Persönlichkeiten erzählt, von Miguel de Cervantes, Leonardo da Vinci oder Antoni Gaudí – immer ist da ein phantastisches Element, die Ahnung von etwas Geisterhaftem, das hinter der nächsten Straßenecke lauert: "Ich interessiere mich für die utopischen Elemente des Erzählens. Egal was man erschafft, eine neue Welt, ein Märchen, es ist alles eine Illusion, eine große Show, ein Spiel mit Licht und Schatten und Spiegeln.

Große Show mit kleinen Schwächen

Die große Show kann freilich nicht über die Schwächen der Prosa hinwegtäuschen, die sich nie so ganz zwischen Kunst und Kitsch entscheiden kann. Da fahren Totenkutschen durch die nebelverhangene Stadt, Fledermäuse flattern um Kathedralen und schwarze Engel lauern am schwefligen Himmel – ein etwas gewöhnungsbedürftiges Bild für den spanischen Bürgerkrieg. Wie überhaupt so manche Metapher eher fragwürdig erscheint:

"Das Letzte, was ich erblickte, bevor der Fahrstuhl seine Türen schloss, waren die Tränen auf Gaudís Gesicht, glühend wie giftige Perlen."
Aber gerade die schriftstellerische Unverfrorenheit, mit der sich Zafón im literarischen Trivialspektrum bedient, macht das Besondere seiner Prosa aus: Seine Geschichten balancieren zwischen Gothic Novel und Groschenroman und entwickeln dabei einen schwer erklärbaren, aber sehr wirkungsvollen Sog. Zafóns Texte wollen nicht literarisch beurteilt, sondern erfühlt werden: "Ein Roman sollte wie eine gothische Kathedrale sein, bestehend aus Worten und Geschichten und Figuren: Man geht hinein und man denkt nicht über die Mathematik oder Physik des Bauwerks nach, aber tatsächlich geht es um Physik und Mathematik und Design. Ein Roman muss ähnlich sein, eine kleine Kathedrale aus Worten."

Denkmal für Heimatstadt Barcelona

Und so sollte man auch Zafóns letzten Erzählband nicht auf die literarische Goldwaage legen, sondern sich darüber freuen, noch einmal die unverwechselbare Stimme dieses so besonderen Autors zu hören. Eines Autors, dessen große Liebe zu Büchern in all seinen Texten durchschimmert, und der mit seinen Romanen und Erzählungen seiner Heimatstadt Barcelona ein nachhaltiges Denkmal gesetzt hat. Zafón konnte sein Publikum begeistern – und er verstand es, immer wieder kleine Perlen in seiner Prosa zu verstecken. So wie jene hochaktuelle Weisheit, die Zafón in einer seiner Geschichten keinem Geringeren als Miguel de Cervantes in den Mund gelegt hat.

"Die Komödie lehrt uns, dass man das Leben nicht ernst nehmen darf, und die Tragödie lehrt uns, was geschieht, wenn wir dem keine Beachtung schenken, was uns die Komödie lehrt."
Carlos Ruíz Zafón: "Der Friedhof der vergessenen Bücher"
aus dem Spanischen von Lisa Grüneisen und Peter Schwaar
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main. 224 Seiten, 20 Euro.