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"The Dinner" startet im Kino
Neu aufgetischt

Das gemeinsame Essen im Kino ist oft der psychopathologische Kristallisationspunkt für Horror, Leid und eine traumatische Vergangenheit. Nun kommt ein neuer Film dazu und in die deutschen Kinos: "Angerichtet" - im Original schlicht "The Dinner". Eine Gesellschaftsdiagnose, die es in sich hat.

Von Hartwig Tegeler | 06.06.2017
    Steve Coogan (Paul), Laura Linney (Claire), Richard Gere (Stan), Rebecca Hall (Katelyn) sitzen an Tisch und prosten sich zu
    Steve Coogan (Paul), Laura Linney (Claire), Richard Gere (Stan), Rebecca Hall (Katelyn) im Film "The Dinner" (Tobis Film)
    Irgendwann …
    "Es war überfällig, heute Abend werden wir reden."
    … sagt einer aus der Familie den magischen Satz:
    "Heute kommt alles auf den Tisch."
    Ein banaler Satz, den einer der beiden Brüder in "The Dinner" von sich gibt. Aber einer mit heftigen Folgen. Denn dass "es" "auf den Tisch kommt", bedeutet, dass "es" vorher in den Kellergewölben lange Regie führte. Und gemäß psychodynamischer Logik fliegt das, was auf dem Tisch sichtbar wird zwischen Vorspeise, Hauptgang und Dessert, es fliegt allen um die Ohren.
    Das gemeinsame Essen und düstere Familiengeheimnisse
    Das gemeinsame Mahl - Es ist wohl angerichtet, aber vorher ist eben auch sehr viel angerichtet worden. Bei Thomas Vinterberg in "Das Fest" ist der erste Gang gerade aufgetragen an Hotelier Helges 60. Geburtstag, gefeiert auf dem Familienanwesen am riesigen Tisch. Die einen löffeln noch die Suppe, da hält Sohn Christian seine "Wahrheitsrede":
    "Er missbrauchte uns. Er hatte Sex mit seinen lieben Kinderchen."
    Szene aus "Das Fest" von Thomas Vinterberg aus dem Jahr 1998
    Szene aus "Das Fest" von Thomas Vinterberg aus dem Jahr 1998 (imago stock&people)
    Über Jahre vergewaltigte der Jubilar seine nun erwachsenen Kinder. Die Bombe also ist geplatzt und das Fest geht an der Tafel unter im Chaos. Eine Menge Tretminen liegen auch bereit am Esstisch der Westons, bei denen Regisseur John Wells in seinem Film "Im August in Osage County" sozusagen die Vivisektion am lebendigen Familienkörper vornimmt.
    "Mom, wir wollen essen. Reichst du mir den Auflauf bitte. - Meinen Auflauf."
    Der Auflauf knallt gleich am Anfang zu Boden.
    "Verdammt noch mal!"
    Böses Zeichen! Ach, zu viel Wein, zu viele Tabletten und zu viele modernde Familiengeheimnisse. Eine Tochter liebt ihren Cousin, aber beide wissen nicht, dass sie eigentlich Bruder und Schwester sind. Viel liegt mit anderen Worten bereit zur emotionalen Entladung. Entsprechend hier das Psycho-Massaker beim Beerdigungsdinner:
    "Iss jetzt, du scheiß Kuh! - Fahr zur Hölle. - Iss den verdammten Fisch. - Mom, ich habe dir was zu sagen. - Hast du nicht. Nein, hast du nicht. Halt's Maul. - Ich habe keinen Hunger!"
    Am Ende ist die Mutter - Meryl Streep -, zerfressen vom Krebs und ihrem Hass, alleine. Die drei Töchter werden nie an den Tisch zurückkehren.
    Der Tisch als Zerrbild der Familie
    Wie stabil ist eigentlich der Esstisch, der über Jahre auch Lügen und Geheimnisse tragen musste? Der Tisch als Zerrbild der Familie, die Spiegel der Gesellschaft. Als Wilhelm in Matti Geschonnecks Film "In Zeiten des abnehmenden Lichts" 90 wird …
    Die DDR kurz vor dem Zusammenbruch: Genosse Powileit wird 90 Jahre alt und bekommt auch ein schönes Buffet
    In Zeiten des abnehmenden Lichts: Die DDR kurz vor dem Zusammenbruch: Genosse Powileit wird 90 Jahre alt und bekommt auch ein schönes Buffet (Foto: X-Verleih-AG / Hannes Hubach)
    "Du kannst mir gleich helfen, wir bauen den Tisch auf."
    … muss der riesige Esstisch mit der komplizierten Mechanik wieder raus aus der Ecke.
    "Ich fass mit an!"
    Doch als der Urenkel auf das wacklige Möbelstück klettert: Tischzusammenbruch.
    "Das habe ich kommen sehen!"
    Der reale Sozialismus, kurz vor seinem Ende 1989, ist so mürbe, dass die Zukunft in Gestalt des Urenkels den Tisch zusammenkrachen lässt wie ein Kartenhaus.
    "Madame, es ist serviert."
    Das Wunderbare beim Ritual des Essens …
    "Darf ich die Herrschaften jetzt zu Tisch bitten?"
    … das auf der Leinwand zelebriert wird: Bei Louis Buñuel in "Der diskrete Charme der Bourgeoisie", bei Quentin Tarantino in "Django Unchained" oder in Coppolas "Pate[n]" oder, oder: Es geht um die Höllenschlunde, die am Tisch aufreißen:
    "Es sind eine Menge Lügen heute Abend hier an diesem Tisch verbreitet worden."
    "The Dinner": Genug Platz, alles unter den Tisch zu kehren
    Und verdaut hat diese Lügen, Geheimnisse und falschen Wahrheiten keiner. Das, was "auf den Tisch" kam, wird nicht selten wieder "unter" selbigen "gekehrt". Beim Essen im Edelrestaurant, jetzt in Oren Movermans böser Gesellschaftsdiagnose "The Dinner", quälen sich die beiden betuchten Brüder und ihre Ehefrauen herum mit der Frage, wie sie damit umgehen sollen, dass ihre verwöhnten Söhne aus Lust und Sadismus eine Obdachlose angezündet und ermordet haben.
    Laura Linney (Claire), Steve Coogan (Paul), Richard Gere (Stan), Rebecca Hall (Katelyn)
    Treffen zum "Dinner": Wie damit umgehen, dass die Söhne aus Lust und Sadismus eine Obdachlose angezündet und ermordet haben? (Tobis Film)
    "Ich kann mir nicht vorstellen, mit dem Gedanken zu leben, dass - dass mein Sohn an einem Mord beteiligt war", sagt der eine Bruder.
    Doch der andere in "The Dinner" wiegelt ab, nachdem er sich kurz angemessen moralisch gewunden hat:
    "Solange nichts passiert, wird nichts passieren."
    Irgendwie hat er ja doch Recht, meint dann die Familie. Unter den Esstischen im Film ist viel Platz.