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Theater als Gesellschaftskritik

Die neue ambitionierte Düsseldorfer Schauspiel-Intendantin Amelie Niermeyer hat für einen sehr zeitgemäßen Titel der Spielzeit gesorgt: Ich und Ich. Unter diesem Aspekt also war bisher zu sehen Shakespeares Othello, Kathrin Rögglas Junk Space, Elias Canettis "Hochzeit" und Hörst du meinst heimliches Rufen" vom neuen Hausautor Thomas Jonigk.

Von Karin Fischer |
    Die Programmhefte sind eindeutig: "Shakespeare inszeniert ein Rollenspiel in einer rassistischen Gesellschaft - und das ist von bedrückender Aktualität", heißt es über "Othello". Das neue Stück von Thomas Jonigk, "Hörst du mein heimliches Rufen", interpretiert Regisseur Stefan Bachmann als "zutiefst moralisches Stück" über Pornographie und Kapitalismus, die sich wechselseitig bedingten.

    Und Elias Canettis frühe Farce "Hochzeit" lässt keine andere Frage zu als diese: "Was wird aus einer Gemeinschaft, wenn sie sich über Selbstsucht, Gier und die Lust an der Ausbeutung der Mitmenschen definiert?" Nimmt man Kathrin Rögglas "Junk Space" hinzu, das die Kollateralschäden der Leistungsgesellschaft am Beispiel Flugangst durchdekliniert, waren das ganz schön viele Finger in vielen Wunden an einem einzigen Eröffnungswochenende.

    Leider hat es nur ganz selten weh getan.

    Die Selbstentfremdung eines Menschen, der immer schon "der Andere" ist, als Prozess zu inszenieren, der sogar im Selbst-Mord Othellos endet, ist ein kluger Ansatz. Und zum Thema Ausländerfeindlichkeit gibt Shakespeare ja einiges her.

    Venedigs Machtzentrale ist eine hohe dunkle Wand, wir sehen: Frontaltheater aus erleuchteten Kabinetten. Später agiert das extrem jung besetzte Ensemble unter Zyperns hohem blau-weißen Himmel und auf Sand, was Jagos Intrige leider den Charakter eines Kindergeburtstags verleiht. Eine Grillparty in Sporthosen am Strand mit flachster Unterhaltungsmusik und der angestrengt hohe Ton des Stadttheaters wollen nicht recht zusammen klingen, auch wenn der alltägliche Rassismus als erfrischend müheloses Salongeplauder dazwischen geschaltet wird.

    In Thomas Jonigks neuem Stück, das vor kurzem in Frankfurt uraufgeführt wurde, wird die Welt gleich in ihrer schlimmsten Verfassung vorgestellt. Ein Manager der Rüstungsindustrie hat die Zynismen seiner Branche internalisiert: Waffenhandel und humanitäre Hilfe sind kein Widerspruch; man unterstützt Aidskranke, solange es sie noch gibt. Frauen sind entweder Exhure und abhängig oder Ex-Ehefrau, verzickt und abhängig und dürfen - Sex ist auch nur Ware - auf jede Weise gedemütigt werden. In dem Text ragen nur vereinzelt poetische Inseln über das Meer der Kapitalismus-Klischees hinaus:
    Die Figur des Engels, der dem Mann Aufschub vor dem Tod gewährt und solche Rückblenden ermöglicht, ist dem "Jedermann" abgeschaut, wirkt aber wie ein dramaturgischer Webfehler. Dass die Inszenierung von Stefan Bachmann diesem Theater diesen Typen Leben einhaucht und durch kluge Rhythmisierung und schauspielerischen Witz dafür sorgt, dass uns doch noch das Lachen im Halse stecken bleibt, ist die eigentliche Überraschung dieses kleinen intensiven Abends.

    Elias Cannettis Stück "Hochzeit", das er als 26-Jähriger geschrieben hat, kommt nur alle fünf Jahre auf den Spielplan deutscher Theater, und das ist wohl gut so. Es ist auch eine Art Totentanz, der in einem Mietshaus spielt, in dem unten gestorben und oben geheiratet wird. "Gier" ist hier ein Schlüsselbegriff. Auch die Hochzeitsgesellschaft gerät zunehmend aus den Fugen, und nicht nur wegen eines drohenden Erdbebens.

    Amélie Niermeyer selbst hat diese Erwachsenenparty mit Musik in spießigem Retrolook inszeniert, weniger als Selbstentlarvung einer bürgerlichen Gesellschaft denn als schrille Theaterfarce. Eine Gratwanderung zwischen Posse, Perversität und Paranoia. Der Abend entwickelt eine unerwartete Faszination, die sich aus den Zuständen der Auflösung und den surrealen Einfällen der Inszenierung speist.

    Zimmerspringbrunnen und kalte Würstchen, ein Geschirr-Massaker, expressionistische Storchenschritte und fast marthalerische Gesangseinlagen: Dem eindimensionalen Thema - Ausbruch des unterdrückten Sexus - wird hier ganz schön vielfältig Ausdruck verliehen. Ganz abgesehen davon, dass sich ein großes Ensemble vorstellen konnte.

    Insgesamt dominierten an diesem Wochenende die Typen und die Thesen das Theater. Auf Figuren, die auch Charaktere sind, wartet Düsseldorf noch. Die neuen Regie-Handschriften und das neue, junge, entwicklungsfähige Ensemble geben keinen Grund zu übermäßigem Pessimismus.